Feth, Andrea, Hilde Benjamin – Eine Biographie (=
Justizforschung und Rechtssoziologie 1). Berlin-Verlag, Berlin 1997. 278 S.
Von der „roten Hilde“ zur „roten Hilde“,
von der liebevoll so genannten Berliner Arbeiteranwältin vor 1933 zur
Symbolfigur des juristischen Stalinismus der 50er Jahre, gar zur „roten Hexe“
(so der erste DDR-Minister der Justiz Max Fechner ca. 1949, hier S. 60) und „roten
Guillotine“ oder „blutigen Hilde“ als Strafrichterin (so um 1952, S. 14) -
dieses Leben rief nach einer Biographie. Andrea Feth
hat die Chance genutzt.
Das schlanke, kleinformatige Buch birgt
schon quantitativ mehr als man erwartet, da es, offenbar im sparsamen
Eigenlektorat, ungewöhnlich dicht gesetzt ist. Es nennt sich „Biographie“,
etwas erstaunlich für den ersten Band einer „Schriftenreihe zur Justizforschung
und Rechtssoziologie“. Die Gattung Biographie wurde nicht nur in der
Rechtsgeschichte meist etwas herablassend betrachtet. Das gilt zumal, wenn es
wirklich um Lebensbeschreibung geht wie hier und nicht vor allem um die
Jurisprudenz eines Autors in seiner Zeit, also die neuerdings etwas paradox
sog. wissenschaftsgeschichtlichen Werkbiographien, wie sie in vielen Exempeln
seit den Anstößen von Sten Gagnér
bewährt sind[1],
aber auch schon bei Kiefner zu Thibaut, 1958, Strauch zu Savigny, 1960, u. a
durchschimmerten oder Zentrum wurden.[2] Alle diese Monographien leisteten
unentbehrliche, detailgenaue historische Basisarbeit nicht nur für wertvolle
Lexika wie Kleinheyer/Schröder (1976) und Stolleis
(1995). Den darauf Herabblickenden gilt Rechtsgeschichte als eine Frage von
Strukturen und weniger von Handlungen und Menschen. Haben also „Lebenswege“
keinen „Erklärungswert für historisches Geschehen“ (Fögen)? - ein furchtloser
Satz ohne Alternative; aber so fruchtlos. Es ist besser, z. B. einfach bei
Altmeister Friedrich Sengle[3] nachzusehen. Er kennt die Probleme und nannte
doch auch die Biographie eine Königin der Geschichtsschreibung, wenn sich in
einer Person zugleich eine ganze Zeit kristallisieren lasse. Nun ist
„Biographie“ sogar in der Rechtssoziologie angekommen, noch dazu ganz
altmodisch, schlicht als chronologische Lebensbeschreibung, ohne weitere
Reflexion als einige vorsichtige Worte über Zeitgeschichte, nicht etwa als
soziologische Biographie[4],
aber dafür mit willkommener empirischer Energie. Eigentlich nichts Besonderes,
wenn es nicht gerade um die „rote Hilde“ ginge, und das war
schwer genug bei diesem Leben:
Hilde Lange, verh. Benjamin, 1902
gutbürgerlich geboren, ab 1904 in Berlin, 1916 politisiert, 1919 „entscheidend“
(20) erschüttert von den Morden an Liebknecht und Luxemburg - eine
Liebknecht-Tochter war Schulkameradin (21), 1921 Abitur und Jurastudium aus
sozialem Engagement, vielleicht auch nach dem „Vorbild“ Karl Liebknechts
(21f.), als eine von ganz wenigen Frauen (6-8 in Berlin, im Reich 2,5%) (23),
Beitritt zum Sozialistischen Studentenbund und Russisch-Studium, 1926 Heirat
des sozial engagierten Arztes, aktiven KPD-Mitgliedes (seit 1922) und Walter
Benjamin-Bruders Georg Benjamin, 1927 Eintritt in die KPD, 1929 nach dem
Assessor Arbeiteranwältin und politische Tätigkeit im „roten“ Berliner Wedding;
im April 1933 Entzug der Zulassung, im Mai 1935 Verhaftung des Mannes wegen
KPD-Arbeit, 1936 dessen Verurteilung zu Zuchthaus, 1942 KZ nach der
Haftverbüßung und dort Ermordung des Mannes noch 1942; nun mit 31 Jahren allein
mit dem 10-jährigen Sohn, bei den Eltern. Im Mai 1945
Gerichtseröffnungsbeauftragte und Oberstaatsanwältin im sowjetisch besetzten
Steglitz, im September Personalchefin der zentralen SBZ-Justiverwaltung
und damit „eigentliche Chefin der DJV“ (59) vor Präsident Schiffer, mit den
Sowjets Durchsetzung der sog. Volksrichterausbildung seit Dezember 1945 und
Beginn der Zerschlagung der Juristenprofession („Neue Macht - Neue Kader“, 1976),
SED-Karriere, 1949-1953 Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs der DDR und
gefürchtete Vorsitzende des 1. Senats für politische Strafprozesse und sog.
