Fried, Johannes, Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, der „Akt von Gnesen” und das frühe polnische und ungarische Königtum, 2. Aufl. Steiner, Stuttgart 2001. 192 S. 29 Abb.

 

Zu Beginn des Jahres 1000 machte sich der junge Kaiser Otto III. von Rom aus auf eine Reise, die ihn weit über die nordöstlichen Gebiete seines Reiches hinausführte, nach Gnesen, wo er am Grab seines Freundes, des wenige Jahre zuvor von den Pruzzen erschlagenen Prager Bischofs und einflußreichen Vertreters der eremitischen Mönchsbewegung Italiens, Adalbert, mit dem slawischen Fürsten Boleslaw zusammentraf und für dessen Herrschaftsgebiet, für das seit etwa dieser Zeit der Name „Polen” gebraucht wurde, eine eigenständige Kirchenprovinz gründete. Nicht nur im Umkreis der zweiten  Jahrtausendwende haben diese Ereignisse der ersten verstärkte Aufmerksamkeit gefunden; auch die politische Wende des Jahres 1989 und die aktuellen Vorbereitungen zur Osterweiterung der Europäischen Union haben dazu geführt, daß die gemeinsamen europäischen Traditionen des Mittelalters stärker in das Blickfeld von Öffentlichkeit und Wissenschaft gerieten und damit auch die Zeit der Jahrtausendwende, in der die Intergration der slawischen Völker Ostmitteleuropas und der Ungarn in den politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Horizont des lateinischen Westens und der lateinischen Kirche grundgelegt wurde. Diese aktuellen Interessen bündelte etwa eine Ausstellung des Europarates („Europas Mitte um 1000”), die in Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Deutschland und Polen Station machte. Darstellung und Deutung der Gnesenreise Ottos III. bildeten ein Zentrum dieser Ausstellung; nicht nur deshalb ist es zu begrüßen, daß Johannes Fried, einer der maßgeblichen Konzeptoren des Projektes, jetzt eine Studie in zweiter Auflage vorgelegt hat, die erstmals im Jahr 1989 erschienen ist und die zentrale Vorgänge und Zusammenhänge der ersten Jahrtausendwende in ein neues Licht gerückt hat.

 

Zahlreiche Details im Umkreis der Genesenreise Ottos III. hatte Fried neu gedeutet: So habe der Kaiser ursprünglich nicht Gnesen, sondern Prag, das Zentrum der mit Boleslaw rivalisierenden Přemysliden, zur geistlichen Metropole des Ostens erheben wollen; erst das geschickte Taktieren Boleslaws habe die Entscheidung für Gnesen herbeigeführt, und eine wesentliche Rolle habe dabei der Bischof Unger von Posen gespielt, den man zuvor als Hauptgeschädigten der Maßnahmen und wichtigsten Gegenspieler Boleslaws angesehen hatte. Nach Frieds Deutung wäre Unger demgegenüber der Kandidat Boleslaws für die Erzbischofswürde gewesen, und erst die überraschende Präsentation des Adalbert–Bruders Gaudentius durch den Kaiser habe die Situation verkompliziert und den Widerspruch des Posener Bischofs hervorgerufen, der dann, durchaus im Interesse Boleslaws, eine einvernehmliche Entscheidung verhindert und die kirchliche Neuorganisation für lange Zeit in der Schwebe gehalten habe. Davon wäre auch das im politischen Kontext spektakulärste Ereignis der Gnesener Herrscher–Begegnung betroffen gewesen: die vom Kaiser vorgenommene Königserhebung Boleslaws, die in Ermangelung eines unbestrittenen Erzbischofs nicht durch eine kirchliche Salbungszeremonie hätte vollendet werden können.

 

