Das Werk Geus’ ist in drei
Abschnitte unterteilt, die sich mit den Bestimmungen für die Kapitalverbrechen
Mord, Diebstahl und Raub in der „Constitutio Criminalis Carolina“ von 1532, dem „Preußischen Allgemeinen
Landrecht“ von 1794 und dem „Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches“ von 1873
befassen.
Das verbindende Thema aller dieser drei Abschnitte wäre die
Suche der Verfasser dieser Gesetzbücher nach der materiellen Wahrheit im Kriminalprozeß, somit der Suche nach dem „zuverlässigen
Zeugen“, auf drei verschiedene Arten, nämlich mit der Folter in der Constitutio Criminalis Carolina,
mit einer abgemilderten Form der Befragung im Preußischen Landrecht und mit
naturwissenschaftlichen Methoden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
gewesen. Geus erkannte dies aber leider nicht und sagt
uns deshalb nur, daß die Constitutio
Criminalis Carolina zwar eingeführt wurde, weil man
im Prozeß gemäß römischem Recht die Wahrheit
ermitteln wollte, doch seine Ansichten zur Kriminalität und deren Bekämpfung
vor der Constitutio Criminalis
Carolina sind etwas fremdbestimmt; er sagt uns auch, daß
das „Landrecht“ eingeführt wurde, weil die Aufklärung die Constitutio
Criminalis Carolina als etwas nicht Zeitgemäßes
ablehnte, ohne aber auf die Ideologie der Aufklärung und ihre Haltung gegenüber
Justiz, Polizei und Verbrechen einzugehen, was die Sachlage doch sehr
relativiert hätte; Geus sagt uns ebenso, daß das „Strafgesetzbuch“ verabschiedet wurde, um im
Deutschen Reich nach 1871 Rechtseinheit zu erreichen, ohne daß
er auf die Ansicht der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebenden
Juristen eingegangen wäre, die in ihrer großen Mehrheit von einer „Krise“ des
Polizei- und Justizsystems in ihrer Zeit sprachen. Geus
hat also offenbar das Verbindende aller drei Gesetzeswerke, die Suche nach dem
„zuverlässigen Zeugen“, leider nicht erkannt, und seine Erklärungen, warum es
denn jeweils zur Reform des Bestehenden kam, gehen nicht genug in die Tiefe. Geus sagt hier manches Richtige, aber auch manches Falsche,
und vor Allem verabsäumte er es, sein Werk unter das Thema '“Erhalten von
objektiven Zeugenaussagen zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Mitteln“ -
durch Folter (Constitutio Criminalis
Carolina), durch „aufgeklärte“ Justizarbeit (Allgemeines Landrecht) und durch
naturwissenschaftliche Methoden (Reichsstrafgesetzbuch) - zu stellen.
Der erste Abschnitt umfaßt die
Seiten 13‑103 und behandelt die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 mit ihrer Vorgeschichte. Geus gibt uns hier die Erkenntnis, daß
die Constitutio Criminalis
Carolina im Heiligen Römischen Reich eingeführt wurde, weil man seit dem 15.
