Kolonialisierung des Rechts. Zur kolonialen Rechts- und
Verwaltungsordnung, hg. v. Voigt, Rüdiger/Sack, Peter (= Schriften zur
Rechtspolitologie 11). Nomos, Baden-Baden 2001. 403
S.
Das deutsche Kolonialrecht ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem
stark expandierenden Forschungsgebiet geworden, das nicht nur für Rechtshistoriker,
sondern in gleicher Weise auch für Allgemeinhistoriker, Ethnologen und
Politikwissenschaftler von Bedeutung ist. Dies verdient vor allem deswegen
hervorgehoben zu werden, weil für den neuzeitlichen Historiker
rechtshistorische Fragen meist nur von untergeordneter Bedeutung sind. Neben
dem hier zu besprechenden Band ist 2001 auch die längst fällige erste Gesamtdarstellung
von Hans-Jörg Fischer, „Die deutschen Kolonien. Die koloniale
Rechtsordnung und ihre Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg“, erschienen.
Besonders aufschlussreich ist dort der Abschnitt über das Recht der ehemaligen
deutschen Kolonien nach dem 1. Weltkrieg, wie sie bisher nur in dem Beitrag
Johannes Gerstmeyers
im Rechtsvergleichenden Handwörterbuch von 1929 (Bd. 1, S. 555ff.) zu finden
war. (Zu den Planungen für ein neues Kolonialrecht in der NS-Zeit W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht 1933-1945, Bd. XII, 2001, S. XVIIff., 411ff.) Allerdings macht das Werk Fischers auch
die Grenzen einer solchen im wesentlichen auf die
Normengeschichte beschränkten Darstellung deutlich, die von ihrer Zielsetzung
her auf eine leitende Fragestellung weitgehend verzichten musste. Solche
Fragestellungen findet der Leser nunmehr in voller Breite in dem von Rüdiger Voigt (Direktor des Instituts für
Staatswissenschaften der Universität der Bundeswehr München) und von Peter Sack (Research School of Social Sciencies, Pacific and Asian Studies an der Universität
Canberra) herausgegebenen Sammelband. Dieser gibt die Referate wieder, die die
Autoren im Herbst 1999 im Rahmen des Arbeitskreises „Regulative Politik“ der
Deutschen Vereinigung für politische Wissenschaften in dem Workshop: „Das
deutsche Kolonialrecht als Vorstufe einer globalen
,Kolonialisierung’ von Recht und Verwaltung“ gehalten haben. Thema der
Tagung war im Anschluss an eine Formel von der „Kolonialisierung der
Lebenswelt“ (Jürgen Habermas) die Frage, inwieweit
sich in den deutschen Kolonien eine Kolonialisierung des Rechts sowie eine Verrechtlichung des Kolonialisierungsprozesses in Form
einer Bürokratisierung der Verwaltung vollzogen hat.
Ausgangspunkt war die These, dass das „deutsche Kolonialrecht als eine Vorstufe
zu einer globalen ,Kolonialisierung’ von Recht und Verwaltung angesehen werden
kann“ unter den Annahmen: „Es hat eine evolutionäre Entwicklung des Rechts
gegeben und es gibt sie weiterhin, diese Entwicklung führt letztlich zu einem
globalen Recht, in diesem Zusammenhang findet ein Prozess der ,Kolonialisierung’
statt, hierfür ist das Kolonialrecht ganz allgemein mehr oder weniger ursächlich,
dieser Vorgang lässt sich gerade am Beispiel des deutschen Kolonialrechts
nachweisen“ (S. 15).