Schauprozesse, zugleich führende Justizpolitikerin in der Volkskammer usw., am
17. Juli 1953 Nachfolgerin des über sein Verständnis für den 17. Juni-Aufstand
gestürzten Ministers Fechner, nun linientreu harte, ja „opportunistische“ (238
u. ö.) Ministerin bis zum gehorsamen Rücktritt 1967, dann bis 1987 Professorin
an der Ulbrichtschen Akademie für Staat und Recht in Potsdam, aber mit Arbeitsplatz
in Berlin für die „Geschichte der Rechtspflege“ in der DDR - also die wohl
erste Professur für Juristische Zeitgeschichte -, 1989 verstorben, Trägerin
zahlreicher und höchster Auszeichnungen der DDR - genug des Verständlichen,
Befremdlichen und Abscheulichen für eine Erstlingsarbeit wie eine Dissertation.
Das Buch wurde freundlich begrüßt,
besonders von Uwe Wesel
in der „Zeit“ und Inga Markovits
in der „Neuen Politischen Literatur“. „Fair und gut“ soll es sein. Die
Voraussetzungen für eine gute zeitgeschichtliche Studie waren günstig. Die
Archive und selbst die OG-Urteile beim
Bundesgerichtshof standen selten offen, wie im Westen nie, auch wenn der Sohn
den eigentlichen Privatnachlaß verschlossen hielt -
anders als meist im Westen. Auch das Universitätsarchiv Potsdam hielt sich
leider bedeckt. Immerhin gewährte der Sohn Benjamin Einblick in fünfzehn (so
255) oder vierzehn (so 15) Ordner mit vielen ungedruckten Reden und Aufsätzen
(15). Acht lohnende Interviewpartner lebten noch (256). Die Arbeit von Mario
Frank 1989 bot dazu wichtige Ergänzungen. Rundfunk- und Filmaufnahmen
ermöglichten originäre Eindrücke. Die Benjamin selbst
hatte ihre Arbeit seit 1946 in zahlreichen (rund 70) kleineren Beiträgen stetig
begleitet und auch Autobiographisches vorgelegt. Sie stand im Zentrum einer
relativ kleinen, überschaubaren Rechts- und Politikwelt. Gute Voraussetzungen.
Andrea Feth hat
dies alles gewissenhaft zusammengetragen und benutzt. Sie hat dieses
herausfordernde Leben bisweilen etwas gewollt trocken, aber doch eindringend
anschaulich und quellenkritisch geschildert, hat bedeutsame Kontexte geschickt
eingeblendet und ein sehr volles Bild dieser Juristin in ihren Zeiten
erarbeitet. Es entsteht der volle Ernst ganz persönlicher Konkretheit,
Wirkung und Verantwortung. Sie vermeidet glücklich die Achillesferse der
Biographie, das Psychologisieren und Spekulieren über allzu „Persönliches“, das
wir eben nicht wissen.
