Meyer, Andreas, Felix et inclitus notarius. Studien zum
italienischen Notariat vom 7. bis zum 13. Jahrhundert (= Bibliothek des
Deutschen Historischen Instituts in Rom 92). Niemeyer,
Tübingen 2000. XI, 857 S.
Das vorliegende Buch – aus
der Habilitationsschrift des Verfassers (Zürich 1993) hervorgegangen – erfasst
zwei Studien zur Notariatsgeschichte: Ein erster diachronisch-systematischer
Teil behandelt die Geschichte des Notariats in Italien von seinen Anfängen im
Frühmittelalter bis zur Vollentfaltung der Notariatskultur zu Beginn des
Spätmittelalters (7–233); ein zweiter, synchronisch-regionaler Teil (235–502)
illustriert sodann die Rolle der Notare im Rechtsleben des 13. Jahrhunderts im
Spiegelbild des für die Stadt Lucca und ihr ländliches Umland reichhaltig
überlieferten notariellen Schriftguts.
Rückt der zweite Teil der
Studie die Notare als Produzenten solcher Schriftquellen in den Vordergrund, so
stellt der erste das Notariat als Institut in seinen wesentlichen
Charakteristika ins Zentrum. Unter Zugrundelegung des gesamten zugänglichen, in
seiner Dichte beeindruckenden, normativen und dokumentarischen Quellenmaterials
sowie einer lawinenhaften Fülle an Literatur liegt
erstmals eine moderne, die Entwicklungslinien des Notariats in allen Teilen des
mittelalterlichen Regnum Italiae erfassende Untersuchung vor. Sie spannt sich
zeitlich in weitem Bogen vom justinianischen Tabellionat der Spätantike und
seinem Fortleben im langobardisch-fränkischen Italien bis zur Vollentfaltung
der Notariatskultur im Hochmittelalter. Aufbauend auf vorliegenden
Forschungsergebnissen werden teils Kontinuitäten der ursprünglich
justinianischen Grundlagen sichtbar, etwa in Bezug auf die berufliche
Selbständigkeit der Notare, ihre Bindung an Autoritäten wie vor allem den König
bzw. Kaiser durch Eid und die dadurch abgeleitete Glaubwürdigkeit der von ihnen
produzierten Dokumente; andere Elemente unterlagen einem Wandel, wurden den
Erfordernissen des Rechtslebens funktionell angepasst und zu Neuem umgestaltet
wie die Imbreviatur und das Signet. In der fortschreitenden Delegierung der
Notarernennung nach unten an Delegaten, Lehnmänner und Hofpfalzgrafen (12ff.)
konstatiert der Verfasser zusammenfassend (176f.) eine Lockerung der Bande
zwischen Notar und Autoritätsgeber, die in Wechselwirkung mit dem
wirtschaftlichen Aufschwung im 11. und dem politischen und sozialen Wandel im
12. Jahrhundert zur Emanzipation des Notars als ursprünglich bloßem Schreiber
zur öffentlich beglaubigten Urkundsperson als Alleinverantwortlichem seiner
Beurkundungen führte. Der durch die Intensivierung des wirtschaftlichen und
sozialen Lebens auf allen Ebenen, im weltlichen gleichermaßen wie geistlichen
Bereich, hervorgerufene und ständig steigende Bedarf an Rechtskundigen im
Bereich der freiwilligen und streitigen Gerichtsbarkeit lässt – verstärkt durch
eine seit etwa 1200 exzessiv gehandhabte Verleihung von hofpfalzgräflichen
Befugnissen durch den Kaiser an seine Parteigänger in Italien – die Zahl der
Ernennungen von Notaren und Richtern anschwellen. Das dadurch sinkende
Bildungsniveau der Notare in Bezug auf Prüfung und Ausbildung (51ff.) konnte
teils durch quantitative und qualitative Restriktionen, insbesondere seitens
kommunaler Obrigkeiten – mit der Einrichtung von Notarskollegien (69ff.) und
Notarsmatrikeln – abgefangen, teils aber auch durch den Rechtsbesorgungsmarkt
selbst gesteuert werden.
