Geus, Elmar, Mörder, Diebe, Räuber. Historische Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch. Scrîpvaz-Verlag Christof Krauskopf, Berlin 2002. 288 S.

 

Das Werk Geus’ ist in drei Abschnitte unterteilt, die sich mit den Bestimmungen für die Kapitalverbrechen Mord, Diebstahl und Raub in der „Constitutio Criminalis Carolina“ von 1532, dem „Preußischen Allgemeinen Landrecht“ von 1794 und dem „Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches“ von 1873 befassen.

 

Das verbindende Thema aller dieser drei Abschnitte wäre die Suche der Verfasser dieser Gesetzbücher nach der materiellen Wahrheit im Kriminalprozeß, somit der Suche nach dem „zuverlässigen Zeugen“, auf drei verschiedene Arten, nämlich mit der Folter in der Constitutio Criminalis Carolina, mit einer abgemilderten Form der Befragung im Preußischen Landrecht und mit naturwissenschaftlichen Methoden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen. Geus erkannte dies aber leider nicht und sagt uns deshalb nur, daß die Constitutio Criminalis Carolina zwar eingeführt wurde, weil man im Prozeß gemäß römischem Recht die Wahrheit ermitteln wollte, doch seine Ansichten zur Kriminalität und deren Bekämpfung vor der Constitutio Criminalis Carolina sind etwas fremdbestimmt; er sagt uns auch, daß das „Landrecht“ eingeführt wurde, weil die Aufklärung die Constitutio Criminalis Carolina als etwas nicht Zeitgemäßes ablehnte, ohne aber auf die Ideologie der Aufklärung und ihre Haltung gegenüber Justiz, Polizei und Verbrechen einzugehen, was die Sachlage doch sehr relativiert hätte; Geus sagt uns ebenso, daß das „Strafgesetzbuch“ verabschiedet wurde, um im Deutschen Reich nach 1871 Rechtseinheit zu erreichen, ohne daß er auf die Ansicht der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebenden Juristen eingegangen wäre, die in ihrer großen Mehrheit von einer „Krise“ des Polizei- und Justizsystems in ihrer Zeit sprachen. Geus hat also offenbar das Verbindende aller drei Gesetzeswerke, die Suche nach dem „zuverlässigen Zeugen“, leider nicht erkannt, und seine Erklärungen, warum es denn jeweils zur Reform des Bestehenden kam, gehen nicht genug in die Tiefe. Geus sagt hier manches Richtige, aber auch manches Falsche, und vor Allem verabsäumte er es, sein Werk unter das Thema '“Erhalten von objektiven Zeugenaussagen zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Mitteln“ - durch Folter (Constitutio Criminalis Carolina), durch „aufgeklärte“ Justizarbeit (Allgemeines Landrecht) und durch naturwissenschaftliche Methoden (Reichsstrafgesetzbuch) - zu stellen.

 