Jahrhundert in einem Prozeß über einen Kriminalfall
auf der Suche nach der materiellen Wahrheit war, also wissen wollte, was denn
bei einem Verbrechen wirklich geschehen war und welche Motive der Täter gehabt
hatte. Zu diesem Behufe verwendete die Constitutio Criminalis Carolina die Folter in den drei Graden der
„einfachen Befragung“, der „Befragung unter Vorzeigen der Instrumente“ und der
„Befragung unter Anwendung der Instrumente“. Im Gegensatz dazu war im
Mittelalter in Deutschland die Folter etwas Unbekanntes, das man auch gar nicht
benötigte, denn die im Mittelalter in Deutschland angewendeten Rechtsnormen aus
den süddeutschen, sächsischen, lübisch-sächsischen
und Magdeburg-Breslauer Rechtskreisen waren Rechte, die nur den Ausgleich
zwischen den Parteien, zwischen Kläger und Beklagtem, erstrebten und nicht nach
der Wahrheit suchten. So sagt Schmoeckel (Jus
commune 1999, 124), daß die
germanischen Rechte nur die „Glaubwürdigkeit“ von Täter und Opfer beurteilten, daß also nur der soziale Rang von Täter und Opfer
entscheidend für die Rechtsfindung war (vgl. dazu Geus,
S. 33/34). Im römischen Recht dagegen wurde vom Gericht die materielle Wahrheit
gesucht, um die Tat bewerten und den Täter demgemäß bestrafen zu können. Auch
waren die Gesetze des römischen Rechts für die Richter verpflichtend, und seit
dem 15. Jahrhundert gab es unter den Juristen im Reich eine Richtung, die für
den jeweiligen Richter verbindliche Gesetze erlassen wollte, die also für eine
Angleichung von Rechtswirklichkeit und Rechtspraxis war. Das „Volk“ aber hatte
andere Rechtsvorstellungen, wie Bulst in
„Kriterien der Rechtsprechung“ (1999) darlegt. Die Einführung der Constitutio Criminalis Carolina war
also nicht ganz so problemlos, wie es oft dargestellt wird. Trotzdem wurde seit
1532 in Deutschland der Täter vom „Staat“ - wenn man dieses Wort vielleicht
auch erst für die Zeit nach dem 30jährigen Kriege benutzen sollte - wirklich
„bestraft“ und nicht nur durch das Mittel der proscriptio nur auf Zeit vom
Tatort entfernt und dazu gezwungen, das Opfer oder dessen Hinterbliebene zu entschädigen. Dies scheint übrigens
dazu geführt zu haben, daß die Verbrechensrate im 16.
Jahrhundert bis zu einem gewissen Grade zurückging.
Die Einleitung Geus’ auf den Seiten 13‑20, in
der er dies alles beschreibt, und seine methodischen Vorbemerkungen zur
Quellengrundlage der Constitutio Criminalis
Carolina von 1532 sind recht gut. Die Arbeit wäre überhaupt gelungen, wenn es
nicht einige Kritikpunkte anzumerken gäbe, die doch einigermaßen wichtig sind
und die der Arbeit etwas von ihrem Wert nehmen. Dies fängt an mit dem Titel:
„Mörder, Diebe, Räuber“. Etwas reißerisch, vor allem, wenn man bedenkt, daß das Buch ja nicht vom Verbrechen handelt, sondern vom Strafrecht.
Geus folgt in dieser Hinsicht aber unverkennbar Gerd Schwerhoff, der ja auch dafür bekannt ist, seinen
Werken Titel zu geben, die dem Leser manchmal etwas seltsam erscheinen: So „Das
Schwert des Damokles“ (1989), „Ein Blick vom Turm“ (1990), „Die groisse oeverswenckliche Costlicheyt zo messigen'“ (1990), „Köln im Kreuzverhör“ (1991) oder '“Mach,
daß wir nicht in eine Schande geraten!“ (1993). „Köln
im Kreuzverhör handelt übrigens von Verbrechen in Köln in den Jahren 1568-1572,
1588-1592 und 1608-1612, in einer Zeit also, als es im Reich nach Einführung
der Constitutio Criminalis
Carolina und des geheimen schriftlichen Prozesses der gelehrten Juristen keine
mündliche Verhandlung und also auch kein Kreuzverhör mehr geben konnte. Auch
bei anderen Dingen folgt Geus allzu sehr Schwerhoff: So auf S. 21, wo er von Schwerhoff den etwas sperrigen Begriff „Historische
Kriminalitätsforschung“ übernimmt, den er an die Stelle des älteren,
eingeführten und international verständlichen Begriffs „Historische Kriminologie“
setzt. Schwerhoff benutzte diesen Neologismus schon
im „Blick vom Turm“ (1990) und auch in „Köln im Kreuzverhör“ (1991), wobei man
sich fragt, warum Schwerhoff sich hier gegen Radbruchs
und Gwinners Verwendung des Wortes „historische
