Dreier, Horst/Pauly, Walter, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus (in: Veröffentlichung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 60). De Gruyter, Berlin 2001. (S. 9-147 von insgesamt) 733 S.
Verfassungsumbrüche verändern die Grundwerte der Staats- und Gesellschaftsordnung, führen zu neuen Staats-, Rechts- und Sozialidealen. Deutschland ist „reich“ an einschlägigen Erfahrungen aus seinen Systemwechseln von 1918/19, 1933, 1945/49 und 1989/90.
Wechsel der Verfassungen und der politischen Systeme lösen in allen staatsnahen Wissens- und Lebensbereichen eine spezielle Art von Literaturproduktion aus, die man als „Wendeliteratur“ bezeichnen kann[1]. Der Begriff bezeichnet die in solchen Wendezeiten (von den Anhängern des Umbruchs oft feierlich als „Zeitenwenden“ gefeiert) zahlreichen Beiträge, die von Autoren der verschiedenen Disziplinen zur Rechtfertigung oder Kritik des jeweiligen Systemwechsels verfasst werden[2].
Wendeliteraturen werden dem ersten Anschein nach von einzelnen Autoren geschrieben. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die Verfasser in der Regel bestimmten „Sozialisationskohorten“ angehören. Das sind nach dem Sprachgebrauch der Soziologie und Sozialgeschichte Gruppen von Menschen, die durch gemeinsame biographische Erlebnisse und Faktoren geprägt sind[3]. Diese Hinweise auf „Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen“ spielen für das Verständnis des hier vorzustellenden Teiles der deutschen Staatsrechtslehrertagung vom 4.–6. Oktober 2000 in Leipzig eine wichtige Rolle. Denn Verbände vereinen nicht selten eine oder mehrere Sozialisationskohorten.
Wendeliteraturen entstehen in der Regel in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den Umwälzungen, auf die sie sich beziehen. Das gilt besonders für die juristischen Berufe. Die Rechtsanwender und die Jurisprudenz suchen nach dem jeweiligen Umbruch die für die „neue Ordnung“ angemessenen Rechts- und Staatstheorien sowie die geeigneten Interpretationsmethoden. Systemwechsel lösen daher neben den Grundsatzdebatten über Inhalt und „Wesen“ der neuen Staats- und Rechtsordnung in aller Regel auch lebhafte Methodendiskussionen aus. Das ist in den Rechtsliteraturen nach 1919, 1933 und 1945/49 vielfältig belegbar[4].
Das Thema „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“ stand in dieser Präzision nach 1945 zum ersten Mal im Jahre 2000 auf dem Programm einer Jahrestagung der VDStRL. Diese Tatsache verdient Beachtung, vielleicht sogar eine spezielle Besinnung auf die verbandssoziologischen Gründe für diese hinausgeschobene Behandlung der eigenen Disziplin- und Verbandsgeschichte. Immerhin waren zu diesem Zeitpunkt 55 (fünfundfünfzig) Jahre seit dem Zusammenbruch des NS-Regimes und 51 Jahre seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vergangen. Es ist eine reizvolle Frage und Vorstellung, wie eine Tagung der VDStRL zu dem selben Thema (Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus) verlaufen wäre, wenn sie etwa 1955 oder 1965 in Göttingen, München, Köln, Würzburg oder Hamburg unter Mitwirkung der Zeitzeugen stattgefunden hätte.
Ungeachtet der Verspätung des Themas im Jahr 2000 gereicht es der
Vereinigung auch jetzt noch zum Verdienst, der fälligen Auseinandersetzung mit
dieser Materie, die ja unvermeidlich ein Stück Verbandsgeschichte darstellt,
gegen fortdauernde interne Bedenken und Widerstände nicht länger ausgewichen zu
sein. Als eine Vereinigung der in diese Problematik besonders verwobenen
Hochschullehrerschaft ist die VDStRL im Umfeld der übrigen juristischen
Teildisziplinen immer noch geradezu progressiv. Die entsprechenden Verbände der
Zivil- und Strafrechtler hätten zu einer vergleichbaren unfassenden
Bestandsaufnahme ihrer Geschichte in zwei deutschen Diktaturen ebenfalls
durchaus Anlaß. Und was die „Deutsche Sektion der Internationalen Vereinigung
für Rechts- und Sozialphilosophie“ auf einer Tagung in Berlin 1982 vorgelegt
hat, war, sieht man von manchen naiven Selbstgerechtigkeiten einer Generation
der Nachgeborenen ab, wenig mehr als die risikolose Übernahme bereits
vorliegender Forschungsergebnisse.[5]
Andererseits hat die „Verspätung“ auch Vorteile. Der Generationenabstand ist für die unbefangene Wahrnehmung der historischen Fakten und Strukturen eher günstig. Die „Schulen- und Kohortenbindungen“, etwa auch in der Aussprache, sind sicher weitgehend zurückgetreten, wenn auch bisweilen weiterhin wahrnehmbar. Die Versäumnisse der vergangenen Jahrzehnte bleiben allerdings als Faktum bestehen und beachtenswert.