Der erste Abschnitt umfaßt die Seiten 13‑103 und behandelt die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 mit ihrer Vorgeschichte. Geus gibt uns hier die Erkenntnis, daß die Constitutio Criminalis Carolina im Heiligen Römischen Reich eingeführt wurde, weil man seit dem 15. Jahrhundert in einem Prozeß über einen Kriminalfall auf der Suche nach der materiellen Wahrheit war, also wissen wollte, was denn bei einem Verbrechen wirklich geschehen war und welche Motive der Täter gehabt hatte. Zu diesem Behufe verwendete die Constitutio Criminalis Carolina die Folter in den drei Graden der „einfachen Befragung“, der „Befragung unter Vorzeigen der Instrumente“ und der „Befragung unter Anwendung der Instrumente“. Im Gegensatz dazu war im Mittelalter in Deutschland die Folter etwas Unbekanntes, das man auch gar nicht benötigte, denn die im Mittelalter in Deutschland angewendeten Rechtsnormen aus den süddeutschen, sächsischen, lübisch-sächsischen und Magdeburg-Breslauer Rechtskreisen waren Rechte, die nur den Ausgleich zwischen den Parteien, zwischen Kläger und Beklagtem, erstrebten und nicht nach der Wahrheit suchten. So sagt Schmoeckel (Jus commune 1999, 124), daß die germanischen Rechte nur die „Glaubwürdigkeit“ von Täter und Opfer beurteilten, daß also nur der soziale Rang von Täter und Opfer entscheidend für die Rechtsfindung war (vgl. dazu Geus, S. 33/34). Im römischen Recht dagegen wurde vom Gericht die materielle Wahrheit gesucht, um die Tat bewerten und den Täter demgemäß bestrafen zu können. Auch waren die Gesetze des römischen Rechts für die Richter verpflichtend, und seit dem 15. Jahrhundert gab es unter den Juristen im Reich eine Richtung, die für den jeweiligen Richter verbindliche Gesetze erlassen wollte, die also für eine Angleichung von Rechtswirklichkeit und Rechtspraxis war. Das „Volk“ aber hatte andere Rechtsvorstellungen, wie Bulst in „Kriterien der Rechtsprechung“ (1999) darlegt. Die Einführung der Constitutio Criminalis Carolina war also nicht ganz so problemlos, wie es oft dargestellt wird. Trotzdem wurde seit 1532 in Deutschland der Täter vom „Staat“ - wenn man dieses Wort vielleicht auch erst für die Zeit nach dem 30jährigen Kriege benutzen sollte - wirklich „bestraft“ und nicht nur durch das Mittel der proscriptio nur auf Zeit vom Tatort entfernt und dazu gezwungen, das Opfer oder dessen  Hinterbliebene zu entschädigen. Dies scheint übrigens dazu geführt zu haben, daß die Verbrechensrate im 16. Jahrhundert bis zu einem gewissen  Grade zurückging. Die Einleitung Geus’ auf den Seiten 13‑20, in der er dies alles beschreibt, und seine methodischen Vorbemerkungen zur Quellengrundlage der Constitutio Criminalis Carolina von 1532 sind recht gut. Die Arbeit wäre überhaupt gelungen, wenn es nicht einige Kritikpunkte anzumerken gäbe, die doch einigermaßen wichtig sind und die der Arbeit etwas von ihrem Wert nehmen. Dies fängt an mit dem Titel: „Mörder, Diebe, Räuber“. Etwas reißerisch, vor allem, wenn man bedenkt, daß das Buch ja nicht vom Verbrechen handelt, sondern vom Strafrecht. Geus folgt in dieser Hinsicht aber unverkennbar Gerd Schwerhoff, der ja auch dafür bekannt ist, seinen Werken Titel zu geben, die dem Leser manchmal etwas seltsam erscheinen: So „Das Schwert des Damokles“ (1989), „Ein Blick vom Turm“ (1990), „Die groisse oeverswenckliche Costlicheyt zo messigen'“ (1990), „Köln im Kreuzverhör“ (1991) oder '“Mach, daß wir nicht in eine Schande geraten!