Gilde,
Alexandra, Die
Stellung der Frau im Reichsstrafgesetzbuch von 1870/71 und in den
Reformentwürfen bis 1919 im Urteil der bürgerlichen Frauenbewegung (=
Rechtshistorische Reihe 200). Lang, Frankfurt am Main 1999. 247 S.
Es wirkt auf
den ersten Blick überraschend, wenn man feststellen muß,
daß ein naheliegendes
Themengebiet wie die Stellung der Frau im Strafrecht um 1900 und die
reichhaltigen darauf bezogenen rechtspolitischen Äußerungen der damaligen Frauenbewegung
bisher in wichtigen Teilen unbearbeitet geblieben ist. Doch ist dies
tatsächlich über weite Strecken der Fall. Gildes
Untersuchung ist in mancher Hinsicht die rechtshistorische Erstbearbeitung
eines bisher nicht ausreichend gewürdigten Gegenstandes.
Gilde
behandelt in vier einer zeitlichen Gliederung folgenden Abschnitten
frauenspezifische Normen - vornehmlich solche des Sexualstrafrechts - des
Strafgesetzbuchs von 1870/71 (S. 19-53), der Gesetzesnovellen von 1876, 1894,
1897 und 1900 (S. 76-109, zuvor S. 54-76 zur Entwicklung der Frauenbewegung)
sowie der Reformentwürfe von 1909, 1911 (S. 110-163), 1913 und 1919 (S.
163-217). Neben Gesetzgebungsmaterialien und
zeitgenössischem strafrechtlichem Schrifttum werden immer wieder die
Stellungnahmen der sog. bürgerlichen Fraktionen in der damaligen Frauenbewegung
herangezogen. Die Erschließung dieser Positionen kann sicherlich als der
wichtigste Erkenntnisgegenstand dieser Arbeit gewertet werden und dürfte auch
über die Grenzen der (Straf-)Rechtsgeschichte hinaus auf beachtliches Interesse
stoßen. Als weiterer Erkenntnisgegenstand kommt die bisher gleichfalls
rechtshistorisch kaum untersuchte Motivlage der Gesetzesänderungen und
Reformentwürfe im Frauenstrafrecht um 1900 hinzu. Die Untersuchung bleibt bewußt - sicherlich vorwiegend aus Platzgründen - auf
ausgewählte Abschnitte der Quellen beschränkt. Eine Behandlung der §§ 217, 218
StGB - Kindstötung und Abtreibung - erfolgt daher nicht, und auch die
Positionen sozialdemokratischer Frauen werden nur in gekürzter Form
dargestellt.
Der
Gliederung nach erfolgt keine zusammenhängende isolierte Darstellung der
Frauenforderungen zum Strafrecht, vielmehr werden diese Forderungen im Verlauf
ihrer zeitlichen Entwicklung anhand der jeweiligen Rechtsnorm eines Gesetzes
oder Entwurfes erörtert. Hierdurch wird die zeitnahe Zuordnung der Motive und
Begleitumstände jeder Quelle wesentlich erleichtert, wenngleich eine stärker
nach inhaltlich-systematischen Gesichtspunkten (z. B. nach einzelnen Delikten
oder einzelnen rechtspolitischen Forderungsschwerpunkten) geordnete zeitübergreifende Gliederung es andererseits ermöglicht
hätte, gezielt die wichtigsten Regelungskonflikte im Detail darzustellen.
Die
damaligen Stellungnahmen von Frauenseite lassen sich im wesentlichen
in drei Quellengattungen fassen: Petitionen, Zeitschriftenartikel und -
letzteres in der Bedeutung nachrangig - Passagen innerhalb von Monographien.
Die von Gilde in der Regel erstmals für die Rechtsgeschichte aufgeschlossenen
Petitionen und Artikel stellen zwei ganz typische rechtspolitische
Kommunikationswege der damaligen Aktivistinnen dar. Das Petitionsrecht war
mangels anderer politischer Teilnahmerechte (kein Wahlrecht, frauenspezifische
Einschränkungen im Vereinsrecht und im Kundgebungsrecht)
das einzige den Frauen voll zugängliche Recht der politischen Meinungsäußerung
und wurde von den Frauenverbänden ausgiebig genutzt. Große Teile der damaligen
„Rechtskämpfe“ von Frauenseite im Kaiserreich spielten sich somit auf dem
Petitionsweg ab, mit allerdings wechselhaften Erfolgsaussichten. Als wichtigste
strafrechtliche Petition ist hier sicherlich diejenige des Bundes Deutscher
Frauenvereine zur Reform des Strafgesetzbuches und der Strafprozeßordnung
von 1909 hervorzuheben, die einen zusammenhängenden Gegenentwurf des
Strafrechts von Frauenseite nebst Gegenüberstellung der geltenden
Gesetzesparagraphen und der vom Bund deutscher Frauenvereine erbetenen
Änderungen enthält. Die zusätzlich zu den Petitionen herangezogenen Artikel von
Frauenseite erschienen damals kaum in juristischen Fachzeitschriften, sondern
vornehmlich in politischen Frauenzeitschriften. Neben den für alle
Rechtsgebiete gleichermaßen relevanten Periodika „Die Frau“ und „Die
Frauenbewegung“ sowie der sozialdemokratischen „Gleichheit“ zieht Gilde für das
Strafrecht immer wieder das Blatt „Der Abolitionist“
heran: die abolitionistische Bewegung richtete sich
insbesondere gegen die damalige Praxis der reglementierten Prostitution und
brandmarkte diese als Kennzeichen einer zu überwindenden unsittlichen und
spezifisch frauenfeindlichen Doppelmoral. Zur reglementierten Prostitution
gehörten u. a. körperliche Zwangsuntersuchungen von - oft „unbescholtenen“
- Frauen, die von den Behörden aus irgendeinem Grunde der unbefugten Prostitution
verdächtigt wurden.