Die VDStRL steht mit dieser Verspätung nicht allein. Die deutschen Historiker haben die Rolle ihrer Disziplin in ihrem Verband ebenfalls erst auf einer sehr späten Tagung erörtert. Sie fand nicht etwa 1970 in Bielefeld oder Bochum, sondern erst 1998 in Frankfurt am Main statt und förderte Erstaunliches zutage[6]. Daraus entwickelte sich der zweite deutsche Historikerstreit, in dem die Ankläger in der ersten, gegen Ernst Nolte gerichteten, Kontroverse sich zu Verteidigern ihrer in der Rassenpolitik des NS-Regimes verstrickten renommierten Lehrer (Conze, Erdmann und T. Schieder) verwandelten[7].
Bei einer sachgerechten Einschätzung dieser Jahrestagung ist zu bedenken: Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer ist kein Berufsverband wie jeder andere. Das gilt für ihre Selbsteinschätzung wie für die von ihr geleistete Arbeit. Sie hat in den 80 Jahren seit ihrer Gründung auf die inhaltliche und die personelle Entwicklung dieser staatspolitisch wichtigen Disziplin maßgebliche Steuerungs- und Disziplinierungsfunktionen ausgeübt. Das zeigen auch die gelegentlich heftigen verbandsinternen Kontroversen über die Qualifikation und Eignung von Kandidaten für Neuaufnahmen. Die Vereinigung verkörpert in den verschiedenen Epochen seit 1922 unstreitig einen nicht ganz unbedeutenden wissenschaftlichen und politischen Einfluß.
Die Wahl des Themas für diese Tagung war, wie auch die dokumentierte Diskussion in Leipzig erkennen läßt (S. 106-147), auch im Jahre 2000 noch nicht ganz problemlos. So merkte etwa E. W. Böckenförde an, daß er noch 1993 mit einem Seminar zum selben Problemkreis als „Einzelkämpfer“ erheblichen „Schwierigkeiten ausgesetzt“ gewesen sei. Böckenförde war damals immerhin Richter am Bundesverfassungsgericht. Hier hätte man gern Näheres erfahren: Wer waren die Urheber und Akteure der Schwierigkeiten? Welcher Art waren sie? Die verbandssoziologischen Hintergründe sind insoweit das wirklich fesselnde Thema.
Um es vorwegzunehmen: Der Historikertagung 1998 vergleichbare neue Erkenntnisse konnten die beiden Berichte von Horst Dreier und Walter Pauly auf der Staatsrechtslehrertagung 2000 in Leipzig nicht zutage fördern. Die Staatslehre und das Staatsrecht sowie die sehr unterschiedlichen Schicksale von Staatsrechtslehrern in der NS-Zeit waren im wesentlichen etwa seit der Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von zahlreichen Autoren ausführlich untersucht und beschrieben worden, durchaus nicht nur von Juristen. Die Bibliographie dieser seit langem vorhandenen „Vorarbeiten“ würde einen ganzen Band füllen. Die beiden Berichterstatter standen also vor der nicht leichten und eher undankbaren Aufgabe, die vorhandenen Forschungsergebnisse in dem für ein Referat vorgegebenen, bescheidenen Umfang knapp zu systematisieren. Sie haben im wesentlichen die vorhandenen Quellen zum Staatsrecht beschrieben. Die verfügbaren Vorarbeiten in den übrigen Rechtsdisziplinen hätten insofern Berücksichtigung verdient, als dort auch allgemeine Deutungen und Erklärungsversuche zu finden gewesen wären. Horst Dreier hatte dabei in seinem Beitrag von immerhin 62 Druckseiten - gegenüber den 26 Seiten des zweiten Berichterstatters Walter Pauly – die Chance der schärferen Unterscheidung und Konturierung.