“ (1993). „Köln im Kreuzverhör handelt übrigens von Verbrechen in Köln in den Jahren 1568-1572, 1588-1592 und 1608-1612, in einer Zeit also, als es im Reich nach Einführung der Constitutio Criminalis Carolina und des geheimen schriftlichen Prozesses der gelehrten Juristen keine mündliche Verhandlung und also auch kein Kreuzverhör mehr geben konnte. Auch bei anderen Dingen folgt Geus allzu sehr Schwerhoff: So auf S. 21, wo er von Schwerhoff den etwas sperrigen Begriff „Historische Kriminalitätsforschung“ übernimmt, den er an die Stelle des älteren, eingeführten und international verständlichen Begriffs „Historische Kriminologie“ setzt. Schwerhoff benutzte diesen Neologismus schon im „Blick vom Turm“ (1990) und auch in „Köln im Kreuzverhör“ (1991), wobei man sich fragt, warum Schwerhoff sich hier gegen Radbruchs und Gwinners Verwendung des Wortes „historische Kriminologie“ in der Einleitung der „Geschichte des Verbrechens“ (1951) und Baders Terminologie in dessen Aufsatz „Aufgaben, Methoden und Grenzen einer historischen Kriminologie“ (1956) wendet. Denn der Begriff „historische Kriminologie“ ist ja nicht unverständlich oder missverständlich. Die Frage muß also gestattet sein, warum Geus hier Schwerhoff bis in die einzelnen Formulierungen hinein folgt. Dies beschränkt sich übrigens nicht nur auf die Verwendung des Begriffes „historische Kriminalitätsforschung“, sondern erfolgt auch in der Verwendung der Begriffe „Devianzt“ und „Delinquenz“ an Stelle von „Kriminalität“. Diese Euphemismen verwendet Schwerhoff sowohl in „Köln im Kreuzverhör“ (1991) als auch in „Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft“ (1992). Auch hier muß man anmerken, daß der Begriff „Verbrechen“ schärfer ist als das schwammige „Delinquenz“ oder gar das euphemistische „Devianz“. Andererseits aber hat Geus Schwerhoffs „Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft“ offenbar doch nicht so genau gelesen, denn dort wird auf S. 388 gefordert, daß sich die Forschung eher der Rechtspraxis als der Rechtswirklichkeit in Mittelalter und Frühneuzeit zuwenden sollte. Geus erforscht aber allein die „Rechtswirklichkeit“, d. h. den Wortlaut der Gesetze, und nicht die Rechtspraxis. Nun mag es ja sein, daß mit Einführung der Constitutio Criminalis Carolina und des geheimen schriftlichen Prozesses durch die gelehrten Juristen 1532 die Unterschiede zwischen Rechtswirklichkeit und Rechtspraxis im Reich kleiner wurden. Aber man hätte sich doch gewünscht, daß diese allgemein in Forscherkreisen geglaubte Theorie auch anhand einer Untersuchung nachgewiesen worden wäre. Diese große Chance hat Geus vertan. In seiner auf S. 22 erhobenen Forderung nach „qualitativer Betrachtung der Quellen“ (also der Forderung nach subjektiver impressionistischer Einzelfallbetrachtung anstelle der objektiven Quantifizierung von vielen Fällen) folgt Geus wieder allzusehr Schwerhoff nach. Dabei sollte hier vielleicht angemerkt werden, daß die englischen Begriffe „quantitative/qualitative analysis“ aus der Chemie stammen und ursprünglich mit Geschichte gar nichts zu tun haben. Auf S. 22 schreibt Geus sogar fast von Schwerhoff ab, wenn er etwa behauptet, daß in jüngerer Zeit die „qualitative Forschung ... an die Stelle der quantitativen“ trat. Diese Behauptung Schwerhoffs aus „Devianz“ (S. 406) ist offenbar eine von Geus unüberprüfte, die so auch nicht stimmt. Geus wendet sich sogar, offenbar ohne sich dessen bewußt zu sein, gegen den Impressionismus, wenn er auf S. 25 sagt, daß ein Forscher oft fälschlicherweise „das Außergewöhnliche'“ für das „Typische“ halte, einfach deshalb übrigens, weil der Forscher sich nach dem Durchlesen der Quelle an dieses Außergewöhnliche noch erinnern kann, an das Alltägliche dagegen nicht. Daß die Quellenlage nur Städte im Reich zur Betrachtung der Kriminalität in ihnen zuläßt, ist schlichtweg falsch: Der Rezensent verweist hierzu etwa auf Herta Mandl-Neumanns Aufsatz über das Verbrechen im ländlichen Krems in Oberösterreich (1983).

