Fastrich-Sutty,
Isabella, Die Rezeption des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum. Eine Studie zur Bearbeitung von Rechtstexten
im frühen Mittelalter (= Erlanger juristische Abhandlungen 51). Köln, Heymann
2002. XIV, 318 S.
Zunächst darf
mit Freude zur Kenntnis genommen werden, dass noch Dissertationen zu den
Volksrechten (die Verfasserin verwendet die nicht minder strittigen Begriffe
„Stammesrechte“ oder „Leges“[1])
geschrieben werden, wenngleich dies bei einer Assistentin Hermann Nehlsens und einer Betreuung der Arbeit durch Harald Siems nahe liegt. Der Titel der Arbeit greift insofern zu
kurz, als die Verfasserin nicht nur - wenn auch schwerpunktmäßig - die Rezeption
westgotischen Rechts, sondern auch die Übernahme kirchlicher Rechtsquellen und
anderer Volksrechte (insbesondere der Lex
Alamannorum) in die Lex Baiuvariorum diskutiert.
In einem ersten
einführenden Kapitel mit dem Titel „Die Lex
Baiuvariorum und verwandte Leges“ (S. 11-88) wird zunächst in zwei großen Abschnitten der
Forschungsstand zur Entstehungsgeschichte der Bayern-Lex sowie zur
Textentwicklung des westgotischen Rechts referiert. Diese umfassende Einführung
findet ihre Berechtigung darin, dass die Entstehung der Lex Baiuvariorum und die Hintergründe für
die Rezeption des westgotischen Rechts bis heute umstritten sind. Bemerkenswert
ist dabei vor allem, dass der in der Regierungszeit des Westgotenkönigs Eurich (466-484) entstandene Codex Euricianus fast dreihundert Jahre
später in der Lex Baiuvariorum
rezipiert wurde. Die Frage, warum das im 5.
Jahrhundert im Tolosanischen Reich aufgezeichnete,
römischrechtlich beeinflusste westgotische Recht als Vorlage für das bayerische
Volksrecht diente, steht dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Streit um
die Datierung der Lex. Denn die
Bayern übernahmen das westgotische Recht nicht nur rund drei Jahrzehnte nach
Untergang des Westgotenreichs im Jahre 711, sondern benutzen mit dem Codex Euricianus
eine Vorlage, die im Westgotenreich seit der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts
nach einer Revision durch König Leovigild (568-586)
in der ursprünglichen Fassung nicht mehr galt und dessen Benutzung Mitte des 7.
Jahrhunderts durch König Reccesvinth I. (653-672) in
der Lex Visigothorum
untersagt worden war.[2] Daher
wurde lange angenommen, dass die Lex Baiuvariorum in mehreren Redaktionsstufen seit dem
sechsten Jahrhundert entstanden sei (sog. Schichtentheorie), während heute
überwiegend von einer einheitlichen Entstehung um 744-748 (sog. Einheitstheorie)
ausgegangen wird. In der Einleitung kündigt die Verfasserin daher an, dass
„sich die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Diskussion um die
Entstehungsgeschichte der bayerischen Lex“ verstehe (S. 4).
Das erste
Kapitel schließt mit dem Abschnitt „Alamannisches
Recht“, in dem die Verfasserin auf die zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen
der Lex Baiuvariorum
mit der Lex Alamannorum
hinweist und die Entstehungsgeschichte der Lex
Alamannorum kurz darstellt. Im zweiten Kapitel
mit dem Titel „Kirchliche Rechtsquellen in der Lex Baiuvariorum“ (S. 89-125) setzt sich
die Verfasserin u. a. mit der These Peter Landaus[3], dass
eine Parallele zwischen LBai. I 12 und Ex Concilio Gerundense c. VII
aus der Epitome Hispana
bestehe, auseinander und lehnt diese im Ergebnis ab. Für die Übereinstimmungen
der beiden oberdeutschen Leges, die zu einem großen Teil jeweils den ersten
Abschnitt der Kirchensachen betreffen, hält sie eine gemeinsame Vorlage (kanonistischer Quellen) für denkbar.