Ergänzend zu den beiden Berichten hat Heinrich Wilms zum Thema der Tagung einen sehr konzisen und informativen Beitrag veröffentlicht, der im wesentlichen zu übereinstimmenden Ergebnissen kommt, die geistesgeschichtlichen Hintergründe und manche Einzelheiten aber besonders anschaulich und mit zahlreichen zusätzlichen Quellenbelegen ausleuchtet.[8]
Er referiert
aus bekannten Quellen die Lage der Staatsrechtslehre nach 1933 in ihrer
„personellen Neuformation“ (S. 15ff.), die durch die Vertreibung rassisch und
politisch unerwünschter Hochschullehrer ermöglicht wurde. Nicht erörtert wird
die Frage, wie die massenhafte Vertreibung teils international berühmter
Vertreter des öffentlichen Rechts (Kelsen, Loewenstein, Nawiasky, Heller,
Jacobi, E. Kaufmann, W. Jellinek, Leibholz u. a.) auf die verbliebenen Kollegen
wirkte, insbesondere auf die Nachfolger an den „judenfrei“ gemachten
Lehrstühlen und Fakultäten. Es handelte sich um die Entfernung von auf
Lebenszeit berufenen Beamten. Sahen ihre Fach- und Fakultätskollegen das im
Hinblick auf das verlogen betitelte „Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“ vom 7. 4. 1934 bedenkenlos als „rechtmäßig“ an?
Über den wahren Charakter des neuen Regimes war, so Dreier zutreffend, nach dem 30. Juni 1934 Klarheit geschaffen. Er nennt das den „sog. Röhmputsch“. Die Bezeichnung täuscht darüber hinweg,
(1) dass ein solcher Putsch nicht stattgefunden hatte, sondern allenfalls von Hitler befürchtet wurde,
(2) dass auf Befehl Hitlers von den Todeskommandos seiner „Schutzstaffel“ auf seinen Mordbefehl nahezu 100 Menschen in einer Nacht- und Nebelaktion – ohne Gerichtsverfahren, ohne gesetzliche Voraussetzungen sonstiger Art – umgebracht wurden,
(3) dass mehr
als die Hälfte der so Ermordeten mit der SA und Röhm nichts zu tun hatte,
darunter zwei Generale der Reichswehr (von Schleicher mit Ehefrau und von
Bredow), der Vorsitzende der Katholischen Aktion in Berlin, Erich Klausener,
und der Berater des Regierungsmitglieds von Papen, Edgar Jung.
Dieser erste
Massenmord Hitlers wurde - ganz im Sinne des neuen „Führerstaates“ von C.
Schmitt so gefeiert:
„Der
Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick
der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht
schafft (!) ...“[9]
Beide Berichte gehen über die realen Vorgänge um den 30. Juni 1934
seltsam vage hinweg (Dreier, S. 19f.; Pauly, S. 89f.. Pauly verkürzt den
Tatbestand auf die „Ermordung der SA-Führung“ nach dem „sog. Röhm-Putsch“.
Dreier verwendet ebenfalls die Formel vom „sog. Röhm-Putsch“. Von der großen
Zahl und der politischen Bedeutung der nicht zur SA gehörenden Ermordeten ist
in beiden Berichten nicht die Rede, obwohl dieses erste große rechtlose
Massaker gerade durch diese Morde seine besondere staatsrechtliche Dimension
bekam. Immerhin war der zusammen mit seiner Ehefrau umgebrachte von Schleicher
der vormalige Reichskanzler und ein General der Reichswehr. Die Reichswehr
kuschte vor dem Diktator, obwohl mit von Bredow ein weiterer ihrer Generale
ermordet worden war. Lag hier vielleicht ein bedeutsamer Wendepunkt, weil auch
die gesamte amtierende Staatsrechtslehrerschaft teils jubelte (Schmitt, Huber,
Küchenzoff), teils schwieg?.
Die Staatsrechtslehre hatte in diesem Autorensegment offenbar das neue
Staatsbild vom totalitären, völlig ungebundenen Führerstaat bereits nach dem
ersten Jahr der Diktatur voll verinnerlicht. Der Befehl des Diktators zum Massenmord
„schafft Recht“, nicht erst 1942 bei der „Endlösung der Judenfrage“, sondern
bereits bei der ersten einschlägigen Vernichtung von „Feinden“ des neuen
Regimes. Der Vorgang bezeugt nicht nur ein neues Staatsbild, er sagt zugleich
etwas aus über die Staatsrechtslehre und ihre Vertreter jener Epoche, die
darin, mit wenigen Ausnahmen, keinen Anlaß zur (mindestens inneren)
Distanzierung sahen.
