Klass, Andreas, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693-1806) (= Rechtshistorische Reihe 260). Lang, Frankfurt am Main 2002. 362 S.

 

Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um eine Würzburger rechtshistorische Dissertation aus dem Jahre 2001. Sie geht auf Untersuchungen des Verfassers zurück, die dieser unter Anregung und Betreuung von Jürgen Weitzel in der zweiten Hälfte der 90er Jahre durchgeführt hat. Das primäre Forschungsanliegen der Arbeit ist außerordentlich interessant und charakterisiert sich insbesondere durch die Originalität der Fragestellung. Ausgehend von den zeitgenössischen Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts in Wetzlar sowie von den zeitgenössischen Quellen zum Universitätsstudium, will der Verfasser eine kollektive Biographie der Gruppe der Anwälte am Wetzlarer Reichskammergericht vorlegen. In Betracht kommen also die Jahre der Präsenz des Reichskammergerichts in der kleinen Reichsstadt an der Lahn zwischen 1693 bei der Wiedereröffnung und 1806 bei seiner endgültigen Schließung. Sein Forschungsanliegen beschreibt der Verfasser bereits in der Einführung mit Präzision und Klarheit. „Diese Arbeit“ – schreibt er (S. 41) – „handelt von der Gruppe der Wetzlarer Anwälte. Forschungsgegenstand sind somit nicht einzelne, besonders erfolgreiche oder berühmte Anwälte, sondern die Anwälte in ihrer Gesamtheit. Untersucht werden die Merkmale einer Gruppe, die auf den ersten Blick ‚nur’ durch den gleichen Beruf verbunden war. Dieser Funktion als ‚Anwalt in Wetzlar’ gilt mein Interesse.“ Nicht also der einzelnen juristischen Persönlichkeit oder der konkreten Anwaltstätigkeit, beispielsweise bei der Organisation der Kanzlei oder bei der fachlichen Spezialisierung einzelner Anwälte, gilt das primäre Interesse der Untersuchung, sondern vielmehr der Frage, „die anwaltlichen Karrieren zum und vor dem Reichskammergericht zu erklären“. Die gesamte soziale Gruppe der Anwälte vor der höchsten Reichsinstanz, charakterisiert und definiert durch Ausbildung und Zulassungsvoraussetzungen, wird also als kollektiver sozialgeschichtlicher Gegenstand der Analyse betrachtet. Nicht die einzelne Persönlichkeit, sondern die kollektive Biographie dieser Sozial- und Berufsgruppe ist Forschungsgegenstand. „Die vorliegende Arbeit“ – schreibt der Verfasser weiter (ebda.) – „bildet insofern einen Schnittpunkt zwischen Rechts- und Sozialgeschichte“, indem sie versucht, das juristische und soziale Profil der Gruppe derjenigen Anwälte, die vor dem Reichskammergericht im 18. Jahrhundert zugelassen wurden, zu beleuchten. Bei einer solchen sozialbiographischen Analyse will der Verfasser deshalb bewusst auch quantitative Kriterien und historische statistische Methoden heranziehen. Sämtliche biobibliographischen Daten zu den ermittelten Anwälten in der genannten Zeitperiode wurden in eine kleine elektronische Datenbank aufgenommen und dementsprechend formalisiert und ausgewertet. Der Rezensent kann hier mit Freude und Genugtuung feststellen, dass der Forschungsansatz, der von ihm – übrigens nicht ohne Kritik und beträchtliche Widerstände – vor etwa 20 Jahren vorgeschlagen wurde, nunmehr zu fruchtbaren Untersuchungen auch in der deutschen Rechtsgeschichte geführt hat. Der Verfasser beruft sich in der Tat bei der Beschreibung und Begründung seines Forschungsanliegens ausdrücklich auf den fächerübergreifenden Ansatz, welchen der Rezensent 1984 in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung formuliert hat (Ius Commune 1985, S. 83-105).