Der Einführungsaufsatz von Voigt
„Kolonialisierung des Rechts? Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung“
weist insbesondere auf die rechtspolitologischen Fragestellungen einer Kolonialrechtsgeschichte
hin, insbesondere auf die Frage, „wie sich die (zum Teil vom Deutschen Reich
weit entfernten) Kolonien mit Hilfe des Rechts steuern ließen, wie dieses Recht
geschaffen, implementiert und weiterentwickelt wurde“ (S. 23). Von dieser Sicht
aus kam es nicht nur auf die Darstellung der Rechtsnormen, sondern in gleicher Weise
auch auf die Institutionen (Gerichte, juristische Profession) sowie auf das
Rechtsverhalten der sozialen Akteure an. Primäres Ziel des Bandes ist es, „den
Prozess der wachsenden Verrechtlichung der Verwaltung
und ,Kolonialisierung’ des Rechts in seiner historischen
Vielfalt“ aufzuzeigen (S. 29). Hierbei war davon auszugehen, dass die Kolonien
trotz einiger Grundgesetze eine unterschiedliche Rechts- und Verwaltungspraxis
aufwiesen. Deshalb befassen sich die meisten Beiträge mit dem Recht der
einzelnen Kolonien. Überblickscharakter haben die Beiträge von Sack, Kopp, Sippel und Robert von
Friedeburg. Letzterer stellt in seinem Beitrag „Koloniale
Rechtsungleichheit im Denken deutscher und britischer Konservativer (Racial equality versus cultural meritocracy in political and
legal discourse)“ fest, dass die deutschen
Konservativen sich vor dem 1. Weltkrieg zunehmend von dem Gedanken einer
Eliteherrschaft zugunsten einer rein rassisch, biologisch definierten
Überlegenheit insbesondere der deutschen Siedler entfernten. Allerdings hat
sich die Propaganda insbesondere der völkisch Nationalen in der deutschen
Kolonialpolitik nur sehr begrenzt durchgesetzt. Peter Sack weist in seinem Beitrag
„Grundzüge der Rechts- und Verwaltungsordnung im deutschen Kolonialreich“
darauf hin, dass der „koloniale Staat“ kein Rechtsstaat, sondern ein geregelter
Staat gewesen sei, „in dem staatliche Willkür zunehmend durch eine
bürokratische Verwaltung ersetzt wurde“ (S. 41). Das Kolonialrecht diente unter
diesem Aspekt der „Kontrolle staatlicher Macht“, wobei staatliche Willkür
zunehmend durch eine bürokratische Verwaltung ersetzt wurde. Auf diese Weise
lieferte das Kolonialrecht primär eine „Verhaltensordnung für die Funktionäre
des kolonialen Staates“ und die seiner Gewalt unterworfene Bevölkerung (S. 43).
Im Schutzgebietsgesetz von 1886 (letzte maßgebende Fassung vom 25. 7. 1900)
hatte sich der Reichstag nur wenige Befugnisse vorbehalten und die
Verordnungsbefugnisse in erster Linie auf den Kaiser und teilweise auch auf den
Reichskanzler übertragen, der wiederum einen Teil seiner Befugnisse auf die
unmittelbare Kolonialverwaltung übertragen durfte. Die zentrale Verwaltung der
Kolonien unterstand zunächst der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes
(unterstützt von einem Kolonialrat) und seit 1907 dem Reichskolonialamt
mit einem Staatssekretär an der Spitze. Für die Europäergerichtsbarkeit waren
neben dem Schutzgesetz das Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit und das
Zivil- und Strafrecht des Reichs mit engen, nach dem Schutzgebietsgesetz
zulässigen Modifikationen maßgebend. Dagegen unterlagen die gesamten
Rechtsverhältnisse der Eingeborenen dem kaiserlichen Ermessen, das im
Verhältnis zu den Nichteingeborenen im Prinzip auf das Verwaltungsrecht im
weitesten Sinne begrenzt war. Die Gerichtsbarkeit lag in den Händen von
Verwaltungsbeamten, in geringfügigen Sachen auch von Eingeborenenrichtern. Dies
alles führte zu einer Zweiteilung des Kolonialrechts. Die „unbestreitbaren Vorteile
einer bedarfs- und zweckorientierten Rechtspflege“ bedeuteten, so Th. Kopp in seinem Beitrag: „Theorie
und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts“, „als Zweckstrafrecht eine
erhebliche Gefährdung der zu Gunsten des Angeklagten geschaffenen Schutznormen“
(S. 87). Alle drei Gewalten - Polizei, Verwaltung und Justiz - befanden sich in
einer Hand. Eine „Kontrollinstanz für die nach freiem Ermessen als notwendig
und zweckmäßig angesehenen Strafnormen“ existierte nicht, so dass die Justiz
„von den störenden Fesseln der Gesetze“ weitgehend befreit war (S. 87). Weitverbreitet
war gegenüber den Eingeborenen die Verhängung der Prügelstrafe. Die Todesstrafe
wurde - auf die Bevölkerungszahl bezogen - von deutschen Kolonialrichtern
fünfmal häufiger verhängt als im Reich.