Erst
jetzt, nach nahezu der Hälfte des Buches, folgt im dritten und vierten Kapitel
mit den Titeln „Die Verwertung des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum“
(S. 127-231) und „Zur Verarbeitung des Codex
Euricianus in der Lex Baiuvariorum“ (S. 233-268) das Kernstück
der Arbeit. Die Verfasserin beginnt mit der Rezeption des Codex Euricianus, von dem nur ein
Fragment aus der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts mit insgesamt 55 Kapiteln
erhalten ist (Palimpsest-Handschrift Paris BN lat. 12161). Thematisch behandeln die Kapitel mit den fortlaufenden
Nummerierungen von 276 bis 336 einzelne schuldrechtliche Verträge (Leihe,
Verwahrung, Kauf, Schenkung) sowie Grenz- und Erbrecht. In der Lex Baiuvariorum
finden sich fünfzehn dieser Kapitel wieder. Die Parallelen in der Textabfolge
sind hier besonders deutlich, weil die Kapiteleinteilung ohne Änderung der
Reihenfolge übernommen ist. Lediglich längere Kapitel des Codex Euricianus sind in kürze Einzelbestimmungen
aufgeteilt. Darüber hinaus gibt es Auslassungen, die nach Ansicht der
Verfasserin darauf zurückzuführen sind, dass die Redaktoren der Lex Baiuvariorum
für diese Regelungen keine Verwendung hatten. Dies betrifft im einzelnen: 1.
Regelungen über Rechtsbeziehungen zwischen Goten und Romanen; 2. Regelungen,
die auf älteres, den Redaktoren vermutlich nicht zugängliches westgotisches
Recht Bezug nehmen; 3. Einzelfallregelungen, die der Tendenz der Redaktoren zur
Abstrahierung und Generalisierung zum Opfer fielen; 4. Unerwünschte Regelungen
(etwa zur Zinsnahme), die mit christlichen Vorstellungen nicht in Einklang
standen; 5. Materien, für die mündlich tradierte Rechtsgewohnheiten galten und
die regelmäßig nur in geringem Maße Aufnahme in die Volksrechte fanden, so etwa
das Erbrecht oder Bestimmungen zur Schenkung.[4] Mit
guten Gründen lehnt sie daher die Möglichkeit einer Vorlagenstörung, so dass
den bayerischen Redaktoren der westgotische Text bereits mit Lücken übermittelt
war, ab. Dagegen spreche, dass die Redaktoren ganz überwiegend gezielt und nach
sachlichen Kriterien die übernommenen Bestimmungen aus dem Codex Euricianus ausgewählt haben.
In einem zweiten Schritt werden
die Übereinstimmungen mit der Lex Visigothorum untersucht, wobei die Verfasserin - wie
schon Karl Zeumer[5] -
davon ausgeht, dass starke Parallelen zwischen der Lex Baiuvariorum und der Lex Visigothorum
die Benutzung des Codex Euricianus in diesem Bereich als gemeinsame Vorlage wahrscheinlich
erscheinen lassen. Leider wird die Darstellung hier sehr unübersichtlich,
enthält zahlreiche Fehler und stellt häufig nur dann einen Gewinn dar, wenn mit
Hilfe der Editionen das meist richtig Gemeinte mühsam rekonstruiert wird. Hier
mag ein Beispiel genügen: Unter der Überschrift „Parallelen zwischen Lex Baiuvariorum
und Lex Visigothorum
nach v. Schwind bzw. Zeumer“ folgt zunächst eine Übersicht
von 60 Parallelstellen (S. 151-154), die die Verfasserin dann im folgenden genauer untersucht. Zu Beginn der Übersicht
kündigt sie an, dass „zu den hier aufgeführten Vorschriften keine Codex-Euricianus-Normen
überliefert“ seien. Daher fände „ein Vergleich nur zwischen Regelungen der Lex Baiuvariorum
und der Lex Visigothorum
statt“ (S. 151, Fn. 600). Dann folgen aber dennoch auf S. 153f. sämtliche Bestimmungen
des Codex Euricianus,
die sowohl in der Lex Baiuvariorum
als auch in der Lex Visigothorum
rezipiert wurden. In den entsprechenden Fußnoten 623
und 625 heißt es: „Für die hier aufgeführten bayerischen Vorschriften
existieren ... unmittelbare Entsprechungen im Pariser Palimpsest-Fragment“
bzw. „Für alle zehn Normen zu Beginn von Titel XVI der bayerischen Lex ist kein
Vergleich mit der Lex Visigothorum
notwendig, da Vergleichstexte aus dem Pariser Palimpsest
vorhanden sind.“
Allein in diesem
Abschnitt, der rund dreißig Seiten umfasst, ließen sich noch weit mehr Fehler
und Unstimmigkeiten, insbesondere auch lästige Zahlenfehler (auf S. 183 wird LBai. XIV 17 als LBai. XIV 13
angegeben; auf S. 185 lässt sich LBai. XII, 1-3690
nur dann verstehen, falls man errät, dass sich dahinter LBai.
