Gesetz und Gesetzgebung im Europa
der Frühen Neuzeit, hg. v. Dölemeyer, Barbara/Klippel, Diethelm (= Zeitschrift für Historische Forschung
Beiheft 22). Duncker & Humblot,
Berlin 1998, 286 S.
Die Entstehung der modernen
Staatlichkeit seit der frühen Neuzeit ist in grundlegender Weise mit Gesetz und
Gesetzgebung verknüpft - staatstheoretisch vor allem über die Souveränitätslehre
Jean Bodins,
der in der Gesetzgebungskompetenz das entscheidende Merkmal staatlicher
Souveränität sah, praktisch-administrativ, weil Rechtsetzung und Gesetzgebung
seit der frühen Neuzeit in immer stärkerem Maße von Monarchen und Fürsten als
Akte ihrer Herrschaftsausübung in Anspruch genommen werden bis hin zur
absolutistisch-naturrechtlichen Kodifikationsbewegung im 18. Jahrhundert.
Allerdings: Nicht gesagt ist damit, dass die praktisch-historische Situation
der Gesetzgebung stets oder auch nur zu allermeist dem theoretisch formulierten
absolutistischer Souveränitätsanspruch entspricht. - Das
bildet die Rahmenthematik der im vorliegenden Sammelband vereinigten zwölf
Vorträge, die anlässlich eines Symposiums am 9./10. März 1995 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel gehalten wurden.
Der zeitliche Schwerpunkt der Beiträge liegt im 16./17. Jahrhundert, zum Teil
greifen sie, den Zeitrahmen der Frühen Neuzeit auch unter dem Gesichtspunkt von
Kontinuität bzw. Diskontinuität recht weit dehnend, über das 18. bis ins 19.
Jahrhundert aus. Den räumlichen Kontext bilden West- und Südeuropa einerseits
(S. 17-80), das Deutsche Reich und die Territorien andererseits (S. 81-197).
Drei abschließende Vorträge widmen sich der Gesetzgebungstheorie und
Kodifikation (S. 201-273). Autorenverzeichnis, Personen- und Sachregister
beschließen den Band.
West- und Südeuropa. Der Gesetzgebung, Rechtsetzung und Rechtsfortbildung zwischen
König, Parlament und Gerichten im frühneuzeitlichen England geht Günther
Lottes nach (Souveränität, Recht
und Gesetzgebung im England des 16. Jahrhunderts, S. 17-32). Aufgezeigt werden
drei unterschiedliche königliche Rechtsetzungsmöglichkeiten: Parlamentsgesetze,
Proklamationen, Rechtsfortbildung durch Prärogativgerichtshöfe.
Im Parlamentsgesetz (Statute) drückt sich königliche Souveränität nicht als die
des rex solus, sondern
als des King-in-Parliament aus. Freilich fungiert,
wie Lottes zeigt, dieses
Parlament wenigstens bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend als
Gesetzgebungsinstrument der Krone. Demgegenüber bringen Proklamationen die
eigene Machtvollkommenheit des Königs zum Ausdruck, die sich oftmals (und damit
im Gegensatz zu rechtsändernden Parlamentsgesetzen) darauf beschränkt,
bestehende Gesetze auszuführen. Wo dies nicht der Fall ist, setzen Leben und
Eigentum (in der Wirtschafts- und Polizeigesetzgebung durchaus fließende)
Grenzen für die königlichen Proklamationen. In besonderer Weise trat seit dem
späten 15. Jahrhundert königliche Rechtsbildung (der König als fons iustitiae)
durch die sich vom Common Law lösende Equity-Rechtsprechung des königlichen Kanzleigerichts (Court
of Chancery) hervor.
- Die beiden Beiträge zur französischen Rechtsgeschichte behandeln die
unterschiedlichen Formen der Gesetzgebung im Ancien
Regime, insbesondere die Schwierigkeiten, auch nur terminologisch (ordonnances, édits, déclarations, codes, mandements etc.) eine klare Zuordnung der
Rechtssetzungsakte zu erreichen (Albert Cremer, Die Gesetzgebung im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts, S.