 

Im zweiten Abschnitt behandelt Geus auf den Seiten 104‑209 das „Preußische Allgemeine Landrecht“ von 1794. Geus vermittelt hier die Erkenntnis, daß das preußische Landrecht, 1780 von Friedrich II. in einer Kabinettsordre konzipiert, im Jahre 1794 als Ersatz für die Constitutio Criminalis Carolina eingeführt wurde, weil die Aufklärung die „barbarischen“ Ermittlungsmethoden und Strafen der Frühneuzeit ablehnte. Die „Rationalisierung des Rechts“ durch die Aufklärung führte also zur Abkehr von der Constitutio Criminalis Carolina. So wissen wir es auch alle noch aus der Schule, jenem getreuen Kinde des aufgeklärten Absolutismus. Dazu muß man nun ein paar Dinge anmerken: Der Hallenser Professor Christoph Cellarius erfand um 1685 den Begriff Medium Aevum, um die Zeit von Konstantin dem Großen bis zur Eroberung Konstantinopels zu kennzeichnen. (wir heutigen haben uns dazu durchgerungen, das Mittelalter von ca. 500 bis ca. 1500 zu periodisieren.) Diese Neueinteilung von Geschichte durch Cellarius wurde in weiteren Kreisen bekannt durch die Verbreitung seines Werkes Historia universalis in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch seinen Schüler Struve. Sie wurde vor allem von den „Aufklärern“ enthusiastisch angenommen, die sich durch die Dreiteilung der Geschichte in „helles“ Alterum (Man denke hier etwa an die begeisterte Aufnahme von Winckelmanns „Monumenti antichi inediti“ von 1767 durch die Aufklärer!), „dunkles“ Mittelalter und „aufgeklärte“ ‑ also wieder erhellte (nicht etwa in modernem Sinne „aufgeklärte“ = vernünftige, vgl. Duden Bd. 7 [Etymologie], Mannheim 1989, S. 347) Neuzeit in ihren Ansichten bestätigt sahen. Nur war für sie die „Zeit der Dunkelheit“, die sie mit dem Mittelalter gleichsetzten, die Zeit vom Zusammenbruch des Römischen Reiches bis auf ihre eigene, also die Zeit der uneingeschränkten Herrschaft des Christentums in Europa; denn die Aufklärung konnte ihre Feindschaft gegenüber dem Christentum nicht leugnen und wollte das auch gar nicht: Das Christentum war für die Aufklärer etwas Mittelalterliches. Deshalb war der „typische Aufklärer“ auch nicht Christ, sondern Freimaurer. Deshalb auch die Bezeichnung „mittelalterliche Hexenprozesse“ für etwas, das im Reich vor allem in den Jahren 1500-1700, in der Hauptsache in den Jahren 1560-1640, stattgefunden hatte, aber relativ selten im eigentlichen Mittelalter, wie wir spätestens seit Richard Kieckheffers „European Witch Trials 1300-1500“ (1976) doch sehr genau wissen. Die Aufklärer nannten oft also die Zeit unmittelbar vor der Aufklärung „Mittelalter“, weil sie das Gefühl hatten, daß die Zeit ihrer Eltern „mittelalterlich“ gewesen sei: Für den Aufklärer Friedrich den Großen war dies die Zeit seines Vaters Friedrich Wilhelm I., für den Aufklärer Joseph II. war dies die Zeit seiner Mutter Maria Theresia, deren „Constitutio criminalis Theresiana“ von 1767 auch sehr wohl die Folter kannte. Deshalb wurde etwa von Friedrich II. sofort nach Regierungsantritt zwar die institutionalisierte Folter der Constitutio Criminalis Carolina als etwas „Mittelalterliches“ abgeschafft, aber da man auf Zwangsmittel zur Erhaltung von Zeugenaussagen durch Täter nicht verzichten konnte - denn solche Zeugenaussagen waren in einer Zeit ohne forensische Pathologie, ohne Daktyloskopie und ohne das Vergleichsmikroskop das einzige Mittel, um den Tathergang erfahren zu können -, wurden Zwangsmittel noch immer, und nun ohne strenge Regelungen, wie in der Constitutio Criminalis Carolina, sondern nach Willkür des Verhörenden, angewandt, und dies nicht nur im 18., sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, sodaß man mindestens bis 1848 davon ausgehen muß, daß in Preußen und vielen deutschen Bundesstaaten Aussagen von Tätern bei der Polizei auf die eine oder andere Art erzwungen worden waren. (Vgl. Rudolf Augstein, Preußens Friedrich und die Deutschen, Frankfurt am Main 1971, S. 141ff.) Die „Aufklärung“ war also gar nicht so „aufgeklärt“, wie sie es gerne gewesen wäre, wie sie sich vor allem selbst darstellt und wie wir alle es in der Schule gelernt haben! Ein gutes Beispiel dafür ist eine Theorie, die in der Zeit der Aufklärung im Schwange war, daß man Verbrechen nämlich eigentlich so richtig nur mit ehemaligen Verbrechern bekämpfen könne, die man zuvor zu Polizisten gemacht hatte: Das berühmteste Beispiel dazu ist wohl François Vidocq, der bis zum Jahre 1810 ein in ganz Frankreich gesuchter Verbrecher und „Ausbrecherkönig“ war und der in jenem Jahre von Napoleon zum ersten Direktor der „Surete“ gemacht wurde, jener ersten wirklichen Kriminalpolizei der Welt, und es bis 1833 trotz der Restauration von 1814/15 und der Revolution von 1830 auch blieb. In Deutschland gibt es aber auch den „Konstanzer Hans“, einen Verbrecher aus Oberschwaben, der 1791 in die Dienste des württembergischen Oberamtes in Sulz am Neckar trat, um seine ehemaligen Kumpane zu bekämpfen, und der bekannt wurde durch die Abfassung eines Rotwelschvokabulars, das in Friedrich Kluges „Rotwelsch“ (1901) abgedruckt ist. Das Preußische Allgemeine Landrecht war nun zwar sehr viel „aufgeklärter“ als die Constitutio Criminalis Carolina, aber die Anwendung von Zwangsmitteln war nicht mehr streng geregelt, wie in jener, sondern quasi dem verhörenden Polizisten oder Richter überlassen, und allgemein sollte man sich davor hüten, der Constitutio Criminalis Carolina per se mit einem negativen und dem „Landrecht“ mit einem positiven Vorurteil zu begegnen.