Dreier stimmt den vorliegenden Forschungsergebnissen zu, wenn er den
Negativkonsens derer beschreibt, die bereit waren, das neue Führerregime
staatsrechtlich und rechtstheoretisch zu legitimieren. Man war nach 1933 in
kollektiver Eintracht, sei es aus Überzeugung oder aus Anpassung antiliberal,
antiparlamentarisch und antisemitisch (S. 24-31. Viele brachten die Abneigung
gegen die Parteiendemokratie schon aus der Weimarer Zeit mit. Beispielhaft
dafür ist auf C. Schmitt hinzuweisen[10].
Die für die Berichterstatter zentrale Frage beider Berichterstatter
lautet: Hat es eine eigenständige „nationalsozialistische Staatsrechtslehre“
überhaupt gegeben?
Ob sie so zentral ist, wie diese meinen, kann man bezweifeln. Die für
das NS-Regime typische Verschmelzung von Staatsrecht und Politik war für
jedermann klar und von den Machthabern gewollt. Die Testfrage wäre gewesen, ob
es damals präzise wissenschaftliche Aussagen zur Politikfestigkeit des
Staatsrechts oder des Rechts insgesamt gegeben hat.
Dreier geht seiner Hauptfrage nach, indem er drei Grundelemente der
staatsrechtlichen Literatur der Zeit herausarbeitet, nämlich den „völkischen
Staat „ (S. 32ff.), den „Bewegungsstaat“ (S. 40ff.) und den „Führerstaat“ (S.
46ff.). Pauly schildert die Entwicklung der Staatsrechtslehre etwas weniger
differenziert unter dem Titel „Die Auflösung der rechtsdogmatischen Figuren“
(S. 88). Er geht dabei von einem Diktum C. Schmitts aus, der 1936 gegenüber
Hans Peters geäußert hatte, vom Nationalsozialismus werde „das ganze
Staatsrecht ruiniert“ (S. 88 mit Fn. 58).
Im Hinblick auf die eifrige Produktionsphase Schmitts zwischen 1933 und
1936 liegt die Frage nahe, wer damals in persona das Staatsrecht ruiniert habe.
Beide Berichte kommen – mit unterschiedlicher Klarheit der Begründung – zu dem
Schluß, dass die vagen, schwammigen und oft widersprüchlichen Inhalte der
NS-Ideologie eine dogmatisch strukturierte Staatsrechtslehre nicht hätten
entstehen lassen (Dreier, S. 59ff.; Pauly, S. 79ff.). Der unablässige
„Dynamismus und nicht nachlassende Daueraktivismus“ der Machthaber habe das
Regime unfähig gemacht, „eine stabile und reproduktionsfähige Identität
auszubilden“. Alle genannten Elemente des völkischen, des Bewegungs- und des
Führerstaates seien rein politische Aktionsbegriffe ohne inneres Maß und feste
äußere Form geblieben (Dreier). So sei der Staatsrechtslehre zunehmend das ihr
eigene Objekt verloren gegangen. Ein Staatsrecht ohne klaren Staatsbegriff sei
undenkbar. Nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, auch die Ordnungsstaatlichkeit
sei nach der zutreffenden Analyse Sebastian Haffners[11]
zerstört worden. Geschah das ohne Zutun der eigenen Disziplin?
Die Feststellung erscheint nur auf den ersten Blick ebenso verblüffend
wie plausibel. Sie verlangt aber nach einer Ergänzung. Es gab in der Zeit des
Nationalsozialismus eine Menge hochbegabter Staatsrechtslehrer, die dem Regime
nicht nur in den Anfangsjahren Legalität, Legitimität und Identität zusprachen.
Als der Rechtsstaat und der Ordnungsstaat Schritt um Schritt pervertiert
wurden, versuchte eine umfangreiche Literatur die herrschenden Verhältnisse als
den neuen „nationalsozialistischen Rechtsstaat“ nicht nur zu erklären, sondern
zu verklären[12].