33-53). Sodann geht es um die Lehre von Sinn und Funktion des Gesetzes (Simone
Goyord‑Fabre, La rationalisation de la loi en France au XVIIIe siècle,
S. 55-70). Deutlich wird auch hier, dass selbst in Frankreich die Lehre von der
Souveränität (im Sinne des Absolutismus) keineswegs dazu führte anzunehmen,
dass das Wort des Königs tatsächlich Recht bedeutet hat und er der Herr des
Gesetzes war. Vielfältig sind die Forschungslücken zu Fragen der Effektivität
und des Wirksamwerdens von Gesetzen zwischen deren Erlass durch den König
(Regierung) und ihrer vérification (der Prüfung ihrer Übereinstimmung mit
der bestehenden Rechtslage) durch die souveränen Gerichtshöfe. - Wichtige
Anstöße zu weiteren Forschungen insbesondere auch auf dem Feld der europäischen
Privatrechtsgeschichte vermittelt der Vortrag Aldo Mazzacanes (Jus commune, Gesetzgebung und
Interpretation der höchsten Gerichtshöfe im Werk des De Luca, S. 71-80).
Aufgeworfen ist die Frage der Rechtsgeltung und Rechtsinterpretation, nachdem
seit dem 16./17. Jahrhundert „der Primat des römischen Rechts ... gänzlich
untergegangen (war)“ ‑ so De Luca (1614-1683). Ausgehend von einer
scharfen Analyse der zeitgenössischen Rechtszustände wird die Bedeutung des
fundiert ausgebildeten, gelehrten Rechtspraktikers hervorgehoben, und dabei vor
allem die entscheidende Rolle, die den decisiones der
höchsten Gerichte für die Konkretisierung und Auslegung des oft schwankenden
und strittigen Rechts zukommt, betont - in Ergänzung und Modifizierung der voluntas principis durch
Gewohnheit und Praxis. Damit ist das vielleicht wesentlichste Problemfeld der
Zeit des so genannten Usus modernus in Europa
umrissen: Rechtsgeltung, Rechtssetzung und Rechtswissenschaft im Spannungsfeld
zwischen ius commune, fürstlichem
Gesetzgebungsrecht und wissenschaftlicher Rechtspraxis.
Das Deutsche Reich und die
Territorien. Als Fortführung dieses Themas
besonders interessant ist der Beitrag Gottfried Schiemanns zur deutschen Situation der Privatrechtsgesetzgebung
im 16.-18. Jahrhundert (Usus modernus und
Gesetzgebung, S. 157-170). Auslösend für die Stadt- und Landrechtsreformationen
dieser Zeit war nicht die Geltendmachung oder gar Durchsetzung eines aus der
Souveränitätsdoktrin abgeleiteten Gesetzgebungsmonopols, sondern die mit Beginn
des 16. Jahrhunderts vollzogene Rezeption des gelehrten Rechts - mit der Folge
eines für die Rechtspraxis oft kaum entwirrbaren Nebeneinanders von gemeinen
und lokalen Rechten, die ihrerseits (insbesondere das römische Recht) von
gelehrten Streitfragen durchzogen waren. Über die Differentienliteratur
und die typologisch unterschiedlichen gesetzgeberischen Maßnahmen („Lehrbuch
mit Gesetzeskraft“ und „Entscheidungen zweifelhafter Rechtsfragen“) soll ein ius certum formuliert
werden. Schiemann verfolgt dieses Anliegen
insbesondere am Beispiel des Württembergischen Landrechts (1555) und an den
Kursächsischen Konstitutionen (1572). Dabei wird zu Recht darauf hingewiesen,
und das schlägt die Verbindung zu Mazzacanes Vortrag, dass die aufgeworfenen
Überlegungen auf ein wissenschaftliches noch kaum bearbeitetes Feld führen.