Der Ergebnis ist ebenso belehrend wie
bedrückend bis hin zur stillen Empörung darüber, was alles geschehen konnte,
etwa in der vorzüglichen Rekonstruktion der „Verhandlungsführung“ der Richterin
Benjamin (108ff.). Das Buch ist gewiß gut, zumal für
einen Erstling, obwohl Einiges stört. Im (Eigen?)Lektorat unterblieb die
Kapitelzählung in der Inhaltsübersicht, obwohl im Text auf Kapitel verwiesen
wird. Ein eigenes Verzeichnis der gedruckten und ungedruckten Texte von H.
Benjamin fehlt, das im Literaturalphabet Genannte ist nicht vollständig
gegenüber dem Text. Manche Belege fehlen im Verzeichnis. Kolumnentitel wären
einfach und hilfreich gewesen, im „Schluß“ fehlen verläßliche Rückverweise. Aber im ganzen
entstand am Fall Benjamin eine Art kleine Rechtsgeschichte der DDR bis 1967, ausgesprochen
lehrreich und übersichtlich.[5]
Und fair? Das Buch ist sehr fair, mir
aber doch zu fair. Denn es geht nicht um Sport, sondern um Menschenleben. Vor
1945 sind Hilde Benjamins Mut und ihr soziales Engagement ebenso zu bewundern
wie die zunehmende Fixierung auf das stalinistische Vorbild auch schon
Menschenfremdheit und Kritiklosigkeit zeigt. Nach 1945 versteht sich manches
als Reaktion auf grausame Untaten mit schweren persönlichen Opfern. Aber
Justizzwang wurde nun vor allem Herrschaftshebel, Strafrecht wurde Kampfrecht,
Justiz wurde Kaderfrage und damit parteilich bis zum Zickzackkurs (wie etwa
1953 zunächst, u. ö.). Eine dialektische „sozialistische Gesetzlichkeit“ wurde
erfunden (besonders von Hilde Benjamin [137f., 143]),
die kaum Gesetze benötigte und keine Gesetzlichkeit mehr war, sondern
Kaderjustiz für zur Rumpfgerichtsbarkeit geschrumpfte Gerichte. Mit
„demokratischem Zentralismus“ wurden die Rechtsinstitutionen gleichgeschaltet.
Nicht weniger als sieben politische Kontrollinstrumente für die Gerichte wurden
erfunden und praktiziert (146ff.) von der Instrukteurbrigade der StA und des
Ministeriums über die (Gerichts-)Betriebsparteiorganisation, die „Aufsicht“ des
OG und die der StA, bis zur Abteilung Staats- und Rechtsfragen beim ZK (mit Brigadekontrolleinsätzen)
und speziellen Kommissionen des Politbüros zur Kontrolle und Vorverurteilung.