 

Einiges sei nun zum Inhalt und zur Strukturierung der Untersuchung gesagt. Diese besteht aus zwei Hauptteilen. In einem ersten Hauptteil werden die Ergebnisse der Untersuchung zur Ausbildung, Zulassung und sozialen Karriere der Wetzlarer Reichskammergerichtsanwälte zusammengefasst (S. 51-200). Ein zweiter Hauptteil enthält - alphabetisch geordnet – die Biographien der Anwälte am Reichskammergericht in ihrer Wetzlarer Zeit zwischen 1693 und 1806 (S. 201-362). Es handelt sich um die biobibliographischen Daten zu 210 Personen, welche der Verfasser anhand unzähliger Gerichts- und Universitätsquellen ermittelt hat. Die publizierten Daten wurden formalisiert: Angegeben wird jeweils das Geburtsdatum und fast immer auch das Todesdatum, die Konfession, der Name des Vaters, sein Beruf und Sozialstand. Fast immer werden auch Name und Sozialstand der Mutter und Angaben über evtl. Verehelichungen des betroffenen Anwalts vermerkt. Hinsichtlich der juristischen Ausbildung werden die Immatrikulationsorte und die ermittelten Immatrikulationsdaten angeführt. Regelmäßig findet man auch Angaben über die Übungs- und Inauguraldisputationen mit dem jeweiligen Titel und mit Angaben zum Praeses, unter dem die Disputation abgehalten wurde. Angaben zur Vorkarriere der jeweiligen Anwälte und zu den Daten des Generalexamens vor dem Reichskammergericht und der Aufschwörung als Advokat bzw. später als Prokurator werden ebenfalls gemacht. Zuletzt werden zu den jeweiligen Einträgen die Fundstellen der ermittelten Informationen nachgewiesen. Es handelt sich hier um eine imponierende Sammlung von biobibliographischen Daten, die, wie der Verfasser (S. 201) zu Recht hofft, auch „einen Wert an sich“ darstellt. Es ist zu hoffen, dass die vorliegende Dokumentation auch Grundlage für weitere Untersuchungen über die Führungselite im Heiligen Römischen Reich des 18. Jahrhunderts sein kann. Der erste Hauptteil enthält, wie bereits erwähnt, die Ergebnisse der Untersuchung selbst. Ein erster Abschnitt (S. 51-76) beschreibt die Stellung der Anwälte im Reichskammergerichtsprozess. Hier stützt sich die Untersuchung weitgehend auf die reichhaltige, bereits vorliegende Literatur zur Entwicklung und Praxis des Kameralprozesses zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Besonders zu erwähnen ist hier vor allem die ältere Dissertation von Wiggenhorn. Die Darstellung erfolgt außerordentlich sorgfältig. Nicht nur die normativen Grundlagen werden im einzelnen beschrieben, sondern auch die Gerichtspraxis, insbesondere hinsichtlich des Anwaltsvertrags und der Prozessvollmacht sowie zur Rolle der Anwälte im Prozessgeschehen. Man findet auch Informationen zur Disziplinargewalt des Reichskammergerichts über die Gruppe der Wetzlarer Anwälte, sowie zu Anwaltskosten und zu deren Entgelt und Bezahlung. Ein zweiter Abschnitt (S. 77-135) ist dem Rechtsstudium der künftigen Reichskammergerichtsanwälte gewidmet. Eine Karriere als Anwalt am Reichskammergericht setzte notwendigerweise ein Universitätsstudium voraus. Der Verfasser hat hier im einzelnen anhand der ermittelten Daten die Universitätskarrieren dieser Gruppe analysiert. Eine Reihe von sehr ansprechenden und übersichtlichen historisch-statistischen Tabellen ergänzt und rundet die Darstellung ab. Im Zentrum stehen hier die Zwänge bei der Universitätswahl im Zeitalter der konfessionellen Bindung der einzelnen Landesuniversitäten. Angaben über die unterschiedlichen Kriterien bei der Universitätswahl werden gemacht, wobei im Vordergrund selbstverständlich, nicht zuletzt wegen der geographischen Nähe, die Universität Gießen steht. Außerordentlich interessant ist hier ferner das ausgesprochen praktische Interesse derjenigen Studenten festzustellen, die für eine