 

Der dritte Abschnitt behandelt auf S. 210ff. das im Prinzip heute noch geltende Strafgesetzbuch von 1871ff. Geus sagt uns in seinem dritten Teil, daß das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches im Jahre 1873 als Ersatz nicht nur für das preußische Landrecht, sondern für alle deutschen Strafrechte der Zeit deshalb eingeführt wurde, um nach 1871 die Rechtseinheit im neuen Deutschen Reich herzustellen. Das war bestimmt die erste Sorge Bismarcks und Wilhelms I., aber auch dazu hätte man noch manches anmerken können: Denn seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steckte das Polizei- und Justizwesen in Europa in einer ernsten „Krise“, oder jedenfalls wurde es in jener Ära von den Zeitgenossen so empfunden. (Vgl. J. Thorwald, Das Jahrhundert der Detektive, München 1965, S. 17-22.) Nicht nur leitende Polizei- und Justizkreise, auch die Öffentlichkeit hatte erkannt, daß in einem System, das sich fast nur auf Zeugenaussagen stützte, es ein großes, ungelöstes Problem gab, nämlich das der Zuverlässigkeit der Zeugen. Es ist nun einmal so, daß das menschliche Gehirn nicht das registriert, was tatsächlich geschieht, sondern das, von dem es überzeugt ist, daß es geschehen sei. Bei der Rekonstruktion von Ereignissen können also Fehler geschehen, was im täglichen Leben vielleicht tolerierbar wäre, nicht aber bei einem Prozeß über ein Kapitalverbrechen. Identifikationen von Menschen etwa waren solch ein Problem, das zu vielen Fehlurteilen führte. Ein von 1866-1874 anhängiger Prozeß in England um das Erbe von Lord Tichborne, in dem ein Hochstapler von vielen Zeugen anhand von „sicheren“ körperlichen Merkmalen „erkannt“ worden war, war solch ein Fall, in dem der Öffentlichkeit die Unzuverlässigkeit von Zeugen deutlich vor Augen geführt wurde. Weil man sich nun überall in Europa dieser Unzuverlässigkeit von Zeugen bewußt war, wurde etwa in Frankreich im Jahre 1879 von Alphonse Bertillon die „Anthropometrie“ als einigermaßen zuverlässige Identifizierungsmethode eingeführt und bald von anderen Ländern übernommen. In Großbritannien, wo man „französischen Polizeimethoden“ eher abgeneigt war, zeigte der Fall der fünf Morde von „Jack the Ripper“ zwischen dem 6. August und dem 9. November 1888 drastisch die Mängel im System auf: Man fand nämlich an einem Tatort den Abdruck einer Hand und war später davon überzeugt, daß man den Täter damals identifiziert hätte, wenn es schon ein Fingerabdrucksystem gegeben hätte. Die Daktyloskopie wurde aber erst im Jahre 1900 im Vereinigten Königreich eingeführt und danach von anderen europäischen Ländern als Ersatz für die unzuverlässigere Anthropometrie übernommen.