Die verschiedenen Details dieses neuen Bildes sind im vergangenen Jahrzehnt unterschiedlich intensiv diskutiert worden, auch von seiten der verständlicherweise besonders engagierten polnischen Geschichtswissenschaft, geht es doch um zentrale Momente der politisch-geographischen  Formierung Polens. Sogar diesen Volksnamen hat Fried in neueren Beiträgen als Produkt der politischen und herrschaftstheologischen Diskussionen im Umfeld Ottos III. in Anspruch genommen, eine These, die bisher nicht ausführlich diskutiert worden ist. Im Vordergrund der Diskussionen steht vielmehr weiterhin die Frage, ob der slawische Fürst Boleslaw I. Chrobry tatsächlich von Otto III. zum König gekrönt worden ist, wie es eine historiographische Aufzeichnung des 12. Jahrhunderts, der sogenannte Gallus Anonymus, berichtet. Diese von der Forschung zumeist als anachronistische Ausschmückung verworfene Nachricht hatte Fried als Niederschlag zeitnaher Überlieferungen rehabilitiert, und zwar vor allem dadurch, daß er in methodisch neuer Weise ein Bild des Kaisers in einer auf der Reichenau entstandenen Handschrift auf die politische und personelle Konstellation des Jahres 1000 bezog. Das Herrscherbild im sogenannten Liuthar–Evangeliar des Aachener Domschatzes zeigt den Kaiser, von der Hand Gottes segnend berührt, auf einem Thron sitzend, zwischen zwei weiteren gekrönten Figuren. Nach Frieds Deutung spiegelt sich in dieser Konstellation, auch wenn die beiden Gekrönten unbenannt geblieben sind, die aktuelle politische Konzeption des Kaisers, der nach byzantinischem Vorbild gleich zwei Fürsten, neben Boleslaw noch den Ungarn Stephan, zu Königen erhoben und zu gleichberechtigten Partnern bei der kaiserlichen Aufgabe der Glaubensverbreitung gemacht habe. Es bleibt allerdings weiter zu diskutieren, ob die Ikonographie der Herrscherbilder in liturgischen Handschriften überhaupt in dieser Weise aktuellen politischen Vorgaben folgte und konkrete Konstellationen umsetzte; der Rezensent hat deshalb eine andere Deutung der Miniatur vorgeschlagen, die allerdings ebenfalls hypothetisch bleiben muß (L. Körntgen, Königsherrschaft und Gottes Gnade, Berlin 2001).

 

Die nicht zuletzt von kunsthistorischer Seite (U. Kuder) weitergeführte Debatte um die Interpretation des Aachener Bildes zeigt beispielhaft, was Fried selbst als Voraussetzung auch seiner Neudeutung des Gesamtzusammenhangs in Anspruch nimmt: daß die Quellenlage keine gesicherte Rekonstruktion der Vergangenheit erlaubt, sondern konkurrierenden Deutungen Raum gibt. In der Neuauflage stellt Fried allerdings klar, daß seine methodischen Vorbehalte den Erklärungsanspruch der vorgelegten Deutung nicht zurücknehmen sollen, weil sie in gleicher Weise für die älteren Forschungsmeinungen gelten (S. 159). Fried kann deshalb im aktuellen Vorwort zu Recht feststellen, daß seine Deutungen weder durch Quellenfunde noch durch Kritik der methodischen Grundlagen erschüttert worden sind, denn angesichts der Quellensituation kann es nicht um Bestätigung oder Widerlegung gehen, sondern nur „um das Abwägen von Plausibilitäten” (S. 159). Dabei kann man weiterhin zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen, weshalb Fried dem nur durch einige Fehlerkorrekturen ergänzten Text der Erstauflage einen Nachtrag (S. 157–180) beigegeben hat, der jeweils mit Bezug auf einzelne Textseiten nicht nur den Fortgang der Forschung berücksichtigt und auf neuere Literatur verweist, sondern auch auf zentrale Einwände eingeht, die gegen verschiedene Punkte des Buches vorgebracht worden sind. Die jeweils betroffenen Stellen sind am Rand des Textes markiert.

 

Diese Ergänzungen und Repliken bieten allerdings nur einen Zwischenstand der Debatte, denn auch nach Abschluß des Manuskriptes ist die Diskussion weitergeführt worden: So im Aufsatzband zur Europaratsausstellung (Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, 2 Bde., hrg. von Alfred Wieczorek und Hans–Martin Hinz, Stuttgart 2000) und zuletzt in einem Berliner Tagungsband (Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen”, hrg. von Michael Borgolte, Berlin 2002). Johannes Fried selbst hat in diesem Band den Blick auf die Zentralfigur der Gnesener Ereignisse gelenkt, den hl. Adalbert, und neue Erkenntnisse zur Propagierung seiner Verehrung durch Otto III. vorgelegt. Damit ist eine Perspektive eröffnet, in der die Konzentration auf die politischen Pläne des Kaisers und des polnischen Fürsten überwunden und die Verehrung des neuen, den Akteuren persönlich bekannten Heiligen Adalbert als wesentliches Motiv der Genesener Ereignisse wahrgenommen und konkreter gefaßt werden könnte. Vielleicht wird es auf diesem Weg auch möglich sein, die Bedeutung der so gegensätzlich beurteilten Einzelmomente, etwa der Königserhebung Boleslaws oder der ursprünglichen Bistumspläne des Kaisers, zu relativieren und den Horizont der aktuellen Fragestellungen zu erweitern.

 

Tübingen                                                                                                        Ludger Körntgen