Anwaltskarriere vorgesehen waren. Besondere Aufmerksamkeit wurde nämlich dem „praktischen“ Rechtsunterricht in Göttingen und Halle in der Mitte des 18. Jahrhunderts gewidmet (S.103-105). Erwähnt wird insbesondere das „collegium elaboratorium practicum“ Johann Stephan Pütters. Die wichtigen Hinweise zum damaligen praktischen, an der Gerichtspraxis orientierten Rechtsunterricht, die der Verfasser hier zusammengetragen hat, hätten durch Hinweise auf die leider vom Verfasser nicht erwähnte Habilitationsschrift Jan Schröders, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1979, ergänzt werden können. Ein dritter Abschnitt ist schließlich der Graduierung der künftigen Anwälte gewidmet. Eine Dissertation und eine juristische Promotion wurden für die Anwaltskarriere in Wetzlar immer als unbedingte Voraussetzung angesehen. Hier hat der Verfasser die reichhaltigen biobibliographischen Informationen ausgewertet, welche aus den Universitätsdissertationen und –disputationen gewonnen werden können. Auch in dieser Hinsicht greift der Verfasser auf Anregungen zurück, die der Rezensent am Anfang der 80er Jahre formuliert hatte. Zurückgegriffen wurde hier insbesondere auf die elektronische Datenbank zu den Juristen aus dem Alten Reich des 17-18. Jahrhunderts und zu deren Universitätsdissertationen, welche im Laufe der 80er Jahre vom Rezensenten im Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte angelegt und fortgeschrieben wurde. Gerade diese Hauptinformationsquelle wird vom Verfasser immer wieder herausgestellt. Die Materialsammlung und dementsprechend auch die Auswertung der Quellen, wurde offenbar in der Mitte der 90er Jahre vorgenommen. Zitiert werden deshalb die gedruckten Bände des vom Rezensenten herausgegebenen „Biographischen Repertoriums der Juristen im Alten Reich im 16.-18. Jahrhundert“ (Bände E, A, D, C), Frankfurt am Main 1987-1991. Nicht erwähnt wird allerdings die 1997 zusammen mit Karl Härter ebenfalls vom Rezensenten herausgegebene aktualisierte und vervollständigte CD-ROM-Fassung (Ius Commune CD-ROM. Informationssysteme zur Rechtsgeschichte 1), Frankfurt am Main (Klostermann) 1997. Hier wurden nämlich die Informationen vervollständigt und verbessert sowie insbesondere mit den Angaben zu den Autoren aus dem Buchstaben B ergänzt. Gerade dieser Teil der Untersuchung des Verfassers vermittelt uns einen wichtigen Einblick in die Studien- und sozialen Karrieren dieser Gruppe von Wetzlarer Anwälten. Insoweit sieht sich der Rezensent auch hier in seinen damaligen Hinweisen auf die Reichhaltigkeit der Universitätsdissertationen als spezifische Quellen für die Rechts- und Sozialgeschichte des Alten Reiches voll bestätigt.

 

In ihren Ergebnissen bleibt die vom Verfasser vorgelegte kollektive Biographie der Wetzlarer Anwälte ambivalent. Diese Ambivalenz liest sich bereits im Fragezeichen des Titels: Standes- oder Leistungselite? Eigentlich handelt es sich bei den Wetzlarer Kammergerichtsanwälten um beides zugleich. Zweifelsohne stellt die soziale Abstammung aus dem Wetzlarer Anwaltsmilieu eine notwendige Voraussetzung für eine Karriere in Wetzlar dar. „Die Söhne von bereits zugelassenen Advokaten und Prokuratoren“ – schreibt der Verfasser zusammenfassend auf S. 195 – „hatten nämlich gegenüber anderen Juristen einen Startvorteil, weil sie von Kindesbeinen an auf eine Karriere am Reichskammergericht hinarbeiten konnten … Das Gericht rekrutierte seine Advokaten“ – schreibt er weiter – „vornehmlich aus einer Oligarchie von eng miteinander verflochtenen Juristenfamilien. Diese bildeten im Wetzlar des 18. Jahrhunderts eine Art ‚Amtsaristokratie’, die dem Gericht den erforderlichen Nachschub an Anwälten lieferte.