Kriminologie“ in der Einleitung der „Geschichte des Verbrechens“ (1951) und Baders
Terminologie in dessen Aufsatz „Aufgaben, Methoden und Grenzen einer
historischen Kriminologie“ (1956) wendet. Denn der Begriff „historische
Kriminologie“ ist ja nicht unverständlich oder missverständlich. Die Frage muß also gestattet sein, warum Geus
hier Schwerhoff bis in die einzelnen Formulierungen
hinein folgt. Dies beschränkt sich übrigens nicht nur auf die Verwendung des
Begriffes „historische Kriminalitätsforschung“, sondern erfolgt auch in der Verwendung
der Begriffe „Devianzt“ und „Delinquenz“ an Stelle
von „Kriminalität“. Diese Euphemismen verwendet Schwerhoff
sowohl in „Köln im Kreuzverhör“ (1991) als auch in „Devianz in der
alteuropäischen Gesellschaft“ (1992). Auch hier muß man
anmerken, daß der Begriff „Verbrechen“ schärfer ist
als das schwammige „Delinquenz“ oder gar das euphemistische „Devianz“. Andererseits
aber hat Geus Schwerhoffs „Devianz
in der alteuropäischen Gesellschaft“ offenbar doch nicht so genau gelesen, denn
dort wird auf S. 388 gefordert, daß sich die
Forschung eher der Rechtspraxis als der Rechtswirklichkeit in Mittelalter und
Frühneuzeit zuwenden sollte. Geus erforscht aber
allein die „Rechtswirklichkeit“, d. h. den Wortlaut der Gesetze, und nicht die
Rechtspraxis. Nun mag es ja sein, daß mit Einführung
der Constitutio Criminalis
Carolina und des geheimen schriftlichen Prozesses durch die gelehrten Juristen
1532 die Unterschiede zwischen Rechtswirklichkeit und Rechtspraxis im Reich
kleiner wurden. Aber man hätte sich doch gewünscht, daß
diese allgemein in Forscherkreisen geglaubte Theorie auch anhand einer
Untersuchung nachgewiesen worden wäre. Diese große Chance hat Geus vertan. In seiner auf S. 22 erhobenen Forderung nach „qualitativer
Betrachtung der Quellen“ (also der Forderung nach subjektiver
impressionistischer Einzelfallbetrachtung anstelle der objektiven
Quantifizierung von vielen Fällen) folgt Geus wieder allzusehr Schwerhoff nach. Dabei
sollte hier vielleicht angemerkt werden, daß die
englischen Begriffe „quantitative/qualitative analysis“
aus der Chemie stammen und ursprünglich mit Geschichte gar nichts zu tun haben.
Auf S. 22 schreibt Geus sogar fast von Schwerhoff ab, wenn er etwa behauptet, daß
in jüngerer Zeit die „qualitative Forschung ... an die Stelle der
quantitativen“ trat. Diese Behauptung Schwerhoffs aus
„Devianz“ (S. 406) ist offenbar eine von Geus
unüberprüfte, die so auch nicht stimmt. Geus wendet
sich sogar, offenbar ohne sich dessen bewußt zu sein,
gegen den Impressionismus, wenn er auf S. 25 sagt, daß
ein Forscher oft fälschlicherweise „das Außergewöhnliche'“ für das „Typische“
halte, einfach deshalb übrigens, weil der Forscher sich nach dem Durchlesen der
Quelle an dieses Außergewöhnliche noch erinnern kann, an das Alltägliche
dagegen nicht. Daß die Quellenlage nur Städte im
Reich zur Betrachtung der Kriminalität in ihnen zuläßt,
ist schlichtweg falsch: Der Rezensent verweist hierzu etwa auf Herta Mandl-Neumanns
Aufsatz über das Verbrechen im ländlichen Krems in Oberösterreich (1983).
Im zweiten Abschnitt behandelt Geus
auf den Seiten 104‑209 das „Preußische Allgemeine Landrecht“ von 1794. Geus vermittelt hier die Erkenntnis, daß
das preußische Landrecht, 1780 von Friedrich II. in einer Kabinettsordre
konzipiert, im Jahre 1794 als Ersatz für die Constitutio
Criminalis Carolina eingeführt wurde, weil die
Aufklärung die „barbarischen“ Ermittlungsmethoden und Strafen der Frühneuzeit
ablehnte. Die „Rationalisierung des Rechts“ durch die Aufklärung führte also
zur Abkehr von der Constitutio Criminalis
Carolina. So wissen wir es auch alle noch aus der Schule, jenem getreuen Kinde
des aufgeklärten Absolutismus. Dazu muß man nun ein
paar Dinge anmerken: Der Hallenser Professor Christoph Cellarius
erfand um 1685 den Begriff Medium Aevum, um die Zeit von Konstantin dem Großen bis zur
Eroberung Konstantinopels zu kennzeichnen. (wir heutigen haben uns dazu
durchgerungen, das Mittelalter von ca. 500 bis ca. 1500 zu periodisieren.)