XII, 1-3 und die Fußnote 690 verbirgt), nennen, die dem interessierten Leser
die Benutzung der Arbeit erheblich erschweren. Fehler dieser Art, die durch
einen sorgfältigen Korrekturgang ohne großen Aufwand hätten vermieden werden
können, durchziehen die gesamte Arbeit und setzen sich bis ins
Literaturverzeichnis fort: So wird in Fußnote 483 als Beleg „Brunner, Über das
Alter der Lex Alamannorum“ angeführt, doch fehlt dieser
Titel im Literaturverzeichnis.[6]
Stattdessen finden sich unter Heinrich Brunner drei Beiträge, die nicht von
ihm, sondern von Franz Beyerle sind (Das Entwicklungsproblem
im germanischen Rechtsgang; Die süddeutschen Leges und die merowingische Gesetzgebung;
Die Lex Ribuaria). Schließlich sind die Gesetze der Burgunden 1936 nicht wie angegeben von Heinrich Brunner und
Franz Beyerle, sondern als Band 10 der Germanenrechte
von letztgenanntem allein herausgegeben worden (Heinrich Brunner war zu diesem
Zeitpunkt mehr als zwanzig Jahren verstorben). Auch diese Fehlerliste ist
keineswegs abschließend.
Darüber hinaus wird das Lesen der
Arbeit durch zahlreiche Wiederholungen und Verweise erschwert. Schließlich ist
man ständig am Blättern zwischen den einzelnen Tabellen und Übersichten, von
denen als wichtigste zu nennen sind: 1. Parallelen zwischen der Lex Baiuvariorum und
anderen Rechtstexten nach der Edition v. Schwind (S. 41-48); 2. Parallelen
zwischen dem Codex Euricianus
und der Lex Visigothorum
(S. 55-57); 3. Parallelen zwischen der Lex
Baiuvariorum und dem Codex Euricianus (S. 130-131); 4.
Parallelen zwischen der Lex Baiuvariorum und Lex
Visigothorum nach den Editionen v. Schwind bzw. Zeumer (S. 151-154). Wiederholt drängt sich der Eindruck
auf, dass auch die Verfasserin zeitweilig die Übersicht verloren hat.
Im fünften
Kapitel werden „Einflüsse anderer Stammesrechte auf die Lex Baiuvariorum“(S. 269-284) untersucht.
Ausgangspunkt scheinen auch hier die in der v. Schwindschen Edition der Lex Baiuvariorum
von 1926 enthaltenen Angaben zu möglichen Vorlagen für die meisten der
insgesamt ca. 270 Kapitel der Lex Baiuvariorum zu sein, wobei Fastrich-Sutty
nicht sämtlichen Angaben nachgeht. Überraschenderweise fehlt ein Abschnitt zu
den Beziehungen zwischen dem langobardischen und
bayerischen Recht, obwohl v. Schwind bei dreizehn Vorschriften der Lex Baiuvariorum
auf Übereinstimmungen mit dem Edikt des Langobardenkönigs
Rothari von 643 hinweist.[7]
Hingegen untersucht die Verfasserin den Einfluss der Lex Salica und der Lex Burgundionum auf jeweils eine Bestimmung
der Bayern-Lex.