Denn es ist bezeichnend, dass die beschriebene Entwicklung nicht von den
Wissenschaftlern als Gelehrten, sondern in ihrer Tätigkeit als Praktiker, als
Mitglieder höchster Gerichte und Dikasterien
ausgelöst und voran getrieben wird. So deuten die
beiden Beiträge an, dass „Gesetzgebung“ zur Zeit des Usus modernus
ohne Einbeziehung der höchsten Gerichtshöfe und Spruchkörper eines Landes,
deren „verfasssungsrechtlicher“ Stellung, der
Verbindung zur Wissenschaft und zum rezipierten
gelehrten Recht kaum adäquat erfasst und beschrieben werden kann. - Die
verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen im Reich für Gesetze und Gesetzgebung
des Reichs thematisiert Heinz Mohnhaupt (S. 83-108). Diese
Koordinaten („Kaiser und Reich“) haben, wie Mohnhaupt vor allem an den Wahlkapitulationen
seit 1519 zeigt, nicht nur Bedeutung für die sich zunehmend verringernden iura reservata illimitata des Kaisers, sondern ebenso für die
Rechtsnatur und Normativität der Reichsgesetze als Verträge zwischen Kaiser und
Ständen. Hieraus erklären sich sowohl die Schwerfälligkeit der Gesetzgebung im
Reichstag wie der oft schleppende Fortgang von Prozessen vor dem
Reichskammergericht. Denn die Zuständigkeit für eine authentische
Interpretation (weil zur potestas legislatoria gehörend)
fehlt. Vor dem Hintergrund dieser Verfassungswirklichkeit war die praktische
Umsetzung der lange vor dem Kodifikationsstreit des frühen 19. Jahrhunderts
erhobenen Forderung nach einem gesetzlich gefassten, allgemeinen Privatrecht
schon in den Augen der Zeitgenossen zum Scheitern verurteilt. - Anhand von
vertikalen und horizontalen Bezugnahmen und Verschränkungen einzelner
„Landrechte“ und „Ordnungen“ zeigt Wilhelm Brauneder das legistische Bemühen um die planvolle
Herstellung einer Gesamtrechtsordnung in den habsburgischen Ländern auf
(Frühneuzeitliche Gesetzgebung: Einzelaktion oder Wahrung einer
Gesamtrechtsordnung?, S. 109-129) - freilich mit dem Ergebnis, dass es dazu
angesichts des rasch fortschreitenden gesetzlichen Änderungsbedarfs letztlich
nicht gekommen ist. - Am Beispiel der „Verneuerten
Landesordnung“ Ferdinands II. für Böhmen (1627) geht Johannes Kunisch auf
die Rolle und die herausragende Bedeutung der Konfessionalisierung für die
Ausbildung absolutistischer Gesetzgebungsmodelle und damit zugleich für die
moderne Staatenbildung ein (Staatsräson und Konfessionalisierung als Faktoren
absolutistischer Gesetzgebung, S. 131-156). Jedenfalls in Ergänzung zur
Auffassung, wonach sich die frühmoderne Staatlichkeit maßgeblich auf eine
Säkularisierung und konfessionelle Neutralität stütze, ist zumindest für die
Frühphase dieser Entwicklung die Verzahnung von absolutistisch die Recht der
Stände beschneidenden Strukturen und einer strikten Konfessionalisierung
unabweisbar. - Der Umsetzung einer absolutistisch-wohlfahrtstaatlich
orientierten Regierungs- und Gesetzgebungsvorstellung
in der täglichen Verwaltungspraxis geht André Holenstein am Beispiel der badischen Rügegerichte
im 18. Jahrhundert nach (Gesetzgebung und administrative Praxis im Staat des Ancien Regime, S. 171-197). Hier wird besonders deutlich,
welche Kluft zwischen der theoretischen Formulierung der Souveränität im Sinne Bodins und der
tatsächlich historischen Situation der administrativen Praxis in den Gemeinden
lag.
Gesetzgebungstheorie und
Kodifikation. Einen Bogen von den praktischen,
vielfach insbesondere auf Hebung der ökonomischen Bedingungen und Zustände
abstellenden Gesetzgebungsbemühungen der deutschen Territorien im 18.
Jahrhundert (Hessen, Baden, Hannover, Mecklenburg, Sachsen) zur Formulierung
erster theoretischer Gesetzgebungs- und
Kodifikationspläne in der Zeit vor 1780 schlägt Barbara Dölemeyer (Kodifikationspläne in deutschen
Territorien des 18. Jahrhunderts, S. 201-223). Drei Beobachtungen erscheinen
dabei besonders hervorhebenswert: einmal das weitgehend bestehende
Forschungsdefizit in den Ländern jenseits der Exponenten der
Kodifikationsbemühungen (Bayern, Preußen, Österreich), sodann die allmähliche
Herausbildung einer Gesetzgebungstheorie, die vom absolutistisch formulierten
Ziel der Verfolgung des staatlichen bonum commune neben
dem technischen Kodifikationsgedanken auch das individuelle Wohl der Untertanen
verfolgt und schließlich die Erkenntnis, dass der so genannte
Kodifikationsstreit des frühen 19. Jahrhunderts in eine seit langem praktisch
wie theoretisch andauernde Auseinandersetzung mit der Kodifikationsidee
verortet werden muss (zur Frage, ob dahinter auch eine „Kontinuität“ steckt,
vgl. vor allem Caroni im Anschluss). - Deutlich wird die Fortschreibung des Kodifikationsgedankens
vom absolutistisch-bevormundenden Regelungsinstrument
zur Umsetzung neu ausgerichteter naturrechtlicher Staatszwecke (Schutz von
Individualgütern) in Diethelm Klippels Beitrag (Die Philosophie der
Gesetzgebung, S. 225-247). Dieses inhaltlich neu definierte Gesetzgebungsziel
lässt die Naturrechtstradition des 18. Jahrhunderts in einer Wissenschaft oder
Philosophie der Gesetzgebung (ungeachtet der Lehre der Historischen
Rechtsschule) bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts fortwirken. Der
Bedeutungsverlust der naturrechtlich geprägten Gesetzgebungslehre tritt nach Klippel ein,
als nach der Jahrhundertmitte die politische Theorie des Vormärz
(Konstitutionalismus, Liberalismus) ihre Leitbildfunktion für Staat und Politik
(des Reichs) verliert. - Den Abschluss bilden Pio
Caronis Überlegungen
zu den Grundanliegen bürgerlicher Privatrechtskodifikationen (S. 249-273). Im
Mittelpunkt des Beitrages steht die Bedeutung des aus dem kritischen Naturrecht
und dem Liberalismus erwachsenen Fundamentalsatzes der (formellen) Gleichheit
aller Bürger - rechtlich ausgeformt in der allgemeinen Rechtsfähigkeit und der
jedem Privatrechtssubjekt zugestandenen (und abgeforderten) Privatautonomie:
die Kodifikation als Ausdruck einer rechtlich abstrakt-egalitären Einheit der
Gesellschaft. Damit verbunden war die (privat-)rechtliche Entwertung der auch
nach Aufgabe der Ständeordnung immer noch vorhandenen sozialen und ökonomischen
Ungleichheiten (formelle Gleichheit als Funktion der materiellen Ungleichheit).
Zu Recht skeptisch äußerst sich Caroni unter diesem Gesichtspunkt zur Frage
der Kontinuität der Kodifikationsbemühung seit dem späten 16. Jahrhundert.
Zusammenfassend lässt sich sagen,
dass die Beiträge in ihren jeweils einzelnen Aussagen wie in ihrem
Zusammenwirken eine Vielzahl neuer Anstöße geben und auf Querverbindungen
verweisen, die manch gängige Position mit einem Fragezeichen versehen (etwa:
Theorie, Praxis und Effektivität von Gesetzgebung; absolutistische Gesetzgebung
als staatstheoretisches Programm und reale Rechtsbildung; naturrechtliche
Gesetzgebungslehre auch nach dem Kodifikationsstreit zwischen Thibaut und Savigny).
Gießen Martin
Lipp