Lorenz, Thomas, Die Rechtsanwaltschaft in der DDR
(= Justizforschung und Rechtssoziologie 2). Berlin-Verlag, Berlin 1998. 424 S.
1. Thomas Lorenz
hat eine sehr verdienstvolle Arbeit zur Innenseite des DDR-Rechtssystems
vorgelegt. Auch die Anwaltschaft gehörte zu den Stützen des Systems. Wie dies
ausgedacht, durchgesetzt, praktiziert und reflektiert wurde, kann man nun bei
Lorenz umfassend studieren. Im Mittelpunkt steht die DDR-Justizpolitik, mit der
ungemein zielstrebig die alte Anwaltschaft, gleich welcher Couleur, verdrängt
und eine neue geschaffen wurde, die diesen Namen nicht mehr verdiente. Freie
Advokatur und sozialistische Diktatur, so milde sie den Mitläufern drinnen und
draußen auch erscheinen mochten, konnten nicht koexistieren.
Das war vor Ort allen klar. „Verordnete Kollektivierung“ (Lorenz S. 6) war der
mit der sowjetischen Besetzung vorgezeichnete Weg auch der Anwälte. Lorenz
beschreibt ihn für die entscheidende Phase von 1945 bis 1961.
2. Die Fundamente
hat er musterhaft gelegt mit Archivarbeit, Nachlaßverwendung
und Interviews. Er hat „in fünfjähriger, mühevoller juristischer und
zeithistorischer Arbeit erstmalig 25.000 Blatt Archivdokumente ausgewertet“ (7)
und so die historische Chance der offenen Archive genutzt. Juristische Arbeit
war es freilich eigentlich nicht. Das Quellenverzeichnis liefert auf 23 Seiten
die Anschauungen für die Materialmassen. Der Text ist durch und durch aus
diesen Quellen gearbeitet - eine echte Historikerleistung, wie sie im Bereich
der Rechtsgeschichte gar nicht so häufig ist. Die Analyse ist gestützt durch
neun Tabellen (287-295) und den Abdruck von siebzehn außerordentlich
wertvollen, zumeist ungedruckten Dokumenten (296-381). Die Darstellung ist
streng chronologisch angelegt und bietet nur eine relativ kurze Zusammenfassung
und Charakteristik auf den 30 Seiten des 3. Teils (253-283). Dort dient dann
die „freie Advokatur als zivilisatorische Errungenschaft moderner
Gesellschaften ... als Meßlatte für die propagierte sozialistische
Anwaltschaft.“ (253). Wichtig werden die Zulassung, die Berufspflichten, die
Disziplinargerichtsbarkeit, der Parteianschluß und
die gesellschaftliche Einbettung der Kollektivanwälte. Das Ergebnis mußte lapidar ausfallen: „Abschließend muß
festgestellt werden, daß es in der DDR keine freie
Advokatur im klassischen Sinne gab.“ (282). Der eigentliche Wert der Arbeit
liegt daher nicht in dieser naheliegenden
Feststellung, sondern in der intensiven Beweisführung und historischen
Individualisierung dieses in seiner Allgemeinheit ja fast banalen Befunds. Sehr
lehrreich und ganz originär breitet Lorenz die Phasen, Techniken und Schicksale
der teils brutalen, teils subtilen Vernichtung der freien Advokatur und vieler
ihrer Träger aus. Von Anfang an zählt nur die parteitreue Gesinnung. Das wird
auch ganz offen gesagt und durchgesetzt (60, 68, 86 u. ö.). In einer ersten
Phase wird bis ca. 1951/52 der „reaktionäre, liberalistische Geist“ (Hilde
Benjamin, 1949) (84) ausgerottet und unterdrückt (Teil 1, 15-96). Das
Ehrenblatt des Antifaschismus und der betonten NS-Bewältigung wird oft
beschworen, wie auch in den Quellen. Es erscheint aber doch etwas welk. Denn,
wie inzwischen generell belegt, die Entnazifizierung war am Anfang milde und
dann vor allem Mittel zum Zweck der Unterordnung unter die SED-Ziele bis hin zu
direkten Rekrutierungen. Zumal im Rechtssystem mit dem vollständigen Neuaufbau
auf Volksrichtern und Volksanwälten war die so vielgelobte,
strenge Entnazifizierung nur die Rückseite einer strengen,
sozialistisch-diktatorischen Vereinnahmung. So bestand in der Tat „das Wirken
der DJV [Deutsche Justizverwaltung] von 1945 bis 1949 ... vorwiegend in der
Entnazifizierung und der Erhaltung vorhandener Strukturen“ (96), aber das hieß
eben zugleich der sozialistischen Politisierung, trotz Eugen Schiffer und an
ihm vorbei.
