Grenze
und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung
in der österreichischen Monarchie 1750-1867, hg. v. Heindl,
Waltraud/Saurer, Edith. Böhlau, Wien 2000. XVII,
972 S.
Die
vorliegende Publikation beruht auf einem 1995 begonnenen Projekt, das sich
unter dem Titel „Grenze und Grenzüberschreitungen“ mit der Bedeutung der Grenze
für die staatliche und soziale Entwicklung des Habsburgerreiches von der Mitte
des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte. Die Wahl
des behandelten Zeitraumes bot sich, so die Herausgeberinnen (S. XXIIIff.), einerseits durch die Verwaltungsreformen in der
Mitte des 18. Jahrhunderts an, die mit ihren Zentralisierungsmaßnahmen einen
gewissen Modernisierungsschub mit sich brachten, andererseits durch die
„völlige Neuordnung“ der staatsbürgerlichen Rechte durch die Dezemberverfassung
1867 (wenngleich gerade im Bereich der Bewegungsfreiheit von In- und Ausländern
1867 nicht unbedingt eine klare Zäsur darstellt, da einerseits bereits 1862 das
Gesetz über die Freiheit der Person die Freizügigkeit brachte, andererseits die
Bewegungsfreiheit auch nach 1867 wie zuvor einfachgesetzlich weitgehend
ausgehöhlt blieb).
Das
Buch ist das Produkt einer internationalen Zusammenarbeit zu diesem Thema und
umfaßt folglich mehrere unterschiedlich umfangreiche Beiträge von Autoren und
Autorinnen aus Wien, Arezzo, Lemberg, Brünn und Prag, leider jedoch nicht aus den Ländern der
einstigen Stephanskrone, was nicht nur angesichts des
Ausgleiches von 1867, sondern auch für die Zeit davor durchaus lohnenswert
gewesen wäre. Methodisch verfolgen die einzelnen Studien den
mikrogeschichtlichen Zugang, der es verdiene, auch „auf die politische
Geschichte“, hier die der Staatsgrenze und Staatsbürgerschaft, „angewendet zu
werden“, da er „auf Spielräume und Behinderungen von Personen und sozialen
Gruppen verweisen“ würde, „die bislang von dem Blick aus der Perspektive des
Fallschirmspringers übersehen wurden“ (S. XXIII).
Der
erste umfangreiche Beitrag von Hannelore Burger befasst sich mit dem Passwesen
und der Staatsbürgerschaft (S. 3-172) und behandelt insbesondere die
Entwicklung des Administrativverfahrens zur
Passerteilung, die Pässe mit Hofbewilligung für bestimmte Personengruppen wie
Adel, Beamte, Studierende, Geistliche und Ärzte, die Handels- und Warenpässe
sowie die Pässe für Frauen und Fremde, sodann die Entwicklung des
österreichischen Staatsbürgerschaftsrechtes und die Praxis der
Staatsbürgerschaftserteilungen in Wien und Niederösterreich in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts mit ausgewählten Fallstudien zur Staatsbürgerschaft
der Frau sowie die österreichische Reichsbürgerschaft nach der Verfassung von
1849 und die Staatsbürgerschaft nach der Dezemberverfassung.
In
seinem Beitrag über den Schub und das Heimatrecht (S. 173-352) stellt Harald
Wendelin zunächst das Armenversorgungs- und Konskriptionswesen
sowie das Heimatrecht dar, um sich dann dem Schubwesen insbesondere anhand
niederösterreichischer Archivalien zuzuwenden. Er behandelt die rechtlichen und
administrativen Voraussetzungen des Schubwesens, den Partikular- und Hauptschub
sowie quantitative und qualitative Aspekte des Schubes, die auch durch
zahlreiche Tabellen veranschaulicht werden.
Andrea
Geselle widmet sich der Bewegung und ihrer Kontrolle in Lombardo-Venetien
(S. 347-515), wo das aus der französischen Zeit stammende und von der
österreichischen Regierung beibehaltene System der Ausweispflicht und damit der
staatlichen Überwachung viel weiter entwickelt war. Sie stellt dementsprechend
die Vorläufer und Grundlagen sowie die Entwicklung des lombardo-venezianischen
Passsystems dar, behandelt die Rechte und Pflichten der Passwerber, wobei sie
den reisenden Frauen besonderes Augenmerk schenkt, führt die Formen der dadurch
möglichen Kontrolle und den daraus resultierenden Schutz und die Förderung
staatsbürgerlicher und territorialer Interessen vor und wendet sich sodann den
Grenzüberschreitungen sowohl von Binnengrenzen als auch Staatsgrenze und dem
illegalen Reisen zu.
