Die Armenfürsorge im mittelalterlichen
Island ist bisher schon Gegenstand von Darstellungen
gewesen. Zu nennen sind so bedeutende
Namen wie Konrad Maurer, Karl von Amira, Alfred Schultze und Hans
Kuhn. Der Verfasser, ein Schüler Klaus von Sees, unternimmt den Versuch,
auf dem Hintergrund historischer Armenforschung in Kontinentaleuropa die isländischen
Verhältnisse einer genaueren Analyse zu unterziehen.
Nach einer Einleitung, in der er seine
Hauptquellen, die Rechtstexte und die Sagaliteratur Revue passieren läßt,
wendet er sich den Ursachen und dem Ausmaß materieller Armut im Mittelalter zu.
Er stellt die Verhältnisse auf dem Kontinent und schließlich auch im
mittelalterlichen Island dar. Das 3. Kapitel widmet er der
Versorgungswürdigkeit der Armen in der mittelalterlichen Gesellschaft. Erst das
4. Kapitel untersucht die isländische Terminologie, allen voran ómagi, framfœrslumaðr, fátœkr und ala. Das 5. Kapitel ist dann den
Institutionen der mittelalterlichen Armenpflege gewidmet, für die auf Island
der hreppr steht. Die wörtliche
Übersetzung dieses Begriffs ist streitig: Ursprünglich eine Anzahl benachbarter
Bauernhöfe meinend, hat er sich später zur Landgemeinde, zum Gemeindebezirk
entwickelt. Ganz zum Schluß seiner Arbeit kommt der Verfasser dann auch auf den
Armenzehnt und seine Verwaltung durch den hreppr
zu sprechen und damit auch auf das Verhältnis der isländischen Armenverwaltung
zur Kirche.
In der
Einleitung mustert der Verfasser seine Quellen. Eine kritische Bemerkung Andreas
Heuslers in seiner Einleitung zur Grágásübersetzung nimmt er zum Anlaß, den
Quellenwert der Grágás überhaupt in Zweifel zu ziehen und ihr „einen
kasuistisch-konstruierenden Charakter“ zu
bescheinigen. Solche Pauschalaussagen sind wenig hilfreich, denn der
nachfolgende Text zweifelt an keiner einzelnen Stelle an der Authentizität der
Grágás, sondern nimmt ihren Wortlaut als gegeben hin. Auch führt er später die Jarnsiða und die Jónsbók an, deren Qualität als Gesetze unstreitig ist (wenngleich
die Jarnsiða inhaltlich als mißlungen
gilt). Bekannt ist auch, daß die Sagas keine reinen historischen Quellen sind,
sondern Literatur, welche die mittelalterlichen Geschehnisse gestaltend
darbietet. Aber schon Andreas Heusler hat ihnen in seinem Werk über das
Strafrecht der Isländersagas[1]
eine zuständliche (kulturgeschichtliche) Wahrheit bescheinigt, von der auch der
Verfasser - trotz aller Bedenken im einzelnen - letztlich ausgeht. Waren ihm
aber weder die Grágás noch die Sagas sicher genug, um als Ausgangslage für die
mittelalterliche Wirklichkeit zu dienen, so hätte es nahe gelegen, die in
reicher Fülle fließenden Informationen der im Diplomatarium Islandicum gesammelten
Urkunden heranzuziehen, die über das jedem Band beigegebene Register
mustergültig auch hinsichtlich der Armenterminologie und des hreppr erschlossen sind. Wenn der
Verfasser (S. 67, Fn. 16) zutreffend zwischen Rechtsquelle und
Rechtswirklichkeit unterscheidet, hätte diese Sammlung (die zwar im
Quellenverzeichnis erwähnt ist, von deren Inhalt der Verfasser aber einen eher
sparsamen Gebrauch gemacht hat) ihm eine große Chance geboten, der
Rechtswirklichkeit näher zu kommen.
Den
umfangreichen historischen Forschungen auf dem Gebiet des Armenwesens ist es
wohl zu verdanken, daß der Verfasser ihre Ergebnisse an den Anfang seiner
Ausführungen setzt. Es handelt sich aber lediglich um ein Referat aus wenigen
Werken (Mollat, Geremek, Boshof, Bosl, Oexle, Wollasch) ohne eigene
Beiträge des Verfassers, der hier ganz aus zweiter Hand lebt. Daß er auch die
Zitate in deutschen Übersetzungen übernimmt und keine Originalfundstellen
zitiert, macht die Darstellung nicht besser. Zudem wird manches doppelt gesagt,
so daß überflüssige Längen entstehen. Gelegentlich ergeben sich Widersprüche,
so ist Guido de Baysio auf S. 66 als Theologe, auf S. 126 richtig als Kanonist
eingeordnet. Überdies erbringt die Darstellung für Island wenig und kann fast
nur als Kontrast dienen, weil auf der Insel einiges anders ist als auf dem
Kontinent und ganze Quellengattungen ausfallen. Den ersten Teil des Werkes
zieren viele „Verweisungen nach unten“. Für die innere Ökonomie des Werkes sind
sie zu begrüßen, doch fragt sich, ob der Aufbau des Buches ganz glücklich ist,
wenn der Leser eigentlich gut daran täte, es gleichsam von hinten zu lesen, wo
die eigentlichen isländischen Verhältnisse dargestellt sind.
Im vierten Kapitel (S. 66ff.) beginnt der
Verfasser die Armutstermini Altislands darzustellen. Das ist einer der
gelungensten Abschnitte des Werkes, weil er hier auf der Höhe der
philologischen Diskussion steht. Ausführlich diskutiert er den ómagr balcr der Grágás. Warum er sich an
Heuslers Übersetzung von ómagr
„Bedürftiger“ stößt, ist nicht ganz deutlich geworden. Das Wort hat eine so umfassende
Bedeutung, daß es den vollen Sinngehalt des isländischen Ausdrucks abdeckt. Aus
den folgenden Ausführungen (S. 73ff.) wird denn auch deutlich, daß der
Verfasser nichts anderes meint.
Für den framfœrslumaðr (Person, die unterhaltsbedürftig ist) stellt der
Verfasser richtig fest, daß er in den Grágástexten nicht zu finden ist, sondern
nur in der Grettla auftaucht.
Immerhin finden sich eiga bzw. vera oder fœra framfœrslu in der Grágás. Wichtiger scheint mir, daß framfœzlumaðr (Person, die einen anderen
zu versorgen hat) im Diplomatarium
Norvegicum mehrfach nachgewiesen ist (Fritzner, Bd. I, S. 477), und es
hätte sich ein Wort darüber gelohnt, wie das philologische Verhältnis zum framfœrslu maþr zu denken ist.
Die þurfamenn
(Männer mit geringem Vermögen, die keinen Zehnt zahlten, aber ómagr zu versorgen hatten) bringt der
Verfasser richtig mit dem isländischen Zehntgesetz von 1096/97 in Verbindung,
wie es sich aus dem Diplomatarium Islandicum (Bd. I, Nr. 22) und aus der Grágás[2]
ergibt. Ebenso grenzt er sie erfolgreich von den ómagi ab (S. 81). Auch die übrigen Begriffe für die isländischen
Bedürftigen sind richtig dargestellt. Gleichwohl entsteht an manchen Punkten
der Eindruck, daß der Verfasser die Quellen nicht völlig ausgeschöpft hat. So
hat er die Herkunft und Verbreitung des Wortes fatœkr links liegen lassen (S. 103); auf S. 203 vermutet er, das manneldi (Versorgung der ómagr durch den hreppr) sei nach der Freistaatszeit gegenüber dem aus Norwegen importierten
fátœkra manna flutning (Rundfahrt der
Armen) ins Hintertreffen geraten, wobei er jedoch offen läßt, welche Form der
Unterstützung sich durchgesetzt hat. Für das manneldi zitiert er eine Stelle aus dem Diplomatarium Islandicum
12, S. 66f. von 1500, ohne zu sehen, daß eine systematische Durchforschung
dieser Urkundensammlung weiteren Aufschluß hätte geben können.
Ausführlich handelt der Verfasser auch
von den Bettlern, welche die Grágás wenig zimperlich behandelt, indem sie den
Bauern nicht nur erlaubt, sie zu verprügeln, sondern die männlichen Bettler
auch zu entmannen, damit sie keine unerwünschten Nachkommen zeugen können.
Die Einrichtungen mittelalterlicher
Armenpflege erläutert der Verfasser von denen des Kontinents aus. Während die
Klöster erst nach der Freistaatszeit bei der Armenversorgung eine Rolle spielten,
galten auch auf Island die Bischöfe als Väter der Armen. Des Verfassers Kritik
an Vilborg Auður Ìsleifsdóttir-Bickels Ansicht (S. 132, Fn. 90) ist
unberechtigt, führt er doch S. 101f. selbst mehrere Stellen für die
Mildtätigkeit der Bischöfe an.
Armenpflege war in erster Linie Sache der
Verwandten. Fehlten sie, trat der hreppr
ein und führte die ómaga menn seinen
unterhaltspflichtigen Mitgliedern zu. So war der hreppr die zentrale Institution der Armenfürsorge auf Island. Er
wurde in der freistaatlichen Zeit eingerichtet, überdauerte sie jedoch und ist
noch in der Jónsbók zu finden. Über den hreppr
hat der Verfasser nicht nur die bisherige Literatur zusammengetragen
sondern auch den Streit um die sprachliche Herleitung des Begriffs dargestellt.
Soweit er freilich Lexikonartikel heranzieht, fällt auf, daß der von Else
Ebel verfaßte einschlägige Artikel im neuen Hoops[3]
nicht zitiert ist, wie denn überhaupt die 2000 und 2001 erschienenen fünf Bände
des neuen Hoops (15-19) – vermutlich ihres kurzfristigen Erscheinens vor
Abschluß der Arbeit wegen – nicht ausgewertet, aber auch in der Druckfassung
nicht berücksichtigt sind. Unsere Kenntnisse über den hreppr beziehen wir hauptsächlich aus der Grágás (1, Ib, c. 255f.,
S. 206 ff.). Danach waren die hreppar von
Goden und Kirche unabhängige geographische Einheiten, in denen mindestens 20
Vollbauern zusammengefaßt waren. In der Armenpflege oblagen ihnen die manneldi (Ernährungspflicht): Die ómaga menn des hreppr wurden auf die Bauern nach ihrem Vermögen verteilt, die sie
entweder dauernd unterhalten mußten oder weiterreichen konnten. Der hreppr setzte auch den Armenzehnt fest,
holte ihn ein und verteilte ihn auf die þurfamenn.
Sie erhielten auch die matgjafir,
Lebensmittelgaben, die beim Fasten erspart wurden.
Ein großer
Streitpunkt ist das Alter der hreppar.
Der Verfasser diskutiert die bisher angebotenen Lösungen. Er verwirft sie
allesamt, bietet aber selbst keine neue an (S. 153ff.). Zutreffend weist er jedoch
darauf hin, daß die Hreppsorganisation
zu Beginn des 11. Jahrhunderts bei Einführung des Armenzehnts bereits gut
durchgebildet gewesen sein muß, um ihr (und nicht der Kirche) die Zehnterhebung
wirksam übertragen zu können. Das läßt Maurers und Kuhns Thesen
von der Entstehung der hreppar am
Ende des 10. Jahrhunderts doch nicht so zweifelhaft erscheinen wie der
Verfasser meint.
Um zu klären,
ob die hreppar ländliche
Genossenschaften oder Vorläufer der späteren isländischen Landgemeinde waren,
greift der Verfasser auf die Definition im Wörterbuch der Soziologie (S. 161)
und die Gemeindeverfassung des 19. Jahrhunderts zurück (S. 164ff.). Das halte
ich als Anachronismus für unzulässig. Immerhin erkennt er, daß die hreppar keine Gilden waren, denn die von
ihnen versorgten Bedürftigen gehörten nicht zu ihren Mitgliedern. Als Ergebnis
bleibt ein Personenverband, der sich an den Aufgaben der Armenversorgung (und
der Versicherung bei Brand und Viehsterben) ausrichtete.
Schwer tut sich der Verfasser mit dem
christlichen Einfluß auf die Armenversorgung in Island. So hat er selbst
dasjenige, was bei Konrad Maurer zur Christianisierung Islands und zum
Zehnten steht[4],
nicht verwertet und auch kein Wort darüber verloren, daß der Zehnt praktisch
den früheren „Tempelzoll“ ersetzte. Es überrascht zunächst, daß die Erhebung
des Zehnten nicht der Kirche, sondern den hreppar
übertragen wurde. Geht man jedoch davon aus, daß die Hrepporganisation bei Einführung des Zehnten als genossenschaftlicher
Armenverband bereits fest ausgebildet war und das bewohnte Island
flächendeckend überzog, so bot sich wahrscheinlich der jungen christlichen
Kirche, die unter Priestermangel litt, keine andere Möglichkeit als diese
Lösung zu akzeptieren. Der Verfasser unterschätzt hier ihre Geschmeidigkeit und
Anpassungsfähigkeit. Richtig gesehen ist, daß die Isländer im Jahre 1000 zwar
das Christentum angenommen hatten, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, daß
aber nicht alle der Kirche wohlgesonnen waren, so daß sie es schwer hatte,
Mittel für ihre Aufgaben zu erhalten (S. 204f.). Die Zehnterhebung in
weltlicher Hand versprach ihr vielleicht mehr Erfolg. Immerhin hat sie nicht
nur den Zehnten in Island früher als auf dem skandinavischen Festland
durchgesetzt, sondern auch seine Vierteilung beibehalten, wie sie sich in den
frühen Canonessammlungen findet und dann um 1140 in das Decretum Gratiani in C.
12 q. 2, c. 23-31 eingegangen ist. Allerdings kann man das isländische
Zehntwesen nicht ohne das dort ausgeprägte Eigenkirchenwesen verstehen. Der
Verfasser hat es S. 204f. zwar erwähnt, aber zu knapp behandelt und die Frage
nach den Gründen für die Zehnteinführung unbearbeitet liegen lassen
(S. 205). Auch daß die beim Fasten ersparten Speisen als matgjafir der Armenversorgung zugute
kamen, ist christlich gedacht. Wenn der Verfasser in seinen Quellen die
christliche Motivation der Barmherzigkeit und die Armut als Tugend und Weg zur
Vollkommenheit vermißt, so ist das zwar richtig beobachtet, aber nicht
erstaunlich, weil er die Literaturgattung, in der diese Gedanken vorgetragen
werden, nämlich theologische und philosophische Werke, für Island nicht
zitiert, wenn sie denn dort überhaupt existierten. In den Rechtstexten der
Grágás, pflegte der Gesetzessprecher den Thinggenossen das geltende Recht zwar
vorzutragen, es aber nicht zu begründen[5],
und in den Sagas überwog das literarische Interesse und fehlt das
missionarische und homiletische Element kirchlicher Schriften. Bei der Stelle
aus der grönländischen Eiríks saga rauða
aus dem 13. Jahrhundert, die der Verfasser zitiert (S. 214), handelt es
sich übrigens nicht um den Zehnten, sondern um eine Seelgabe. Die vom Verfasser
nicht erwähnte Mitwirkung des Bischofs bei Übertretungen der Hreppsordnung (Grágás 1, Ib, c. 235) und
bei der Bestimmung des Empfängers von Kirchenzehnten (Grágás I, Ib, c. 260)
zeigt, daß die Kirche in diesen Fragen ein Mitspracherecht hatte[6].
Schließlich hat der Verfasser der Staðarhólsbók den ganzen Komplex dem
Christenabschnitt eingefügt, wohin er nach Auffassung der Zeit sachlich
gehörte.
Die
Bibliographie des Buches ist nicht ganz vollständig. So sind das Diplomatarium
Norvegicum und Migne, Patrologia Latina zwar zitiert, aber nicht nachgewiesen.
Welche Bibelübersetzung der Verfasser S. 130, Fn. 83 benutzt hat, sagt er
nicht. In der Sagaliteratur sind die biskupar
sögur nicht einzeln aufgeführt. Warum die Übersetzung Klaus von Sees
von Jyske Lov als Sekundärliteratur
eingeordnet ist, obwohl der Verfasser eine Abteilung „Übersetzungen“ hat,
bleibt unerfindlich. Bei diesen fehlt die der Laxdœla saga Heinrich Becks von 1997. Auch das Mittellatein
kommt schlecht weg: Der kleine Stowasser kann die Standardwerke von Du
Cange, Diefenbach und Niermeyer nicht ersetzen.
Der Verfasser
hat die Untersuchung von Armut und Armenfürsorge in Island - vor allem
sprachlich - ein Stück vorangebracht. Die historischen Hintergründe hat er
weniger erhellt. Hier bleibt künftiger Forschung noch einiges zu tun.
Köln am Rhein Dieter
Strauch
[1] Andreas Heusler, Das Strafrecht der Isländersagas, Leipzig 1911, S. 7.
[2] Vgl. Andreas Heusler, Isländisches Recht (Germanenrechte Bd. 9), Weimar 1937, S. 397ff.
[3] Else Ebel, Art. Hreppr, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, begr. v. Johannes Hoops, 2. Aufl. Bd. 15, Berlin 2000, S. 154-157.
[4] Konrad Maurer, Die Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christenthume, 2 Bände, München 1855/56, hier Band II, S. 462ff.; auch spätere Literatur zum Thema Christianisierung Islands ist nicht genannt (etwa: I. Skovgaard-Petersen in Scandia 1960, S. 230 – 296 (zum isländischen Eigenkirchenwesen).
[5] Die gelegentlichen Begründungen, die Andreas Sunesen seiner Darstellung des schonischen Rechtes einfügt, erklären sich aus seinem Anliegen, eine summa dieses Rechtes zu geben.
[6] Auch hier entspricht die Grágásstelle dem kanonischen Recht, vgl. das Decretum Gratiani, ed. Friedberg C. XII, q. II, c. 25 mit Fn. 297.