3. Ab Ende 1952
begann der Prozeß der Kollektivierung der Anwälte
nach sowjetischem Vorbild. Kollektivierung bedeutete hier den „Prozeß der Abschaffung der freien Advokatur in der DDR bis
zur Bildung einer ,sozialistischen Rechtsanwaltschaft’,
der nach Lorenz bis zum sog. Rechtspflegeerlaß von
1963 andauerte (97). Diesem Vorgang gilt der umfangreiche zweite Teil (97-252),
also der Schwerpunkt der Arbeit. Lorenz klärt aufschlußreich
das sowjetische Vorbild, die DDR-Modelle seitens Anwälten und Verwaltung, dann
die Normentwürfe und Regeln, die teils langwierige Umsetzung in jedem einzelnen
der 15 DDR-Bezirke (130-220) und zuletzt die ministerielle Arbeit an einer ,sozialistischen
Rechtsanwaltschaft’ bis 1961. Er leistet eine ungeheure Quellenarbeit, die die
Darstellung bisweilen etwas ermüdend und schematisch beschwert, nicht selten
aber aufrüttelnd und empörend wirkt, wenn es etwa um gezielte
Kriminalisierungen und Verfolgungen geht (etwa 251f.) oder Wahlbeeinflussungen
(190) oder das Verbot bloßer Büroarbeit für verdrängte Rechtsanwälte (76 u.)
oder steuerrechtliches Manöver zur Einkommensvernichtung (112ff.) oder
Sozialisierungen zu Gunsten Dritter wie seinerzeit bei den sog. Arisierungen (173)
und Bespitzelungen (249) und Schikanen (251). Ca. ein Drittel aller
zugelassenen Anwälte haben bis 1961 die DDR verlassen (250). Ohnehin waren die
Zulassungen schon alle überprüft und massiv reduziert worden, von 2742 im Jahr
1945, ca. 1000 bis 1950 auf ca. 700 1961. Die Zahl der Einzelanwälte ging
zurück um ca. drei Viertel von ca. 820 im Jahr 1953 auf 214 im Jahr 1961 und
auf nur noch 20 im Jahr 1989 (98) - jeweils ohne Berlin. Nichts zeigt
deutlicher das wahre Gesicht dieser NS-Bewältigung und Kollektivierung einer
bis dahin mehr oder weniger freien Profession. Nun war sie mehr oder weniger
unfrei. Man hatte die Verhältnisse umgestürzt. Was zuvor Ausnahme war, war nun
Regel - und umgekehrt. Politisch-administrativer Zwang wurde die Regel, und sei
es als steter Politikvorbehalt, freie Betätigung für die Mandanten wurde zu
einer Frage ausnahmsweiser Zivilcourage - dazu noch
unten.
4. Lorenz
schildert dies alles bewußt trocken und emotionslos,
streng beschreibend also, sei es die gewisse rechtliche Verrohung nach 1945
unter den vielen Alltagsmaßnahmen und der Informations- und Kompetenzwillkür,
oder die gezielte und subtil brutale Durchsetzung der neuen Politik bis 1961
und vieles andere. Er tut der lobenswerten Enthaltsamkeit eines Historikers
aber etwas zuviel, z. B. in seinen vielen sprachlichen Anpassungen. Die
deprimierende Verlogenheit von Wortverwendungen wie „wahrhaft demokratisch“
(18, 20, 281 u. ö.) oder „demokratischer Sektor“ für Ostberlin (138), auch von
„antifaschistisch-demokratisch“ (23) oder „basisdemokratisch“ (105) oder
„genossenschaftlich“ (86, 238 u. ö.), oder „Kollegium“ und „kollegial“ (222 u.
ö.), oder von „Unterstützung“ (225) und erzwungener und gesteuerter
„Freiwilligkeit“ (127, 129, 186, 196, 231) oder von „Weiterentwicklung“ (220)
oder „Grenzmaßnahmen“ (230) oder auch den bekannten „formaljuristischen
Schwächen“ (246) - dies alles scheint ihm weniger wichtig, obgleich doch die
Sprache schon die ganze deprimierende Lage offenlegt.
Die extreme Quellenorientierung führte nicht nur zu dieser fragwürdigen
Übernahme vieler in diesem Kontext unbrauchbar gewordener Worte, sie verdrängt
auch die analytischen Fragen zu sehr. Lorenz verwendet die im Verzeichnis
nachgewiesene Forschungsliteratur nur sehr zurückhaltend und läßt auch deutliche Lücken bei der Heranziehung
übergreifender vergleichender Analysen. Die analytische Ebene kommt auch im
Teil 3 zu kurz. Die Bezirksjustizverwaltungen werden als entscheidende
Schnittstelle benannt, aber nicht weiter erklärt und analysiert. Auch die
zentrale Erklärung aus einer „Ausnahmesituation“ greift zu kurz: „1945 war in
der SBZ in Folge der Beseitigung der freien Advokatur durch die NS-Diktatur
eine Ausnahmesituation entstanden, die die Wiedereinführung dieses
Rechtsinstituts erschwerte. Durch die notwendige Entnazifizierung dieses in Mißkredit geratenen Berufsstandes war kein freier Zugang
zum Beruf möglich, und die Berufsausübung unterlag der Kontrolle bzgl. des
Neuaufbaus einer antifaschistisch-demokratischen Ordung.