“ Allerdings spielte die Ausbildung und die juristische Qualifikation nicht zuletzt für das Bestehen des Generalexamens vor dem Gericht, bei welchem nicht wenige Sprösslinge von Kameralpersonen scheiterten, offenbar auch eine wesentliche Rolle. Die fragliche juristische Qualifikation war also für die Karriere der Wetzlarer Anwälte im 18. Jahrhundert eine ebenso wichtige Voraussetzung. „Die Anwälte“ – schreibt der Verfasser (S. 196) – „waren eine Standeselite mit einer ausgesprochen hohen fachlichen Qualifikation“. „Bereits ihr Universitätsstudium“ – betont er (ebda.), – „war zielgerichtet auf die spätere Karriere am Reichskammergericht ausgerichtet bzw. von ihr beeinflusst. Durch die guten Karriereaussichten nahmen sie Studium, Promotion und Reichskammergerichtspraktikum planvoll und möglichst zeit- und kostensparend in Angriff.“ Es handelte sich allerdings um eine Standeselite. Wesentliches Charakteristikum war beispielsweise deren fehlende Mobilität: Die Mitglieder dieser Gruppe wurden in diese hineingeboren und verharrten regelmäßig auch darin. Dies trifft auch auf die Wetzlarer Anwälte zu. Weder in sozialer noch in geographischer Hinsicht waren sie mobil. Sehr viele stammten schon aus Wetzlar, und auch die Aufnahme ans Reichskammergericht bedeutete nur für wenige von ihnen einen sozialen Mobilitätsschub, da die meisten schon dem Kameralmilieu angehörten. Die Praxisorientierung der Ausbildung, die frühzeitige Spezialisierung auf das Kameralrecht, was deutlich aus der Wahl der von ihnen bearbeiteten Dissertationsthemen hervorgeht, nicht zuletzt an den damaligen Reformuniversitäten Halle und Göttingen, zeugt zugleich von einem ausgesprochen juristischen Qualifikationswillen. Eine Analyse der Spezialexamina, die vom Verfasser nicht ausgewertet wurden, ließe noch weiterführende und präzisere Ergebnisse hinsichtlich der Auswahlkriterien des Gerichts und bezüglich der juristischen Qualität der Bewerber um eine Anwaltsstelle erwarten. Insoweit waren die Wetzlarer Anwälte einerseits Zeugen der Gesellschaft des Ancien Régime, in der, wie der Rezensent seinerzeit schrieb (Ius Commune 1985, S.88), „die soziale Qualität durch Herkunft und Patronage immer wichtiger als wissenschaftliche Ausbildung und berufliche Kompetenz“ blieb. Andererseits waren sie aber ebenso, wie der Verfasser zutreffend bemerkt (S. 199), „Vorboten des bürgerlichen Zeitalters, in dem sie ihre Karrieremöglichkeit zielgerichtet verfolgten und sich frühzeitig auf die praxisrelevanten Bereiche spezialisierten“. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung sind sehr wichtig. Sie beleuchten in umfassender Weise einen Teilaspekt der Gesellschaft des Alten Reichs in ihrer letzten Phase. Sie liefern zugleich wichtige Einblicke in das soziale Umfeld am Wetzlarer Reichskammergericht. Selbstverständlich waren die Möglichkeiten des Verfassers im Rahmen einer Dissertation beschränkt. Die hier vorliegenden Ergebnisse ließen sich möglicherweise in zwei Richtungen ergänzen. Einerseits könnte man durch eine Auswertung der Anwaltshonorare und der damit verbundenen Streitigkeiten einen Einblick in die wirtschaftliche Situation der Anwaltschaft gewinnen. Andererseits ließe sich durch eine systematische Untersuchung der Heiratsbeziehungen der betroffenen Anwälte das soziale Gefüge und die soziale Vernetzung dieser Gruppe noch besser beleuchten. Der Rezensent denkt hier an vergleichbare Untersuchungen, die zu den englischen „barristers“ aus dem 17. und 18. Jahrhundert seinerzeit publiziert worden sind. Insgesamt bleibt die vorliegende Dissertation eine wichtige Studie zur Geschichte des Alten Reichs und insbesondere zur Geschichte des Wetzlarer Reichskammergerichts, zu welcher dem Verfasser gratuliert werden muss.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri