Hoeges, Dirk, Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein. Beck, München 2000. 257 S.

 

Dirk Hoeges, Inhaber einer Professur für Romanistik, Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Hannover, unternimmt in dem vorliegenden Buch, den vielzitierten, aber wohl nicht immer wirklich gelesenen Gelehrten, Diplomaten, Politiker, Schriftsteller und Humanisten Niccolò Macchiavelli aus einem anderen Blickwinkel als bisher üblich zu verstehen und zu deuten. Im Gegensatz zu großen Teilen der bisherigen Literatur, ob nun Forschungsliteratur oder allgemeine Publizistik, will er Leben und Werk des großen Florentiners aus der politischen und geistigen Wirklichkeit der Zeit, oder anders ausgedrückt, aus der Welt des italienischen Humanismus des 15. und 16. Jahrhundert erfassen und würdigen, wobei freilich – das sei schon hier angemerkt – immer wieder auch gegenwartsbezogene Bemerkungen eingeflochten werden.

 

Im Mittelpunkt seiner Darstellung steht, wie könnte es anders sein, Macchiavellis Hauptwerk „Il Principe“, das schon bei dessen Erscheinen die Geister schied und seither in einer beispiellosen Weise mißverstanden, mißbraucht und geistig und politisch ausgebeutet worden ist, gleichgültig ob es sich um Befürworter oder Gegner des Werkes und seines Autors handelt. Diesem generellen Mißbrauch will Hoeges entgegenwirken, indem er seine Darstellung in die Schilderung von Situation und Zeit einbettet, in der das Werk entstanden ist und von der es geprägt wurde.

 

Entsprechend dieser Zielsetzung beginnt der Verfasser zunächst mit einer Beschreibung der Lebenssituation Macchiavellis bei der Abfassung des „Principe“ während der Verbannung auf seinem Landgut in der Nähe von Florenz. Es folgt eine Darstellung der humanistischen Rhetorik und Ästhetik und deren Einwirkung auf die Gedankenwelt Macchiavellis sowie des Einflusses der literarischen Tradition, der sozialen Umgebung, namentlich des Freundes- und Korrespondentenkreises, auf Macchiavellis Denk- und Empfindungswelt. Auch die Hinwendung Macchiavellis zur Analyse der politischen Wirklichkeit in Italien unter Verwertung seiner vielfältigen politischen Erfahrungen als Beamter, Diplomat und schließlich Kanzler in Florenz bis zu seinem Sturz durch die Medici wird ausführlich besprochen. Zugleich wird Macchiavellis literarische Tätigkeit wie seine Beschäftigung mit ästhetischen Fragen in die Betrachtung miteinbezogen, bevor sich der Verfasser ausführlich mit Macchiavellis Hauptwerk befaßt, das trotz der vielfältigen Tätigkeiten Macchiavellis im Mittelpunkt jeder biographischen Darstellung des großen Florentiners stehen muß.

 

Von dieser Grundlage ausgehend gelangt Hoeges zu einer von den bisherigen Darstellungen erheblich abweichenden Deutung von Macchiavelli und dessen Hauptwerk. Anders als die herrschende Meinung ist für ihn der Florentiner Staatsdenker nicht der Verfechter eines von allen moralischen Bindungen und allen überlieferten Herrschertugenden emanzipierten Fürstentyps, sondern vielmehr der Schöpfer einer Herrscherfigur, die ihre Stellung allein auf die politische Macht und deren Behauptung stützt, weil in der politischen Wirklichkeit weder die göttliche Legitimation noch andere Legitimationsformen eine Herrschaft noch zu begründen vermögen. Eine solche Behauptung der politischen Macht erfordert bei Macchiavelli vor allem die Fähigkeit des Herrschers, den äußeren Schein einer umfassenden Inhaberschaft der politischen Macht zu erwecken und zu bewahren, nachdem eine umfassende Ausübung der politischen Macht praktisch nicht möglich erscheint. In dieser Aufrechterhaltung des äußeren Scheins der umfassenden politischen Machtausübung sieht Hoeges daher auch den eigentlichen Kern der von Macchiavelli entwickelten Lehre vom „Principe nuovo“, vom neuen Fürsten oder besser vom neuen Herrscher, bei der gerade diese Fähigkeit des Herrschers, den äußeren Schein umfassender Machtausübung zu erhalten, dominiert. Ohne die Aufrechterhaltung des äußeren Scheins sei für diesen Herrschertyp, in dem man den Prototyp des modernen Herrschers erblicken könne, eine Behauptung der politischen Macht überhaupt nicht möglich.