Als Fazit lässt
sich zunächst festhalten, dass sich die Arbeit vor allem durch einen unnötig
umständlichen Aufbau, der zu zahlreichen Wiederholungen führt, ungemein schwer
lesen lässt. Zwischenergebnisse wie etwa die Frage, wie viele Bestimmungen der Lex Baiuvariorum
durch einen Vergleich mit der Lex Visigothorum nach Ansicht der Verfasserin auf den Codex Euricianus zurückzuführen
sind, erschließen sich nur durch Nachzählen der einzelnen Bestimmungen. Andere
Ergebnisse, etwa zur Auswahl aus dem Normenmaterial des Codex Euricianus durch die Redaktoren,
werden dafür gleich dreimal aufgezählt (S. 141ff., 201f.,
285). Vermutlich hätte sich die Untersuchung bei einem stringenteren Aufbau
deutlich kürzer, gleichzeitig aber auch lesbarer gestaltet.
Hingegen sind
die Ergebnisse zur Arbeitsweise der Redaktoren der Lex Baiuvariorum schlüssig begründet und
verdienen uneingeschränkte Zustimmung. In diesem Zusammenhang räumt Fastrich-Sutty mit der insbesondere von Nehlsen
favorisierten These, die Volksrechte hätten vorwiegend königlicher
Selbstdarstellung gedient und seien als geschriebenes Recht nicht effektiv
gewesen, auf, indem sie für die Lex Baiuvariorum darlegt, dass die Redaktorenkommission für
die Vornahme mehrerer Arbeitsgänge nicht nur ein funktionierendes Skriptorium mit einer ausreichenden Zahl an qualifizierten
Schreibern und eine umfangreiche Bibliothek mit weltlichen und kirchlichen
Rechtstexten aus mindestens drei Jahrhunderten benötigte. Darüber hinaus habe
es sich um Rechtskundige gehandelt, die den rechtlichen Inhalt der verwendeten
Vorlagen in vollem Umfang beherrschten und in der Lage waren, einen einheitlichen,
in sich geschlossenen Text (Gesetzbuch) aus verschiedenen Vorlagen zu schaffen.
Nur so ließe sich die durchdachte Auswahl von Normen anhand eines bereits
aufgestellten Konzeptes und die sinnvolle Kombination mit eigenem
Normenmaterial erklären, deren Ergebnis ein stimmiges und die zentralen
Rechtsfragen abdeckendes Werk sei. Zu Recht weist die Verfasserin darauf hin,
dass ein solcher Aufwand nicht für ein von vornherein ineffektives Gesetzbuch,
das allein als Prestigeobjekt des Herrschers gedacht war, betrieben wird, zumal
sich in der Lex Baiuvariorum
keine Passagen zum Ruhm des Herrschers finden und sich vielmehr „der Eindruck
einer auf Praktikabilität zielenden, den Rechtsalltag widerspiegelnden Arbeit“
aufdränge (S. 291).[8]
Aus der Verwendung
von Vorlagen aus drei Jahrhunderten ließe sich aber auch erklären, warum die Lex Baiuvariorum
als ein in Stufen entstandenes Werk erscheint. Hier überwindet Fastrich-Sutty den Streit „Einheitstheorie contra
Schichtentheorie“ und entwickelt einen eigenständigen Lösungsansatz zur
Entstehungsgeschichte der Lex Baiuvariorum. Die Diskussionen um die Bedeutung des
Prologs der Lex Baiuvariorum
für deren Entstehung könnten ein Ende finden, sobald man sich mit der These
anfreundet, dass die Redaktoren bewusst einen weiteren westgotischen Text aus
der Enzyklopädie Origines seu Etymologiae des Isidor
von Sevilla zum Thema Gesetzgebung mit der merowingisch-fränkischen
Redaktionsgeschichte kombiniert haben.