Ergänzt
wird der Forschungskomplex Pässe durch den Beitrag von Milan Hlavača und Jan Němec
(S. 795-803), in dem anhand eines Fundus aus einem nordböhmischen Archiv die
Praxis der Paßerteilung auf der Herrschaft Böhmisch-Jamnitz/Českokamenické rekonstruiert wird.
Die
Kategorie des Fremdseins, die ja keineswegs mit dem Ausländerstatus
gleichzusetzen war, wird von Zdenka Stoklásková exemplarisch
für Böhmen und Mähren untersucht (S. 621-718), wobei sie allerdings in ihrer
Darstellung nicht immer terminologisch klar zwischen Ausländern und
inländischen Fremden differenziert. Sie behandelt insbesondere den Reisepass
als Voraussetzung für den Eintritt von Fremden nach Österreich, wendet sich
dann den einzelnen Gruppen von Fremden zu, also insbesondere den Bettlern,
Vagabunden und Müßiggängern, den „Gefangenen, straffällig Verfolgten und
,Fremde(n), die das Land ausspähen’“, den Ausländern mit Tieren, Künstlern und
Musikanten, den Hausierern, Militärangehörigen, Kranken, Juden sowie begünstigten
Gruppen von Fremden wie den türkischen Händlern und fremden Kur- und
Badegästen, und als weiterer Gruppe den wandernden Handwerksburschen. Sie zeigt
sodann die Beobachtung der Fremden durch Tagwachen auf, beschäftigt sich mit
der Niederlassung der Fremden - gemeint sind freilich hier nur Ausländer - in
Österreich anhand zweier Fallbeispiele aus den Neunzigerjahren des 18.
Jahrhunderts sowie mit Fremden in den Fabrik- und Lohnarbeiterprotokollen des Brünner Polizeipräsidiums.
In
einem weiteren Beitrag zeigt Svjatoslav Pacholkiv höchst anschaulich das Werden der
österreichischen Staatsgrenze in Galizien (S. 519-618), die weder eine
ethnische oder historische noch gewachsene wirtschaftliche, sondern eine rein polititsche Grenze war.
In
seinem Beitrag über die Grenzverhältnisse der zu den Liechtensteinischen Gütern
gehörigen Grundherrschaft Lundenburg/Břeclav (S. 721-787) untersucht Pavel Cibulka vor allem die Passangelegenheiten,
Mobilitätsfragen, die Behandlung von Staatsbürgerschaftsangelegenheiten
in und den Schub sowie die Auswanderung aus dieser mährischen Herrschaft, wobei
er insbesondere auf die unterschiedlich große Bedeutung von Landes- und
Binnengrenzen für diese Herrschaft hinweist.
Im
letzten Beitrag dieses Bandes widmet sich Andrea Komlosy
schließlich den ökonomischen Grenzen (S. 809-876) und thematisiert eingehend die
Hintergründe für Zentrenbildung und Peripherisierung
sowie die damit verbundenen Konflikte und den Zusammenhang von sozio-ökonomischer und politisch-administrativer Grenze.
Für
das gesamte Buch wurden auch ein Abbildungsverzeichnis, ein
Tabellenverzeichnis, eine Zeittafel, ein Quellenverzeichnis und eine
Bibliographie sowie ein Orts-, Personen- und Sachregister erstellt.
Angesichts
dessen, dass die in der vorliegenden Publikation angesprochenen Themen für
Österreich tatsächlich bisher auch von der Geschichtsforschung weitgehend
vernachlässigt oder nur in Regionalstudien angesprochen wurden, ist das
Erscheinen dieses Buches außerordentlich zu begrüßen und als wahrer
„Durchbruch“ zu bezeichnen. Mag auch die nicht immer geglückte inhaltliche
Abstimmung und Zusammenstellung der Beiträge kritisierbar sein, so ergibt sie
sich doch aus dem archivbestimmten und
mikrohistorischen Zugang, der freilich eine beachtliche und höchst wertvolle
Bereicherung zum bisherigen Forschungsstand zu leisten vermag. Nichtsdestotrotz
birgt dieser Themenbereich, insbesondere auch die Geschichte des
österreichischen Fremdenrechts und der Freizügigkeit innerhalb der
Staatsgrenzen, auch nach diesem Buch noch zahlreiche weitere Herausforderungen
für die historische Forschung und es ist sehr zu hoffen, dass die vorliegende
Publikation das Interesse für derartige Fragen gefördert hat.
Wien Ilse
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