Diese Neueinteilung von Geschichte durch Cellarius
wurde in weiteren Kreisen bekannt durch die Verbreitung seines Werkes Historia universalis
in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch seinen Schüler Struve. Sie wurde vor allem von den „Aufklärern“
enthusiastisch angenommen, die sich durch die Dreiteilung der Geschichte in
„helles“ Alterum (Man denke hier etwa an die begeisterte
Aufnahme von Winckelmanns „Monumenti antichi inediti“ von 1767 durch
die Aufklärer!), „dunkles“ Mittelalter und „aufgeklärte“ ‑ also wieder
erhellte (nicht etwa in modernem Sinne „aufgeklärte“ = vernünftige, vgl. Duden
Bd. 7 [Etymologie], Mannheim 1989, S. 347) Neuzeit in ihren Ansichten bestätigt
sahen. Nur war für sie die „Zeit der Dunkelheit“, die sie mit dem Mittelalter
gleichsetzten, die Zeit vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis auf ihre
eigene, also die Zeit der uneingeschränkten Herrschaft des Christentums in
Europa; denn die Aufklärung konnte ihre Feindschaft gegenüber dem Christentum
nicht leugnen und wollte das auch gar nicht: Das Christentum war für die
Aufklärer etwas Mittelalterliches. Deshalb war der „typische Aufklärer“ auch
nicht Christ, sondern Freimaurer. Deshalb auch die Bezeichnung
„mittelalterliche Hexenprozesse“ für etwas, das im Reich vor allem in den
Jahren 1500-1700, in der Hauptsache in den Jahren 1560-1640, stattgefunden
hatte, aber relativ selten im eigentlichen Mittelalter, wie wir spätestens seit
Richard Kieckheffers „European Witch Trials 1300-1500“ (1976) doch sehr genau wissen. Die
Aufklärer nannten oft also die Zeit unmittelbar vor der Aufklärung
„Mittelalter“, weil sie das Gefühl hatten, daß die
Zeit ihrer Eltern „mittelalterlich“ gewesen sei: Für den Aufklärer Friedrich
den Großen war dies die Zeit seines Vaters Friedrich Wilhelm I., für den
Aufklärer Joseph II. war dies die Zeit seiner Mutter Maria Theresia, deren „Constitutio criminalis Theresiana“ von 1767 auch sehr wohl die Folter kannte.
Deshalb wurde etwa von Friedrich II. sofort nach Regierungsantritt zwar die
institutionalisierte Folter der Constitutio Criminalis Carolina als etwas „Mittelalterliches“ abgeschafft,
aber da man auf Zwangsmittel zur Erhaltung von Zeugenaussagen durch Täter nicht
verzichten konnte - denn solche Zeugenaussagen waren in einer Zeit ohne
forensische Pathologie, ohne Daktyloskopie und ohne das Vergleichsmikroskop das
einzige Mittel, um den Tathergang erfahren zu können -, wurden Zwangsmittel
noch immer, und nun ohne strenge Regelungen, wie in der Constitutio
Criminalis Carolina, sondern nach Willkür des
Verhörenden, angewandt, und dies nicht nur im 18., sondern bis weit ins 19. Jahrhundert
hinein, sodaß man mindestens bis 1848 davon ausgehen muß, daß in Preußen und vielen
deutschen Bundesstaaten Aussagen von Tätern bei der Polizei auf die eine oder
andere Art erzwungen worden waren. (Vgl. Rudolf Augstein, Preußens Friedrich
und die Deutschen, Frankfurt am Main 1971, S. 141ff.) Die „Aufklärung“ war also
gar nicht so „aufgeklärt“, wie sie es gerne gewesen wäre, wie sie sich vor
allem selbst darstellt und wie wir alle es in der Schule gelernt haben! Ein
gutes Beispiel dafür ist eine Theorie, die in der Zeit der Aufklärung im
Schwange war, daß man Verbrechen nämlich eigentlich
so richtig nur mit ehemaligen Verbrechern bekämpfen könne, die man zuvor zu
Polizisten gemacht hatte: Das berühmteste Beispiel dazu ist wohl François Vidocq, der bis zum Jahre 1810 ein in ganz Frankreich
gesuchter Verbrecher und „Ausbrecherkönig“ war und der in jenem Jahre von Napoleon
zum ersten Direktor der „Surete“ gemacht wurde, jener
ersten wirklichen Kriminalpolizei der Welt, und es bis 1833 trotz der Restauration
von 1814/15 und der Revolution von 1830 auch blieb. In Deutschland gibt es aber
auch den „Konstanzer Hans“, einen Verbrecher aus Oberschwaben, der 1791 in die
Dienste des württembergischen Oberamtes in Sulz am Neckar trat, um seine
ehemaligen Kumpane zu bekämpfen, und der bekannt wurde durch die Abfassung
eines Rotwelschvokabulars, das in Friedrich Kluges „Rotwelsch“ (1901)
abgedruckt ist. Das Preußische Allgemeine Landrecht war nun zwar sehr viel „aufgeklärter“
als die Constitutio Criminalis
Carolina, aber die Anwendung von Zwangsmitteln war nicht mehr streng geregelt,
wie in jener, sondern quasi dem verhörenden Polizisten oder Richter überlassen,
und allgemein sollte man sich davor hüten, der Constitutio
Criminalis Carolina per se mit einem negativen und
dem „Landrecht“ mit einem positiven Vorurteil zu begegnen.