Innerhalb
der Frauenverbände und den von Frauen dominierten Teilen der
„Sittlichkeitsbewegung“ charakterisiert Gilde (S. 137/138) hier den zu Beginn
der 1890er Jahre besonders einflußreichen Verein
„Jugendschutz“ um Hanna Bieber-Böhm als Träger eines repressiven, konservativen
Standpunktes, die in der Frauenbewegung einflußreichere
Internationale Abolitionistische Föderation und
später den Bund für Mutterschutz (Helene Stöcker) als
Träger progressiver Gedanken zur Sexualreform. Zu einem ersten Schwerpunkt der
öffentlichen Einwirkungsversuche von Frauen auf das Sexualstrafrecht wurde die
seit 1892 parlamentarisch diskutierte und 1900 verabschiedete sog. Lex Heinze,
in welcher neben Strafnormen zur Kuppelei u. a. erstmals eine Norm zur
besonderen Strafbarkeit der Zuhälterei (§ 181 a StGB) enthalten war.
Gilde stellt
in ihrem Resumé (S. 219-226) die Frauenbewegung und
auch den Bund deutscher Frauenvereine als Dachorganisation der „bürgerlichen“
Frauen zutreffend als ein Sammelbecken recht unterschiedlicher, ja oft
gegensätzlicher Positionen dar, wenngleich die Mehrheit auch der organisierten
bürgerlichen Frauen ab etwa 1900 in der Sittlichkeitsfrage eher die Ansichten
des progressiven Flügels geteilt habe (und - wie hinzugefügt werden kann - im
Jahr 1909 eine gemeinsamer Strafrechtsentwurf in Gestalt einer Petition
erstellt werden konnte). Während am Beginn der Frauenforderungen noch Wünsche
nach Strafverschärfungen und der Heraufsetzung von Schutzaltersnormen gestanden
hätten, sei im Laufe der Zeit zunehmend eine differenzierte Diskussion um
Neuschaffung und Neuformulierung von Straftatbeständen geführt worden, auch vor
dem Hintergrund der inzwischen für Frauen zugänglich gewordenen juristischen
Ausbildung. Wenn aber auch dann die Frauen mehrheitlich z. B. für eine
Heraufsetzung des Schutzalters bei Verführung auf 21 Jahre eingetreten seien,
so hätten sie den Gedanken des Schutzes der Frau zu stark der sexuellen
Selbstbestimmung junger Frauen übergeordnet.
Was die
allgemeine strafrechtliche Diskussion über die im Sexualstrafrecht geschützten
Rechtsgüter betreffe, so sei in der Zeit von 1870 bis 1920 ein bemerkenswerter
Wandel eingetreten. Anfangs habe man gleichberechtigt mit dem Schutz von
Individualgütern (der Frau) den Schutz solcher Güter wie Moral, Sitte und
öffentliche Ordnung gewertet. Aus den Gesetzes- und Entwurfsbegründungen
späterer Jahrzehnte aber ergebe sich ein tiefgreifender
Wertewandel. Der Schutz individueller Güter trete eindeutig in den Vordergrund,
und sogar die Entdeckung der sexuellen Selbstbestimmung (neben oder anstelle
der Sittlichkeit) als Schutzgut habe sich abgezeichnet. In den älteren Quellen
habe der Gesetzgeber zudem oft nur die „unbescholtene“
Frau als schutzwürdig angesehen, später aber immer mehr zumindest von der
ausdrücklichen Nennung dieses Merkmals Abstand genommen.
Zwar seien
konkrete Erfolge der Frauenbewegung in der damaligen Strafrechtsreform nur
schwer nachweisbar, doch könne - so Gilde - ein mittelbarer Einfluß
der Frauenpositionen auf die Reformentwürfe des Gesetzgebers durchaus in
Betracht gezogen werden.
Gilde kommt
das große Verdienst zu, eine Reihe notwendiger strafrechtsgeschichtlicher
Erörterungen angestoßen und die bisher wenig zugänglichen zeitgenössischen
Quellen für diese Erörterungen aufgeschlossen zu haben.
Die gewählte
Themenbegrenzung erscheint im Rahmen einer Dissertationsaufgabe - mit
möglicherweise von außen gesetzter Platzbeschränkung - sinnvoll. Aus
weitergehender Perspektive ist es etwas bedauerlich, daß
Themenbereiche wie die §§ 217, 218 StGB oder die Stellungnahmen der
sozialdemokratischen Frauen dieser Begrenzung zum Opfer gefallen sind. Zur
benutzerfreundlichen Erschließung des in dieser Pionierarbeit behandelten
Themen- und Personenkreises wäre ein Personen- und Stichwortregister mit Seitenangaben
wünschenswert gewesen.
Insgesamt
ist Gildes Werk als ein erfreulicher und notwendiger
Schritt in eine auch über das Strafrecht hinaus erforderliche Neuinterpretation
des frauenrechtsgeschichtlich relevanten Quellenmaterials zu betrachten. Es läßt dabei Raum für Vertiefungen, auch Raum für vielversprechende weitere Bearbeitungen außerhalb, aber
auch innerhalb des Strafrechts, wobei nur beispielhaft auf die Diskussionen zu
§ 218 StGB oder die rechtspolitischen Bestrebungen zur Zeit der Weimarer Republik
zu verweisen ist.
Hannover Arne Dirk Duncker