Zugleich mit dem Wandel der
wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sowie des politischen Umfelds und der
damit verbundenen Aufwertung der Notare vollzog sich seit Mitte des 11. Jahrhunderts
auch ein Wandel im Dokumentationssystem des Notariats; ein vielschichtiger Prozess,
der in Nord- und Mittelitalien nahezu zugleich abgelaufen ist: Er führte – wie
der Verfasser minutiös nachzeichnet (108ff.) – von der formstrengen carta über das einfachere breve zum universell einsetzbaren instrumentum publicum (Exkurs 2: Die
Redaktionsstufen des Notariatsinstruments: 223–233), brachte aber nicht nur
eine Veränderung von äußerlichen Merkmalen der Urkunde, sondern vor allem eine
praktischere Handhabung der Beurkundungstechnik, die den Beurkundungsvorgang
auf die Aufnahme von stichwortartigen Protokollen reduzierte (119ff.). Diese Imbreviaturen boten den Parteien – im Vergleich zum
aufwendigen Notariatsinstrument – eine rascher herstellbare und billigere, in
ihrer Rechtssicherheit aber gleichwertige Dokumentationsform. Der Ausfertigung
einer Notariatsurkunde aus den vom Notar in Buchform verwahrten Imbreviaturen
bedurfte es nur im Fall einer zwangsweisen Durchsetzung vor Gericht; der Großteil
der in den Notarsregistern festgehaltenen Vorgänge wurde folglich nie in
Urkunden dokumentiert. Damit rückte der Notar aber auch zum Archivar seiner
Klientel auf; für die Sicherung der im Eigentum der Notare (und ihrer
Nachkommen) verbleibenden Imbreviaturbücher gegen Missbrauch und Verlust wurde
aber erst an der Wende zum 13. Jahrhundert durch die Einrichtung von kommunalen
Archiven Sorge getragen; die bis Ende des 13. Jahrhunderts erhaltenen italienischen
Notarsregister verzeichnet Exkurs 2 (179–222).
Mit seiner beeindruckenden
Gesamtschau der Entwicklung des Notariats im langobardisch geprägten Italien,
die sich nicht – so wie die bisherige Forschung – hauptsächlich auf Oberitalien
konzentriert, kann der Verfasser aufzeigen, dass viele Phänomene, die zur
Vollentfaltung der Notariatsbeurkundung geführt haben, regional zeitgleich
aufgetaucht sind, einige lassen sich für die Toskana sogar früher nachweisen
als etwa für Bologna. Vor allem der Übergang von der carta und dem breve zu
den Imbreviaturen und Notarsregistern ist für Lucca eine Generation früher
festzustellen als für Genua. Aus ihrer innovativen Rolle wird die Toskana von
Bologna als Zentrum der Rechtswissenschaft erst im 12. Jahrhundert verdrängt,
also erst nachdem der revolutionäre Wandel des Dokumentationssystems bereits
abgeschlossen war.
In seiner zweiten Studie
entfaltet der Verfasser eine intensive analytische Auseinandersetzung mit dem
Luccheser Notariat im 13. Jahrhundert. Die Reichhaltigkeit des für Lucca
überlieferten notariellen Schriftguts hat jahrelange Vorarbeiten und
Forschungen in Archiven vor Ort erforderlich gemacht, um die enorme Masse von
notariellen Akten zu erheben. Mit Hilfe des Kleio-Programms hat der Verfasser
von etwa 9.500 Dokumenten fast 12.500 notarielle Akte, hauptsächlich aus dem
Zeitraum von 1220 bis 1280, in Datenbanken maschinlesbarer Form registriert und
vernetzt; sie rühren von mehr als 1000 Notaren her, die Mehrzahl davon betrifft
die Stadt und Diözese Lucca; hinzu kommen in einer weiteren Datenbank etwa
4.000 Akte aus Notariatsimbreviaturen (238ff.; die Struktur der Datenbank ist
in Anhang 3 erläutert: 689ff.). Es ging dem Verfasser aber nicht um eine
Quellenkritik im engen Sinn oder um eine inhaltliche Analyse der beurkundeten
Rechtsgeschäfte und Rechtsakte. Ihre doppelte Überlieferung – in
Notarsregistern und ausgefertigten Instrumenten (270ff.) – hat auch zu anderen
methodischen Fragen angeregt, nämlich durch den Vergleich der zweifachen
Tradierung die tatsächliche Produktivität der Luccheser Notare im 13. Jahrhundert,
der Zeit der Vollentfaltung des Notariats, festzustellen. Hierbei erweist sich
die üppige Reichhaltigkeit der Quellenlage mit etwa 10.000 aus diesem Zeitraum
erhalten gebliebenen Urkunden als trügerisch. Sie widerspiegelt nur wenige
Prozente des ursprünglich Vorhandenen, wofür der Verfasser bei geschätzten 150
gleichzeitig tätigen Notaren etwa 10.000 Urkunden und bis zu 100.000 Imbreviaturen