Der dritte Abschnitt behandelt auf S. 210ff. das im Prinzip
heute noch geltende Strafgesetzbuch von 1871ff. Geus
sagt uns in seinem dritten Teil, daß das
Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches im Jahre 1873 als Ersatz nicht nur für
das preußische Landrecht, sondern für alle deutschen Strafrechte der Zeit
deshalb eingeführt wurde, um nach 1871 die Rechtseinheit im neuen Deutschen
Reich herzustellen. Das war bestimmt die erste Sorge Bismarcks und Wilhelms I.,
aber auch dazu hätte man noch manches anmerken können: Denn seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts steckte das Polizei- und Justizwesen in Europa in
einer ernsten „Krise“, oder jedenfalls wurde es in jener Ära von den
Zeitgenossen so empfunden. (Vgl. J. Thorwald, Das Jahrhundert der
Detektive, München 1965, S. 17-22.) Nicht nur leitende Polizei- und
Justizkreise, auch die Öffentlichkeit hatte erkannt, daß
in einem System, das sich fast nur auf Zeugenaussagen stützte, es ein großes,
ungelöstes Problem gab, nämlich das der Zuverlässigkeit der Zeugen. Es ist nun
einmal so, daß das menschliche Gehirn nicht das
registriert, was tatsächlich geschieht, sondern das, von dem es überzeugt ist, daß es geschehen sei. Bei der Rekonstruktion von Ereignissen
können also Fehler geschehen, was im täglichen Leben vielleicht tolerierbar
wäre, nicht aber bei einem Prozeß über ein
Kapitalverbrechen. Identifikationen von Menschen etwa waren solch ein Problem,
das zu vielen Fehlurteilen führte. Ein von 1866-1874 anhängiger Prozeß in England um das Erbe von Lord Tichborne,
in dem ein Hochstapler von vielen Zeugen anhand von „sicheren“ körperlichen
Merkmalen „erkannt“ worden war, war solch ein Fall, in dem der Öffentlichkeit
die Unzuverlässigkeit von Zeugen deutlich vor Augen geführt wurde. Weil man
sich nun überall in Europa dieser Unzuverlässigkeit von Zeugen bewußt war, wurde etwa in Frankreich im Jahre 1879 von
Alphonse Bertillon die „Anthropometrie“
als einigermaßen zuverlässige Identifizierungsmethode eingeführt und bald von
anderen Ländern übernommen. In Großbritannien, wo man „französischen
Polizeimethoden“ eher abgeneigt war, zeigte der Fall der fünf Morde von „Jack the Ripper“ zwischen dem 6.
August und dem 9. November 1888 drastisch die Mängel im System auf: Man fand
nämlich an einem Tatort den Abdruck einer Hand und war später davon überzeugt, daß man den Täter damals identifiziert hätte, wenn es schon
ein Fingerabdrucksystem gegeben hätte. Die Daktyloskopie wurde aber erst im
Jahre 1900 im Vereinigten Königreich eingeführt und danach von anderen
europäischen Ländern als Ersatz für die unzuverlässigere Anthropometrie
übernommen.