 

Die allgemeine Unzufriedenheit der britischen Öffentlichkeit mit ihrem Polizei- und Justizsystem findet übrigens auch ihren Ausdruck in der ersten Serie der bekannten Geschichten um „Sherlock Holmes“, die von Arthur Conan Doyle zwischen 1887 und 1893 in der Zeitschrift „Strand Magazine“ veröffentlicht wurden, denn in jenen zwei Romanen und 23 Kurzgeschichten wird „Scotland Yard“ ‑ die Londoner Kriminalpolizei ‑ mit seinen „unwissenschaftlichen'“ Methoden doch sehr hart kritisiert. (Der Rezensent ist der Meinung, daß die Wissenschaft dann keine Berührungsängste mit der „Trivialliteratur“ haben sollte, wenn diese Trivialliteratur eine wichtige Quelle für die geistige Haltung einer bestimmten Epoche gegenüber bestimmten historischen Phänomenen darstellt.) In Deutschland war man sich ebenso wie im übrigen westlichen Europa der Tatsache einer Krise des Polizei- und Justizsystems bewußt, denn der „Mangel liegt im System“, wie ein anonymer Autor damals sagte. (in: Hans Ostwald [Hrsg.], Im Sittenspiegel der Großstadt, Bd. 4, Öffentliches und heimliches Berlin, Buch 2 [Berliner Polizei], Berlin und Leipzig o. J. (ca. 1905), S. 74.) Man war sich in Deutschland offenbar schon in den 1870er Jahren darüber im Klaren, daß das Polizei- und Justizsystem „ungenügend“ war. Nur so kann man sich erklären, warum man 1873 ein „modernes“ Strafrecht einführte, das die alten Rechte der deutschen Bundesstaaten reformierte und der Justiz in der Zukunft die Möglichkeit gab, das Verbrechen besser bekämpfen zu können. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß gerade im Jahre 1871, in dem man in Großbritannien ein Gesetz über die Registrierung von Gewohnheitsverbrechern mit Hilfe der Photographie und von Personalbeschreibungen einführte, auch in Deutschland mit der Reform der Strafgesetze begonnen wurde. Eine neue Strafprozeßordnung wurde am 1. Januar 1877 eingeführt, und bald erlaubten die Parapraphen 81a und 81b die Abnahme von Fingerabdrücken und die Anwendung der Anthropometrie: Die Einführung der Anthropometrie erfolgte in den deutschen Bundesstaaaten übrigens in den Jahren 1896 und 1897, die Einführung der Daktyloskopie 1903-1906. Dabei spielte gerade nicht Preußen als der größte Bundesstaat die Vorreiterrolle, sondern Sachsen, das zu dem gehörte, was man in Preußen ein bißchen abschätzig als „süddeutsche Klein und Mittelstaaten“ bezeichnete. So wurden allmählich in Europa vor dem ersten Weltkrieg das Polizeiwesen und das Beweisrecht vor Gericht auf naturwissenschaftliche und damit objektive Grundlagen gestellt, und man hatte endlich ein zuverlässiges Mittel gefunden gegenüber dem Subjektivismus der Zeugenaussagen, die immer subjektiv sein müssen, da sie von Menschen gemacht werden, die nun einmal subjektive Wesen sind und bestimmte Vorlieben und Abneigungen haben, die immer in die Aussagen hineinspielen.

 

Das verbindende Thema aller dieser drei Abschnitte von Geus’ Buch wäre also die Suche nach der materiellen Wahrheit im Kriminalprozeß gewesen, denn die Wahrheit herauszufinden ist nur möglich mit zuverlässigen Zeugen. Die Suche nach der Zuverlässigkeit von Zeugen beginnt aber im 16. Jahrhundert mit der Constitutio Criminalis Carolina: Die Constitutio Criminalis Carolina löst das Problem mit der Folter, das Preußische Landrecht mit einer abgemilderten Form der Befragung und neuartigen Polizeimethoden, das Reichsstrafgesetzbuch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit naturwissenschaftlichen Methoden.

 

Geus erkannte die allen drei Werken innewohnende „Suche nach der materiellen Wahrheit“ leider nicht, was Schade ist, weil so die gute Arbeit nicht zu einer noch besseren werden konnte.

 

Pforzheim                                                                                                         Martin Schüßler