Dieser Ausnahmezustand wurde auch nach der Gründung der DDR beibehalten, um
eine umfassende Kontrolle der Rechtsanwaltschaft zu sichern.“ (279f.) Nach
zwölf Jahren NS-Diktatur war jedoch die freie Advokatur keineswegs vergessen.
Die notwendige Entnazifizierung hätte sich mit relativ freiem Zugang durchaus
vereinbaren lassen, sie wurde jedoch anders genutzt. Dass dieser
„Ausnahmezustand“ in der DDR beibehalten wurde, erscheint freilich mehr als
wahr - aber so hat es der Autor vermutlich nicht gemeint. Exemplarisch für
manche Schieflagen im Text ist auch die abschließende Erläuterung zur „innergenossenschaftlichen
Demokratie“: „Es bestand zwar eine innergenossenschaftliche Demokratie, jedoch
musste z. B. der Vorsitzende erst durch SED und Staatsgremien bestätigt werden,
bevor er gewählt werden durfte. Ferner mussten alle Beschlüsse,
Disziplinarmaßnahmen und andere Festlegungen des Vorstandes und der
Mitgliederversammlung der Ministerien der Justiz vorgelegt werden. Falls der
Justizminister mit Entscheidungen dieser Selbstverwaltungsorgane nicht
einverstanden war, konnte er sie - auch gegen den Willen dieser Entscheidungsträger
- wieder außer Kraft setzen. Die normative Bindung an das Recht war
diesbezüglich für die Kollegiumsanwälte stark von der subjektiven Auslegung
durch das Ministerium der Justiz abhängig.“ (281) - man darf solche
Verhältnisse ebensowenig „innergenossenschaftliche
Demokratie“ nennen wie „Selbstverwaltung“ oder „Kollegium“. Es handelt sich
einfach um Anwaltskollektive unter Politikvorbehalt.
5. Thomas Lorenz,
und das bleibt sein großes Verdienst, hatte die Kraft und dem Mut, dieses
traurig-inhumane Kapitel deutscher Justiz und Anwaltsgeschichte mit allem
Detail den Archiven zu entreißen. Darin liegt eine Pionierleistung, die manche
Schwächen zurücktreten lässt. Er hat gezeigt, wenn auch nicht deutlich
ausgesprochen, dass die Schaffung von kollektivierten und perfekt
beaufsichtigten „Anwälten des Volkes“ sich als organisierte Täuschung des Volkes
über die doch als irgendwie „frei“ angesehene (228) Anwaltschaft erwies. Das
differenzierte und deutliche Ergebnis lautet: Die freie Anwaltschaft war
zerstört. Die Profession war vernichtet (158f u. ö.). Diese Rechtsanwälte waren
tatsächlich eine „Anwaltschaft“. Justiz war Teil der Verwaltung geworden (228
u. ö.). Justizpersonen waren Justizpersonal, deutlicher Funktionäre, mit mehr
oder weniger großem Spielraum geworden. Auch die Rechtsanwälte zählten zu
diesem Justizpersonal. Sie rangierten konsequent sogar hinter den
Staatsanwälten (103, 245), ja sie erschienen eigentlich überflüssig (113), da
„dieser Beruf nicht als gesellschaftlich notwendig beurteilt worden sei“ (113,
im Jahre 1952). Dieser finanzministeriellen Ansicht widersprach zwar das
Justizministerium, aber es handelte sich bei den neuen Rechtsanwälten um eine
ganz andere gesellschaftliche Notwendigkeit als den alten. Vergemeinschaftung
und Wiederbelebung des - man muss es sagen - Führerprinzips mit scharfer
Aufsicht, Kontrolle und Kaderbildung (220 u. ö.) kamen hinzu. Das alles lernt
man unverlierbar bei Thomas Lorenz. Zu salomonisch fällt dann wieder der
Schluss aus. Lorenz schließt seine Arbeit mit einem längeren Zitat von Gregor
Gysi, das darauf hinausläuft, das Problem zu vernebeln, zu personalisieren und
den entscheidenden Punkt zu verschieben. Gysi meinte 1992 auf dem Ersten
Ostdeutschen Juristentag, die Frage, ob die DDR eine freie Advokatur gehabt
habe, sei nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. Dies hänge von den Maßstäben
ab, die man dabei anlege. Man sei ziemlich diszipliniert gewesen und auch
angepasst und es sei falsch, dies zu leugnen. Aber man habe auch Freiheiten und
Möglichkeiten gehabt. Sie zu nutzen habe freilich Zivilcourage erfordert. Das
trifft ohne weiteres zu. Doch diese personalisierte Freiheit der Zivilcourage
war eine persönliche Ausnahme im DDR-System. Um diese Freiheit geht es bei der
freien Advokatur nicht. Das hätte Thomas Lorenz seinem Schlusszitat hinzufügen
können und sollen.
Frankfurt am Main Joachim
Rückert