Die allgemeine Unzufriedenheit der britischen Öffentlichkeit
mit ihrem Polizei- und Justizsystem findet übrigens auch ihren Ausdruck in der
ersten Serie der bekannten Geschichten um „Sherlock Holmes“, die von Arthur Conan Doyle zwischen 1887 und 1893 in der Zeitschrift
„Strand Magazine“ veröffentlicht wurden, denn in jenen zwei Romanen und 23
Kurzgeschichten wird „Scotland Yard“ ‑ die
Londoner Kriminalpolizei ‑ mit seinen „unwissenschaftlichen'“ Methoden
doch sehr hart kritisiert. (Der Rezensent ist der Meinung, daß
die Wissenschaft dann keine Berührungsängste mit der „Trivialliteratur“ haben
sollte, wenn diese Trivialliteratur eine wichtige Quelle für die geistige
Haltung einer bestimmten Epoche gegenüber bestimmten historischen Phänomenen
darstellt.) In Deutschland war man sich ebenso wie im übrigen
westlichen Europa der Tatsache einer Krise des Polizei- und Justizsystems bewußt, denn der „Mangel liegt im System“, wie ein anonymer
Autor damals sagte. (in: Hans Ostwald [Hrsg.], Im Sittenspiegel der
Großstadt, Bd. 4, Öffentliches und heimliches Berlin, Buch 2 [Berliner
Polizei], Berlin und Leipzig o. J. (ca. 1905), S. 74.) Man war sich in
Deutschland offenbar schon in den 1870er Jahren darüber im Klaren, daß das Polizei- und Justizsystem „ungenügend“ war. Nur so
kann man sich erklären, warum man 1873 ein „modernes“ Strafrecht einführte, das
die alten Rechte der deutschen Bundesstaaten reformierte und der Justiz in der
Zukunft die Möglichkeit gab, das Verbrechen besser bekämpfen zu können. Es ist
wahrscheinlich kein Zufall, daß gerade im Jahre 1871,
in dem man in Großbritannien ein Gesetz über die Registrierung von
Gewohnheitsverbrechern mit Hilfe der Photographie und von
Personalbeschreibungen einführte, auch in Deutschland mit der Reform der
Strafgesetze begonnen wurde. Eine neue Strafprozeßordnung
wurde am 1. Januar 1877 eingeführt, und bald erlaubten die Parapraphen
81a und 81b die Abnahme von Fingerabdrücken und die Anwendung der Anthropometrie: Die Einführung der Anthropometrie
erfolgte in den deutschen Bundesstaaaten übrigens in
den Jahren 1896 und 1897, die Einführung der Daktyloskopie 1903-1906. Dabei
spielte gerade nicht Preußen als der größte Bundesstaat die Vorreiterrolle,
sondern Sachsen, das zu dem gehörte, was man in Preußen ein bißchen
abschätzig als „süddeutsche Klein und Mittelstaaten“ bezeichnete. So wurden
allmählich in Europa vor dem ersten Weltkrieg das Polizeiwesen und das
Beweisrecht vor Gericht auf naturwissenschaftliche und damit objektive
Grundlagen gestellt, und man hatte endlich ein zuverlässiges Mittel gefunden
gegenüber dem Subjektivismus der Zeugenaussagen, die immer subjektiv sein
müssen, da sie von Menschen gemacht werden, die nun einmal subjektive Wesen
sind und bestimmte Vorlieben und Abneigungen haben, die immer in die Aussagen
hineinspielen.
Das verbindende Thema aller dieser drei Abschnitte von Geus’ Buch wäre also die Suche nach der materiellen
Wahrheit im Kriminalprozeß gewesen, denn die Wahrheit
herauszufinden ist nur möglich mit zuverlässigen Zeugen. Die Suche nach der
Zuverlässigkeit von Zeugen beginnt aber im 16. Jahrhundert mit der Constitutio Criminalis Carolina:
Die Constitutio Criminalis
Carolina löst das Problem mit der Folter, das Preußische Landrecht mit einer
abgemilderten Form der Befragung und neuartigen Polizeimethoden, das Reichsstrafgesetzbuch
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit naturwissenschaftlichen
Methoden.
Geus erkannte die allen drei
Werken innewohnende „Suche nach der materiellen Wahrheit“ leider nicht, was
Schade ist, weil so die gute Arbeit nicht zu einer noch besseren werden konnte.
Pforzheim Martin
Schüßler