Das Geschenk des Rechts, eine gewisse Erwartungssicherheit für nicht
willkürliches Entscheiden nach gewissen Regeln, wurde zur Pandorabüchse
verkehrt durch diese stete und gewollte Politikmitgift. Aber muß man nicht wenigstens „ihr“ Familiengesetzbuch von 1965
sehr loben, wie es so viele und wichtige Kenner und Kennerinnen tun, etwa Inga Markovits? Andrea Feth vermerkt
auch hier treulich, daß die Reform generell abhing „von
der sozialistischen Vorstellung, daß die
gesellschaftliche Stellung eines Menschen sich aus ihrer Berufstätigkeit
ableite“ und konkret zudem von der „ökonomischen Notwendigkeit, zur
Aufrechterhaltung der DDR-Wirtschaft alle verfügbaren Arbeitskräfte zu nutzen“ (210),
natürlich für gleichen Lohn, bei wohlorganisierter
Kinderbetreuung usw. Und so ergab sich die weniger freundliche Folge eines
sanften Arbeitszwangs, daß nämlich etwa, so das OG
1950 schon, „eine Frau nach der Scheidung grundsätzlich wieder berufstätig sein
und sich ihren Lebensunterhalt verdienen könne“ (212f.). Nur „gesellschaftlich“
sinnlose Ehen wurden geschieden; Unterhalt gab es in der Regel nur überleitend
für zwei Jahre (FGB II § 29) (215ff., 222); alle waren
verpflichtet, „ihrer gesellschaftlichen Pflicht zur Arbeit“ nachzukommen (215,
mit Benjamin 1954) und ihre Kinder entsprechend zu „Erbauern des Sozialismus“
(FGB I: Grundsätze § 3 I) zu erziehen (222). In dieser Gesellschaft durfte also
nur Arbeit frei machen - also Bevormundung der Familien statt emanzipierende
Hilfe zur Eigenentscheidung über gemeinsame Lasten - eine besondere Art von
Gleichberechtigung. Das ebenfalls gern gerühmte DDR-Sozialrecht bot hier keinen
Ausweg. Feths Biographie zeigt auch dies, sie bleibt konkret
und vermeidet die rechtshistorische Todsünde, Recht als solches zu vergleichen.
Wollte Hilde Benjamin also „ein humanes
Ziel mit inhumanen Mittel erreichen“, wie Feth am
Ende meint? Die Unterscheidung verdeckt das Problem. Ein Ziel, das solch inhumaner
Mittel bedarf, richtet sich selbst als inhuman. Und Hilde Benjamin hatte die
grausamen Folgen fast täglich vor Augen, vielfach sogar selbst in der Hand,
etwa in Waldheim (121, 142), oder in fernmündlichen Einzelsteuerungen 1953
(144f.), oder in etlichen Vorverurteilungen zum Tode (154). Ihre
Lebensgeschichte macht vieles sehr verständlich. Aber es waren nicht nur „die
Umstände, die sie zu der Person machten, die sie war“ - wie Andrea Feth allzu salomonisch im Schlußsatz
(240) nahelegt.
Frankfurt am Main Joachim Rückert
[1] Ich denke etwa an Stolleis zu Garve, 1967, Volk zu Falck, 1970, Seelmann zu Radbruch, 1973, Rückert zu Reyscher, 1974, E. Müller zu Menger, 1975, Gagnér zu Roth,
1975, Rückert zu
Savigny, 1984, Losano
zu Jhering, 1984, Kriechbaum zu Bekker, 1985, Rückert zu Lotmar,
1992, Hofer zu Endemann, 1993, Frassek zu Larenz, 1996, W.
Wolf zu Heinrich Lange, 1998, Brodhun
zu Oertmann, 1999, Depping
zu Hch. Lehmann, 2002.
[2] Nolte
zu B.W.Pfeiffer, 1969, Janssen zu Gierke,
1972, Kästner und Westernhagen zu Menger, 1974, Rascher zu Brinz
und Bohnert zu Puchta, beide 1975, Kern zu Beseler, Polley
zu Thibaut, Spindler zu Gierke, alle
1982, Falk zu Windscheid, 1989, Süß
zu Dernburg 1991, Kiesow zu Post,
1997, Schoppmeyer
zu Heck, 2001, u. a.
[3] Vgl.
nur Sengle,
Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und
Revolution. 1815-1848, 3 Bde., Stuttgart 1971.1972.1980, hier bes. Bd. 2,
306-322: Die Biographie.
[4] Wie man sich das zu denken hätte, zeigt mit
pro und contra etwa der Artikel von L.
Szczepanski, Die biographische Methode,
im: Handbuch der empirischen Sozialwissenschaften, hg. von René König, 3. A. Stuttgart 1974, Bd. 4, S. 226-252.
[5] Ergänzend zu Benjamin zu beachten ist das mehr
populär narrative und psychologisierende Buch von Marianne Brentzel, Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902-1989,
Berlin 1997, 398 S.