Mit Deutsch-Südwestafrika
befassen sich die Beiträge von Jürgen Zimmerer
„Der totale Überwachungsstaat? Recht und Verwaltung in Deutsch-Südwestafrika“,
Hansjörg Huber „,Erst
Selbsterhaltung, dann Selbstverwaltung’. Verwaltungsbeteiligung deutscher
Siedler in der Kolonie Südwestafrika“ und von Manfred O. Hinz „,Waidgerechtigkeit’ versus afrikanische Tradition. Deutsches Jagdrecht in
Namibia?“. Das koloniale Jagdrecht Südwestafrikas war nach Hinz auch nach 1918
noch stark vom deutschen Recht geprägt. Nunmehr geht es in Namibia um die
Rehabilitierung der afrikanischen Naturkonzepte als angepasste, die europäische
Waidgerechtigkeit berücksichtigende Wiederherstellung dessen, was vor vielen
Jahren galt. Der Krieg gegen die Herero und Nama (1904-1907), so Zimmerer, beschleunigte die Errichtung
eines Überwachungsstaats, der die Machtverhältnisse zugunsten der deutschen
Siedler festigte. Verordnungen von 1907 führten eine allgemeine Pass- und
Meldepflicht ein und waren dazu bestimmt, einen kolonialen „Musterstaat“ zu
schaffen. Das „Eingeborenenrecht“ versuchte, die deutschen
Herrschaftsvorstellungen im täglichen Leben der Afrikaner durchzusetzen und
eine rassische Privilegiengesellschaft zu schaffen. Erst nach 20 Jahren
allerdings erhielten die deutschen Siedler die Möglichkeit einer
Selbstverwaltungsbeteiligung, die aber weit hinter den Standards des Reichs zurückblieben. - In Kamerun lassen sich die langfristigen
Auswirkungen der deutschen Landpolitik und Bodengesetzgebung auch heute noch
beobachten (so der Beitrag von A. Eckert,
Verwaltung, Recht und koloniale Praxis in Kamerun, 1884-1914). Sebald und Arthur Knoll berichten über die aus
politischen Gründen unveröffentlicht gebliebenen Aufzeichnungen des Eingeborenenrechts
von Togo aus den Jahren 1907-1910 durch Rudolf Asmis,
den späteren Leiter der Berliner Dienststelle des Kolonialpolitischen Amtes der
NSDAP. H. Sippel
stellt für Deutsch-Ostafrika fest, dass die
Verwaltung dieser Kolonie als „durchaus effektiv“ bezeichnet werden könne,
allerdings mit ausgedehnter Heranziehung von Afrikanern für die Erledigung administrativer
Aufgaben und unter Förderung einer allgemeinen Amtssprache, dem Kisuaheli. In dem Beitrag: „Typische Ausprägungen des
deutschen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystems in Afrika“ fragt Sippel, ob man von einem charakteristischen deutschen kolonialen
Rechts- und Verwaltungssystem sprechen kann. Er verneint dies, da man aufgrund
der „offensichtlichen strukturellen und ideologischen Gemeinsamkeiten der eine
Kolonisierung praktizierenden Mächte sowie der Orientierung an kolonialem
Muster fremder Kolonialmächte“ davon wohl ebenso wenig sprechen könne wie etwa
von einem „typisch“ britischen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystem (S.