Der Abbau der Grundrechte und aller rechtsstaatlichen Schutzgarantien des
Einzelnen gegenüber dem Staat wurde von den namhaftesten Gelehrten des
Staatsrechts gefordert und dogmatisiert. Stellvertretend für viele ist hier nur
an die führenden Lehrbücher der Epoche von E. R. Huber „Verfassung“ (1937) und
„Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ (1939) zu erinnern. Beteiligt
waren in ähnlicher Weise auch solche Autoren (Maunz, Köttgen, Forsthoff u. v.
a.), die nicht lange danach die Dogmatik des Grundrechtgesetzes ausfeilten. Mit
anderen Worten. Die Staatsrechtslehre der Diktatur hat offenbar auch ohne einen
fassbaren Staatsbegriff scheinbar „problemlos“ produzieren können.
Die Proklamation des „völkischen Staates“ war das Einfallstor für
Hitlers Antisemitismus in die Rechtsordnung. Der Rassenwahn des
Nationalsozialismus gipfelte im Völkermord an den Juden. Dreier (S. 37ff.) hebt
diesen Aspekt besonders hervor. Auf dem Weg zur Vernichtung des europäischen
Judentums mit den Stationen „- erstens Definition, zweitens Isolation, drittens
Konzentration, viertens Deportation und Liquidation – haben Staatsrechtslehrer
>nur< die beiden ersten beschreibend und erläuternd begleitet, auch dies
überwiegend eher zurückhaltend“, so meint Dreier (S. 37ff, 39f.). Zu überlegen
wäre dazu, ob und wo zu diesem Thema Äußerungen von Staatsrechtslehrern zu
erwarten gewesen wären.
Zutreffend daran ist, dass in der juristischen Literatur das Wort
„Judenvernichtung“ in der Regel nicht verwendet wurde[13].
Das Problem, wie die Rechtswissenschaft der NS-Zeit, auch die
Staatsrechtslehre, sich zur endgültigen „Behandlung“ der Juden stellte, ist
allerdings komplexer als es bei Dreier erscheint. Dreier weist selbst auf
mehrdeutige Äußerungen G. Küchenhoffs[14]
und eine eindeutige Aussage W. Bests hin (S. 40):
„Vernichtung und Verdrängung fremden Volkstums
widerspricht nach geschichtlichen Erfahrungen den Lebensgesetzen nicht, wenn
sie vollständig geschieht.“[15]
Nach U. Scheuner folgte aus der Forderung nach völkischer Artgleichheit
„notwendig
die Absonderung der artfremden Elemente, insbesondere der Juden, aus dem
deutschen Volkskörper.“[16]
Ob
dieses Zitat vielleicht doch schon den Übergang von der „Konzentration“ zur
„Deportation“ der Juden andeutet?
Die Verirrungen des zum völkischen Lebensgesetz erhobenen Rassenwahns
werden deutlich in einem programmatischen Diktum Erik Wolfs, das er unter dem
Titel „Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates“ 1934 publizierte.
Er betonte darin die Rassezugehörigkeit als Voraussetzung des vollen
Bürgerrechts, das jetzt „Rechtsstandschaft“ heißen sollte:
„Rechtsstandschaft also besitzt (lies: „nur“ /B.
R.), wer artgleich ist, ständisch in die Arbeitsfront des schaffenden Volkes
eingegliedert ist und die überlieferten Werte und Güter der Nation achtet.“[17]
Die Beschränkung der Rechtsstandschaft auf artgleiche Volksgenossen
wurde bildhaft erläutert:
„Dann braucht der alte Stamm des deutschen Rechts
die Stürme nicht fürchten, die noch kommen mögen, und wird in urwüchsiger Kraft
auch dem Geziefer (!) trotzen, das wohl in seiner Rinde nisten, aber das Mark
nicht schädigen kann.“[18]
Die Geziefer-Metapher spricht eine – wohl unbewusst – klare Sprache. In
diesem Bild geht es nicht mehr um Definition, Isolation oder Konzentration.