Dass sich die
Arbeitsmethode der Auswahl und Kombination verschiedener Rechtstexte keineswegs
auf ein „Abschreiben“ und damit auf eine primitive Arbeitsweise reduzieren
lässt, veranschaulicht die Verfasserin auch anhand der kirchenrechtlichen
Bestimmungen in der Lex Alamannorum und der Lex
Baiuvariorum. Bis heute ist eine Rezeption in die
eine oder andere Richtung nicht nachgewiesen, so dass auch eine gemeinsame
(verschollene) Vorlage in Betracht gezogen werden muss. Nach Fastrich-Sutty lassen sich diese Schwierigkeiten bei der
Einordnung der Parallelen in beiden Volksrechten ebenfalls mit der Arbeitsweise
der Redaktoren erklären. Beide Rechte wurden im Bereich der Kirchensachen mit
eigenständigen Regelungen angereichert. Die parallelen Bestimmungen wurden
jeweils so angepasst bzw. umgestaltet (die Verfasserin spricht von einer
„unterschiedlichen Feinverarbeitung gemeinsamer Textbausteine“), dass jeweils
eine in sich abgeschlossene Rechtssammlung entstand. Insgesamt stelle daher
jedes der beiden oberdeutschen Volksrechte „für sich ein zwar anders
gewichtetes, anders aufgebautes, aber in sich stimmiges Ganzes mit sinnvoller
gedanklicher Abfolge“ dar, „wobei aber immer noch ein gemeinsamer Bestand
ausgemacht werden“ könne (S. 102).
Die Frage, warum
in der Lex Baiuvariorum
in stärkerem Maße als in anderen Volksrechten unterschiedliche Textvorlagen
verarbeitet wurden, bleibt freilich vorerst unbeantwortet. Auf zwei
Gesichtspunkte sei in diesem Zusammenhang hingewiesen. Die Lex Baiuvariorum enthält ebenso wie die
kurze Zeit vorher aufgezeichneten langobardischen Leges Liutprandi
(713-735) deutlich mehr Begründungen als alle anderen Volksrechte. Im langobardischen Recht finden sich die Begründungen in der Novellengesetzgebung
Liutprands vor allem dann, wenn das überkommene, im
Edikt Rotharis niedergelegte Recht abgeändert wird.
Auch bei der Lex Baiuvariorum
spricht einiges dafür, dass den ausführlichen Begründungen, die teils auf
Bibelstellen, teils auf andere Erwägungen zurückgehen, die Intention zugrunde
liegt, eine neue oder umstrittene Regelung zu stützen.[9] Die
Bayern-Lex präsentiert sich uns demzufolge als ein Recht, das neben
Gewohnheitsrecht (so im Bereich der Bußenkataloge) auch in größerem Umfang
fremdes Rechtsgut rezipierte. Im Prolog setzen sich
die Redaktoren daher wohl kaum zufällig mit den Unterschieden zwischen langbewährter Gewohnheit (longa
consuetudo) und dem geschriebenen Recht (lex/constitutio scripta) auseinander. Während consuetudo
das sei, was sich aus Bräuchen ergebe und in allgemeiner Übung sei, umfasse lex alles, was aus Vernunft feststehe, der
öffentlichen Ordnung diene und das Allgemeinwohl fördere. Schon in dieser
Übernahme aus Isidors Text (liber V, 3)
deutet sich an, dass die folgenden Regelungen nicht nur überkommenes
bayerisches Gewohnheitsrecht beinhalten. Dies mag in Bayern eher als anderswo
möglich gewesen sein, weil der Volksstamm zum einen nicht auf eine so alte
Rechtstradition wie andere Stämme zurückblicken konnte und ihm zum anderen
aufgrund der Ethnogenese, die den neuen Stamm der
Bajuwaren im 5./6. Jahrhundert hervorbrachte, ohnehin Elemente verschiedener Kulturen
(u. a. Romanen, Germanen böhmischer Herkunft, Alamannen
und Langobarden) innewohnten.[10]
Es bleibt zu
hoffen, dass die These Fastrich-Suttys von einer
bewussten Auswahl und Kombination von Rechtstexten auch bei anderen Studien zu
den Volksrechten nicht aus den Augen gerät. Insbesondere bei der
Zusammenstellung von Sammelhandschriften spricht einiges dafür, dass durch
Textauswahl und Textanordnung dem fachkundigen Benutzer der praktische Umgang
mit dem geltenden Recht erleichtert werden sollte. Unter diesem Gesichtspunkt
ließen sich vermutlich auch aus den Sammelcodices neue Schlüsse für
Textgeschichte und Wirkungsgeschichte der Leges ziehen.[11]
Leipzig Eva
Schumann
[1] Zuletzt sprach sich Peter Landau, Die Lex Thuringorum – Karls des Großen Gesetz für die Thüringer, ZRG-Germ. Abt. 118 (2001), 26, Fn. 15 wieder für den Terminus „Volksrechte“ aus.