 

Aus dieser Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des äußeren Scheins der Macht ergibt sich auch der Zwang zu einer kontrollierten Selbstdarstellung des Herrschers, bei der einzelne Elemente wie Mimik, Gestik und der gesamte Habitus eine Schlüsselfunktion einnehmen, mit anderen Worten, der Zwang zu einer ständigen öffentlichen Selbstinszenierung, wie sie im heutigen Medienzeitalter und der medialen Präsentation der Politiker zu den wesentlichen Bestandteilen der politischen Machtbehauptung gehört. Auch die von Macchiavelli betonte Notwendigkeit, Literatur und Kunst zur Aufrechterhaltung dieses äußeren Scheins der politischen Macht einzusetzen, überhaupt den äußeren Schein mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, müsse, so Hoeges, in diesem Kontext gesehen werden. Als besonders wichtiges Element der Selbstdarstellung des „Principe nuovo“ sei auch die von Macchiavelli geforderte Präsentation des Herrschers als erfolgreicher Kriegsherr und seine Zuschaustellung als Inkarnation einer ständigen Wachsamkeit und Bereitschaft anzusehen, Gefahren von den Untertanen abzuwehren. Außerdem müsse sich der Herrscher stets als physisch und psychisch leistungsfähig zeigen und überdies über Kenntnis von Geschichte und Politik verfügen, die immer wieder zur Schau gestellt werden müßte.

 

Im Ergebnis ist dieser neue, von Macchiavelli postulierte Prototyp eines Herrschers für Hoeges ein Konstrukt, ein Produkt aus Technik und Kunst, aus Rhetorik und Ästhetik, für das es in der geschichtlichen Wirklichkeit keine Entsprechung gibt. Hoeges meint, daß Macchiavelli sich in diesem konstruierten Fürstentyp letztendlich selbst habe spiegeln wollen und daß die ganze Darstellung des „Principe“ als eine Art Reflex auf Macchiavellis Elinimierung aus dem praktischen politischen Leben anzusehen sei. Der „Principe nuovo“ sei jener Typ von Fürst, wie ihn sich Macchiavelli auf Grund seiner eigenen Erfahrung und der Analyse der politischen Wirklichkeit seiner Zeit vorstelle und wie er ihn selbst habe repräsentieren wollen.

 

Ob man namentlich dieser letzteren, stark von den literaturwissenschaftlichen Interessen des Verfassers bestimmten Deutung Macchiavellis und seines Hauptwerkes folgen kann, sei hier dahingestellt. Die verschiedenen Widmungen, die Macchiavelli seinem Hauptwerk vorangestellt hat, wie auch der Inhalt des Werkes lassen durchaus auch andere Deutungen zu. Vielleicht war das Werk auch der Versuch, sich mit einer politischen Handlungslehre den neuen Machthabern als Berater oder gar für eine neue Verwendung Macchiavellis in Florenz zu empfehlen. Auch andere Deutungen sind möglich. Dennoch wird man festhalten können – und dies ist die wichtigste Folgerung, die vor allem der Rechts- und Verfassungshistoriker aus der Lektüre des Buches von Hoeges ziehen muß -, daß jede Beschäftigung mit Macchiavellis „Il principe“ im Zusammenahng des Zeitalters, in dem dieses Werk entstanden ist, zu geschehen hat, sowohl die biographische Situation des Autors wie die allgemeinen politischen und geistigen Verhältnisse der Zeit ins Auge gefaßt werden müssen und insbesondere die Zusammenhänge zwischen dem Hauptwerk und den übrigen gelehrten und künstlerischen Neigungen Macchiavellis nicht außerachtgelassen werden dürfen. „Il principe“ ist, wie könnte es anders sein, insgesamt ein Produkt des humanistischen Denkens des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in dem sich die durch den Humanismus eingeleitete Säkularisierung des Denkens ebenso spiegelt wie die beginnende Emanzipation von den dominierenden religiösen Bindungen der christlichen Welt des Mittelalters. Als solches muß es stets verstanden und gedeutet werden, gleichgültig wie man zu den Ansichten und Thesen des Werkes im einzelnen auch stehen mag. Seine bleibende Bedeutung bezieht Macchiavellis Werk jedoch vor allem aus der Tatsache, daß sein Autor aus einer intimen Kenntnis der politischen Wirklichkeit seiner Zeit in einer zeitlosen Weise das Wesen der politischen Machtausübung in der Neuzeit offengelegt hat, wobei die Einzelheiten ob der kaltschnäuzigen Rationalität der Darstellung die Betrachter zu allen Zeiten beunruhigt haben und wohl immer beunruhigen werden.

 

Salzburg                                                                                                         Arno Buschmann