Evans, Richard, Tales from the German Underworld. Crime and Punishment in the Nineteenth Century. Yale University Press, New Haven/London 1998. X, 278 S., 21 Abb.

 

Der englische Historiker Richard Evans beleuchtet mit diesem Buch in je einem eigenen Kapitel vier große Bereiche der Kriminalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Geschickt präsentiert er zu Anfang jeweils eine Fallbeschreibung, anhand derer er anschließend sozialgeschichtliche Hintergründe, Strafverfolgung und Sanktionierung behandelt. Zwei Kapitel sind überwiegend der Bestrafung von Verbrechen gewidmet: der Politik der Deportation oder der Förderung der Auswanderung von Kriminellen und Vaganten sowie der Entwicklung von Körperstrafen. Die beiden weiteren Kapitel analysieren die gesellschaftlichen Hintergründe von Hochstapelei, Heiratsschwindel, Prellerei und anderen Betrügereien sowie von Prostitution.

 

Die Frage, wie man sich der unerwünschten und die Staatskassen belastenden Population der Armen-, Arbeits- und Zuchthäuser am besten entledigen und ob Auswanderung oder die Deportation in spezielle Gefangenenkolonien in Übersee die Lösung darstellen könne, beherrschte das gesamte 19. Jahrhundert. Tatsächlich wurde die Deportation als Strafe jedoch nur einmal, von Preußen, realisiert – 1802 für rund 50 überwiegend hartgesottene Kriminelle, von denen sich nicht wenige auf dem monatelangen Fußmarsch in Richtung der sibirischen Minen diesem grausamen Schicksal durch Flucht entziehen konnten. Die Auswanderung hingegen stellte keine eigentliche Bestrafung dar, denn erst nach Abbüßung des größten Teils der Strafe konnten sich Häftlinge dafür entscheiden. Trotz des Widerstandes der USA wurde von Hannover und Sachsen-Coburg-Gotha gerade auch als gefährlich geltenden Kriminellen diese Alternative zur vorzeitigen Wiedererlangung ihrer Freiheit bis in die 1860er Jahre nahegelegt, als Politik zur Leerung der überfüllten Gefängnisse.

 

Körperliche Züchtigungen waren in Preußen auch nach 1851 nicht durchgängig abgeschafft, sondern nur aus der Öffentlichkeit verbannt und in die Strafanstalten – als Disziplinarmaßnahme – oder in die Privatsphäre abgedrängt. Evans beleuchtet hier sexual- und geschlechtergeschichtliche Aspekte: Nicht nur verletzte die Züchtigung von Frauen, auch wenn sie nur vor einer kleinen Anzahl männlicher Beobachter stattfand, zunehmend das sittliche Gefühl, Frauen waren auch als Zuschauer nicht mehr tolerabel. Wenig später wurden Schläge und Peitschenhiebe im Diskurs sexuell aufgeladen; nun sorgte man sich über die vermutete erregende und korrumpierende Wirkung auf die Ausführenden und die männliche Zuschauerschaft.

 

Einen weiteren geschlechtergeschichtlich interessierenden Punkt zeigt Evans am Beispiel der Regulation der Prostitution auf. Die zwangsweise Registrierung der betroffenen Frauen und ihre Internierung in staatlich kontrollierte Bordelle diente der Polizei zur Einschüchterung von Frauen allgemein: „regulation facilitated in the most direct possible way the intimidatory exercise of the male claim to monopolize this public spheres“, nämlich die zentralen Orte in Berlin wie Friedrichstraße und Unter den Linden (S. 205).

 

Als Resümee besonders der Abschnitte über die körperliche Züchtigung und die Regulierung der Prostitution gelangt der Autor zu einer für die allgemeine deutsche Geschichte wesentlichen Schlussfolgerung. Deutschland ging in Strafrecht und Strafvollzug im 19. Jahrhundert keinen Sonderweg. Es schaffte Körperstrafen und öffentliche Hinrichtungen früher ab als England oder Frankreich, war also im „Zivilisationsprozess“ nicht weniger fortgeschritten als andere europäische Staaten. Evans diagnostiziert zwei problematische Faktoren: die Militarisierung, Autonomie und Gewalttätigkeit der Polizei im Zusammenhang mit deren Anspruch, die öffentliche Moral und das individuelle Verhalten zu kontrollieren; und den Einfluss sozialdarwinistischer Ideologien, der in Deutschland stärker war als in anderen Ländern. In der Kriminalität erblickten die Sozialdemokraten das Produkt von Armut und Ausbeutung, zunehmend breitere Wirkung aber entfaltete ein Modell, das Kriminalität als Ausdruck zunächst von fehlender Moral, Religiosität, Primitivität und Triebhaftigkeit, später von erblicher Degeneration wahrnahm und damit eugenischen Maßnahmen den Weg ebnete. Hinzu kam die hysterische und realitätsferne Furcht einer Verschmelzung von Kriminalität, Zuhälterei und revolutionären Umtrieben zur allgemeinen sozialen Gefahr. Die politische Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg bereitete die Atmosphäre, aus der heraus Deutschland mit den nationalsozialistischen Maßnahmen u. a. der Verbrechensbekämpfung vom Pfad abwich, den andere europäische Länder beschritten.

 

Insgesamt liegt hier ein lesenswertes Werk vor, das mehr bietet als anschauliche „tales“.

 

Anschau                                                                                                         Eva Lacour