[2] LVis. II, 1, 11: Ne excepto talem
librum, qualis hic, qui nuper est editus, alterum quisque presumat habere.
[3] Peter Landau, Kanonessammlungen in Bayern in der Zeit Tassilos III. und Karls des Großen, in: Kolmer, Lothar/Segl, Peter (Hrsg.), Regensburg, Bayern und Europa, Festschrift für Kurt Reindel zum 70. Geburtstag, 1995, 137ff., insb. 148.
[4] Für die Geltung von Gewohnheitsrecht bei Schenkungen spricht etwa, dass es im Jahr 849 in einer Freisinger Tradition im Zusammenhang mit einer Schenkung heißt, dass diese legaliter sicut consuetudo Baiwariorum vollzogen worden sei (Gerhard Köbler, Zur Frührezeption der consuetudo in Deutschland, HJ 89, 337, 356).
[5] Karl
Zeumer, Leges Visigothorum, MGH LL nat. Germ. 1, 1902, 28-32: Codicis Euriciani Leges
ex Lege Baiuvariorum restitutae.
[6] Daher sei hier nachgetragen: Heinrich Brunner, Über das Alter der Lex Alamannorum, in: Rauch, Karl (Hrsg.), Abhandlungen zur Rechtsgeschichte, Gesammelte Aufsätze von Heinrich Brunner, Bd. 1, 1931, 569-598.
[7] Übersichten zu den Parallelstellen zwischen dem bayerischen und langobardischen Recht finden sich auch bei Ernst Mayer, Die oberdeutschen Volksrechte, Leipzig 1929, 8ff., 43ff.
[8] Gegen Nehlsens These spricht im übrigen auch, dass die meisten Handschriften aufgrund von Größe und Ausstattung eine Gebrauchsfunktion nahe legen. Vgl. etwa Wilfried Hartmann, Das Recht, in: Dannheimer, Hermann/Dopsch, Heinz (Hrsg.), Die Bajuwaren, Von Severin bis Tassilo 488-788, 1988, 266, 269: „Zahlreiche Handschriften der Lex haben ein sehr kleines Format und passen daher zur Vorschrift (Titel 2, 14), dass die Grafen bei Gericht den liber legis bei sich führen müssen, ‚damit sie immer ein gerechtes Urteil fällen’.“
[9] Dazu Gerhard Köbler, Die Begründungen der Lex Baiuvariorum, in: Landwehr, Götz (Hrsg.), Studien zu den germanischen Volksrechten, Gedächtnisschrift für Wilhelm Ebel, Frankfurt am Main 1982, 69ff.
[10] Rainer Christlein, Art. Bayern, Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, Stuttgart 1999, 1696,1697.
[11] So wird etwa durch die Textanordnung im Codex Sangallensis Nr. 731 aus dem Jahr 793 eine Vorstellung von der karolingisch-fränkischen Rechtsidee vermittelt. Dazu Clausdieter Schott, Der Codex Sangallensis 731, Bemerkungen zur Leges-Handschrift des Wandalgarius, in: Buchholz, Stephan/Mikat, Paul/Werkmüller, Dieter (Hrsg.), Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung, 1993, 297 ff., insb. 308 ff.; Schott, Clausdieter, Lex Alamannorum, Das Gesetz der Alemannen, Text – Übersetzung – Kommentar zum Faksimile aus der Wandalgarius-Handschrift Codex Sangallensis 731, 1993, 30ff.