354f.). Dies ist so lange nicht schlüssig, bis hierzu rechtsvergleichende
Untersuchungen vorliegen. Immerhin arbeitet Sippel
eine Reihe von Eigenheiten des deutschen Kolonialrechtssystems heraus, wie
„Diktatur“ des Kaisers, Unübersichtlichkeit des rezipierten
deutschen Rechts, Korsett der Konsulargerichtsbarkeit, rassistische,
anachronistische und paternalistische Elemente des
Rechts- und Verwaltungssystems, die allerdings kein geschlossenes System gebildet
haben sollen. –
Mit den Kolonien im Pazifik befassen sich die Beiträge von G. Hardach
„Kolonialherrschaft im Spannungsfeld von Repression und legitimer Ordnung in Mikronesien 1885-1914“, von Stefan Johag „Die Verwaltung Deutsch-Samoas“, von H. Hammen „Typische
Unterschiede zwischen kolonialen Rechts- und Verwaltungssystemen am Beispiel Mikronesiens“ und von P. Sack „Kolonialrecht und Kolonialverwaltung in Melanesien“
und „Vorkoloniales, koloniales und nachkoloniales Recht“. In letzterem Beitrag
geht Sack am Beispiel Neuguineas als einziger Autor auch auf die Rechtsentwicklung
nach 1918 und seit der Entkolonialisierung am Beispiel des 1975 selbständig
gewordenen Staates Papua New Guinea ein. Sack stellt mit Recht die Frage, ob
die angestellten Forschungen einen entsprechenden Zeitaufwand wert seien, was
vielleicht zu bezweifeln wäre, wenn es sich um den im wesentlichen
abgeschlossenen eigenartigen historischen Prozess der Kolonialisierung und
Entkolonialisierung der „Dritten Welt“ handeln würde. Die von Sack entwickelten
Fragestellungen lassen sich jedoch auch auf die Rezeptionsvorgänge in der
europäischen Rechtsgeschichte und auf die mit der gegenwärtigen Globalisierung
der Wirtschaft verbundene Entwicklung übertragen. - In den Einzelberichten wird
die Herrschaft über Samoa und Mikronesien im ganzen
positiv beurteilt, während der Beitrag von Sack für Neuguinea eher die
Tendenzen bestätigt, die auch für die afrikanischen Kolonien maßgebend waren:
wirtschaftliche Entwicklung der Schutzgebiete, ohne dass klare
Rechtsverhältnisse geschaffen wurden. Effektivität wurde von der deutschen
Kolonialverwaltung weitgehend mit einer bürokratischen Verrechtlichung
der Verwaltung gleichgesetzt. - In seinem Beitrag: „Staatsgewalt und Disziplin.
Die chinesische Auseinandersetzung mit dem Rechtssystem der deutschen Kolonie Kiautschou“ weist K. Mühlhahn darauf hin, dass diese Kolonie von der Marine sehr etatistisch und interventionistisch
verwaltet wurde. Während die chinesische Elite in dem deutschen System
kolonialer Herrschaft eine Diskriminierung der gesamten „chinesischen Rasse“
sah, war Sun Yatsen beeindruckt von den Möglichkeiten
der Disziplinierung und Manipulierung des zivilen Individuums im Dienste des
Staates mit rechtlichen Mitteln. Mit der Landordnung für Kiautschou
von 1898 wurden die Ziele der Bodenreformbewilligung Adolf Damaschkes
weitgehend verwirklicht. Deutliche Spuren davon finden sich bis heute im
Bodenrecht von Taiwan.
Insgesamt vermitteln die Beiträge des Bandes einen Einblick in die
vielfältigen Forschungsansätze, die sich von der Sicht der Politologie,
Ethnologie und sonstiger Wissensgebiete aus für eine Kolonialrechtsgeschichte
ergeben. Allerdings wurde ein Ziel des Bandes, nämlich die deutsche
Kolonialrechtsgeschichte „in einen internationalen Zusammenhang zu stellen und
das Spektrum der deutschen Kolonialerfahrungen mit dem anderer Kolonialmächte
zu vergleichen“ (Voigt, S. 29) allenfalls in Ansätzen
erreicht. Auch das Weiterwirken dieses Prozesses in den ehemaligen Kolonien,
seine Rückwirkung auf die kolonialen Metropolen und sein Anteil an der
Rechtsglobalisierung konnte in den Beiträgen kaum behandelt werden. Der Band
zeigt, dass die Kolonialrechtsgeschichte einen wichtigen Bestandteil der
deutschen Rechtsgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts
darstellt und auch unter methodischen Gesichtspunkten ein interessantes
Forschungsgebiet darstellt (hierzu bereits Wolter/Kaller, ZNR 1995, S. 201ff.), allerdings unter der Voraussetzung, dass
dabei die historische Rechtsvergleichung nicht zu kurz kommt.
Kiel WernerSchubert