Geziefer darf oder soll sogar vernichtet werden, wenn es stört. Die Rechtslehre
und manche ihrer Vertreter waren im Rausch des Nationalsozialismus offenbar
blind geworden für de Folgen ihrer Theorien. Wie anders konnte Karl Larenz 1935
schreiben:
„Blut muß Geist, Geist muß Blut werden. ... Weil
der Geist verfallen kann, muß das Blut den Geist wagen. Der Geist aber wird
gewinnen, wo er sich aus dem Blute erneuert.“[19]
Larenz hat viele Jahre später in Briefen angedeutet, er sei eigentlich
von der Absicht geleitet gewesen, die zur Macht gelangten Nationalsozialisten
auf einen „vernünftigen Weg“ im Sinn der philosophischen Traditionen des
deutschen Idealismus zu bringen. Auch Pauly weist auf dieses Selbstverständnis
von Larenz im Sinn eines heimlichen, gleichsam hegelianisch motivierten
Widerstandes hin (Pauly, S. 83 mit Fn. 35). Liest man die Beiträge dieses
Autors in der NS-Zeit daraufhin kritisch durch, so darf jedenfalls eine absolut
perfekte Tarnung dieser Absicht festgestellt werden. Die beiden fraglichen
Briefe von 1967 (an Erdmann) und 1987 (an Ralf Dreier) sind wohl in die lange
Reihe „Geschönter Geschichten und geschonter Biographien“[20]
einzuordnen. Erstaunlich ist angesichts der offenkundigen Publikationen die
unkritische Übernahme solcher Deutungen in der Gegenwart[21].
(Erdmann und Larenz waren übrigens insoweit durch ein ähnliches
Autorenschicksal in der NS-Zeit verbunden).
Dem Rezensenten ist aufgefallen, dass in beiden Berichten jedes Wort
über das für den Staatsaufbau so wichtige Gebiet des Beamtenrechts fehlt.
Gerade hier wurde der revolutionäre Wandel des Staatverständnisses mit dem
„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 und
seinen Durchführungsbestimmungen wenige Wochen nach der Machtübergabe besonders
krass deutlich. Hunderte von beamteten Hochschullehrern, darunter Gelehrte von
Weltruf, wurden aus ihren Ämtern gejagt, worauf Dreier ausführlich hinweist (S.
15ff.). Das Gesetz vom 7. April 1933 diente u. a. dazu, die deutschen
Rechtsfakultäten in kurzer Frist „judenfrei“ zu machen. Die vertriebenen
Kollegen waren allen bekannt.
Das Thema Beamtentum und Beamtenverhältnis spielte sowohl im NS-Staat
wie in der Bundesrepublik nach 1949 eine große Rolle. Die Staatsrechtslehrer
haben sich in dieser Materie in beiden Epochen außerordentlich engagiert
geäußert. Das ist in repräsentativer Auswahl nachzulesen in den zwei
Beamtenurteilen des Bundesverfassungsgerichts 1953[22]
und 1957[23].
Zahlreiche Staatsrechtslehrer hatten das erste Urteil heftig kritisiert, weil
das Gericht darin festgestellt hatte, alle Beamtenverhältnisse seien - entgegen
der Ansicht des BGH[24]-
am 8. Mai 1945 erloschen. Im zweiten Urteil hat dann das
Bundesverfassungsgericht seine Kritiker (Köttgen, H. Krüger, Giese, Helfritz,
Reinhardt, Fischbach, Papst, Jerusalem, Koellreutter, Wacke, W. Weber, E. R.
Huber, von Laun) mit ihren zahlreichen und eindringlichen Äußerungen aus der
Zeit von 1945 konfrontiert[25].
Es kommt zu dem Schluss:
„Das Gericht kann sie nicht als >Lügen< oder >Unsinn<
oder >krauses Zeug< abtun, schon deshalb nicht, weil sie zu einem
wesentlichen Teil von Verfassern stammen, die auch jetzt das Beamtenrecht
wissenschaftlich behandeln, und weil kein Grund ersichtlich ist, ihren
damaligen Äußerungen weniger Ernst zuzuerkennen ist als den heutigen.“[26]
Und ferner:
„Der an sich verständliche Wunsch einzelner
Autoren, von ihren ... Äußerungen abzurücken, darf nicht dazu führen, diese
Äußerungen auch in ihrem damaligen Aussagewert zu verkleinern. Dass die im
Urteil angeführten Zitate die damals so gut wie einhellig vertretene
rechtswissenschaftliche Meinung richtig wiedergegeben haben, ist ... evident
und jedenfalls für das Bundesverfassungsgericht gerichtsbekannt.“[27]
Es ging dabei nicht nur um die Fortdauer der Beamtenverhältnisse,
welche die bezeichneten Autoren im eigenen Interesse, entgegen ihren früheren
Ansichten, reklamierten, sondern es ging im Kern um das Staatsverständnis, um
die Frage, welcher Art von Staat die Beamten ihre Treue mit dem Eid auf den
Führer Adolf Hitler geschworen hatten.