pro Jahr hochrechnet (275f.). Von den meisten Notaren sind nur wenige Urkunden
erhalten geblieben; es lassen sich daher vor dem Hintergrund dieser Quellenlage
nur für einzelne Notare Aussagen über gesellschaftliche Bedeutung und Rang
sowie den von ihnen bewältigten Geschäftsanfall machen (248f.). Entscheidend
für die Ausfertigung von Notariatsurkunden aus Imbreviaturen war oft auch das
jeweilige Verhältnis der Notare zu ihrer Klientel; bei guten, intensiven
Kontakten, die ein gefestigtes Vertrauensverhältnis bescheinigen, sind solche
Vorgänge seltener festzustellen (296ff.), was insbesondere bei Beurkundungen
für geistliche Institutionen der Fall gewesen ist (305). Die enormen
Quellenverluste weisen aber nicht nur eine quantitative, sondern, wie der
Verfasser in subtilen Analysen (Diagramme 7–11) herausgearbeitet hat, auch eine
qualitative Dimension auf: Aufgrund der zeitgenössischen Beurkundungs- und
Archivierungspraxis haben nur bestimmte Typen von Rechtsgeschäften und
Rechtsakten, denen ein höherer Stellenwert eingeräumt worden ist, eine dauernde
Konservierung erfahren, wobei überdies unterschiedliche sachliche Gewichtungen
im städtischen und ländlichen Raum bestehen (285) und für geistliche Einrichtungen
eine dichtere Überlieferung feststellbar ist (257). Selektierend hat auch das
Aufkommen der Imbreviaturen gewirkt, weil durch ihre Existenz nur mehr ein
geringer Teil der Beurkundungen in Urkunden ausgefertigt worden ist,
insbesondere solche über dauerhaft bzw. langfristig bestehende
Rechtsverhältnisse an Liegenschaften (Eigentum sowie Miete und Pacht) zur
Sicherung ihrer Publizität mangels vorhandener Grundbücher (Diagramme 9 und
11); kurzfristige Verpflichtungsgeschäfte (Darlehen, Zahlungsquittungen) wurden
dagegen bloß in Imbreviaturen evident gehalten (Diagramm 10). Im übrigen ist
ein bemerkenswert breites Spektrum an notariell beurkundeten rechtserheblichen
Sachverhalten zu konstatieren, worin sich ein umfassender Bedarf an
alltagsbezogener Schriftlichkeit im Rechtsleben manifestiert: Jede Art von
Rechtsgeschäft inklusive Rechtsakte aus kommunaler und geistlicher Jurisdiktion
wurde in notariellen Akten festgehalten. Es gab kaum einen Aspekt, der dafür
nicht in Frage gekommen wäre; es finden sich sogar Selbstverpflichtungen von
Notaren zur Unterlassung von bestimmten Lastern wie Spielleidenschaft oder Trunksucht
(310ff.).
Der Arbeitsrhythmus –
beispielhaft für einzelne Notare analysiert (Diagramme 14–21) – sowie die
Organisierung der notariellen Arbeit in Familienbetrieben und in
Kanzleigemeinschaften (362ff.) und eine ausgeprägte stabilitas loci (335ff.) bestätigen, dass städtische Notare
ausschließlich von dieser Tätigkeit leben konnten und mit ihren Einkommens- und
Vermögensverhältnissen auch zur kommunalen Führungsschicht zählten. Dies ist
umso bemerkenswerter als die – prosopographisch ermittelte – Zahl der im
Untersuchungszeitraum gleichzeitig in der Stadt Lucca tätigen Notare von 1220
bis 1280 von etwa 80 auf mehr als 200, also um mehr als 100% angestiegen ist,
was vor allem durch die stetige Zuwanderung von Notaren aus den ländlichen
Zentren in den städtischen Raum bedingt ist, wobei aber auch die Dichte von
zugleich tätigen Notaren im ländlichen Raum beeindruckend ist (Diagramme
22–28). Die – im Vergleich mit den Verhältnissen nördlich der Alpen –
unglaubliche Fülle an Notaren und richterlichen Urkundenschreibern in Lucca und
seinem ländlichen Umfeld macht Anhang 1 deutlich, wo mehr als 2.000 Personen
aufgelistet sind (511–556); aus den von ihm für seine Studie benutzten Urkunden
und Imbreviaturbüchern hat der Verfasser mehr als 1.500 Notarszeichen
reproduziert und sich eines von der Diplomatik bislang eher vernachlässigten
(99) Elements der Notariatsurkunde angenommen.
Ausgehend von einer
außerordentlich breiten Quellenbasis ist es dem Verfasser in beeindruckender
Manier gelungen, sehr wirklichkeitsnahe Ergebnisse über das Wirken im Alltag
und den Lebenshorizont der Notare in dieser Zeit herauszuarbeiten. In
methodischer Hinsicht hat er mit dieser „Pilotstudie“ (4) die Latte für weitere
gleichartige Fallstudien enorm hoch gelegt.
Wien Christian
Neschwara