Damit ist zugleich die schwierige Grundsatzfrage angesprochen, ob es
auch in der Staatsrechtslehre nach 1945 verdeckte oder offene Kontinuitäten
gegeben habe (Dreier, S. 74ff.). Sie ist m. E. für alle Rechtsgebiete, auch für
die Staatsrechtslehre, differenzierter zu beantworten, als das in den beiden
Berichten angedeutet wird[28].
Besonders in der juristischen Begriffsbildung und in der Methodenlehre sind
Nachwirkungen und Verdrängungen der Erfahrungen aus der NS-Zeit und anderen
Systemwechseln unverkennbar und vielfältig belegt. Dreier (S. 69) stellt
dagegen die These auf, dass es
„keine substantiellen Fortwirkungen
nationalsozialistischer Denkweisen in der Staatsrechtslehre gab. Etatistische
oder konservative Positionen hielten sich im normalen Spektrum funktionierender
Verfassungsstaaten.“
Diese pauschale Aussage erscheint zweifelhaft. Übersehen wird dabei,
daß die Auseinandersetzung mit der Rechtstheorie und Staatsrechtslehre des
Nationalsozialismus in der Bundesrepublik bis in die späten 60er Jahre des
vorigen Jahrhunderts weitgehend unterblieb. Die Koryphäen der Zeit vor 1945,
die nach kurzen Warteschleifen nahezu sämtlich wieder im Amt waren, mieden ganz
überwiegend die Disziplingeschichte der NS-Zeit wie der Teufel das Weihwasser.
Richtig ist, dass niemand daran dachte oder es wagte (Beispiel Theodor Maunz),
alte NS-Thesen des Staatsrechts, der Rechtsphilosophie oder der Methodenlehre
zu verkünden. Das war nach 1989/90 anders, als viele Bannerträger des realen
„DDR-Sozialismus“ (Hermann Klenner, Uwe Jens Heuer u. v. a.) gleich nach der
Wende das gute juristische Erbe des Marxismus-Leninimus öffentlich feierten. An
verdeckten Kontinuitäten hat es aber auch in der Bundesrepublik auf fast allen
Rechtsgebieten nicht gefehlt.
Für das Staatsrecht verweise ich neben dem Polizeirecht und dem
Raumordnungsrecht etwa auf Ernst Forsthoffs „Der Staat der
Industriegesellschaft“ von 1971[29].
Das Buch versuchte einen antimodernistischen Staatsbegriff zu konservieren, der
mit einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung schwerlich zu vereinbaren war. Es
zeigt in der Polemik gegen die Vereinbarkeit von Rechtsstaat und Sozialstaat
die Zählebigkeit überholter autoritärer Staatsleitbilder[30].
In der Methodenlehre bieten die ersten Auflagen von Larenz’
„Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ (1960-1974) mit ihren Bezugnahmen auf
die Lehre vom „konkret-allgemeinen“ Begriff bemerkenswerte Kostproben der
bewussten und gezielten Geschichtslosigkeit. Im Arbeitsrecht bildete noch in
der fünften Auflage des Grundrisses von Hueck/Nipperdey (Vorwort) die „echte
Volksgemeinschaft“ ein zentrales Regelungsziel des Arbeitsrechts. Die Maßstäbe
der sozialen Rechtfertigung einer Kündigung des Arbeitsvertrages nach dem
„ultima-ratio“-Prinzip werden bis heute in einer Parallele zum NS-Ehegesetz von
1938 praktiziert[31].
Die lange „Schweigespirale“ in der westdeutschen Nachkriegsjurisprudenz
gegenüber der Rechtsgeschichte im NS-Regime hat die Tarnung und Verdrängung
dieser Kontinuitäten gefördert und die rechtzeitige Aufklärung verhindert.
Warum sollte es gerade im Staatsrecht keine verdeckten Fortwirkungen gegeben
haben?
Zurecht weist Pauly (S. 97ff., 105) darauf hin, dass die
Staatsrechtswissenschaft auch in der NS-Zeit auf Teilgebieten, besonders im
Verwaltungsrecht (Systematisierung der Verwaltungsaufgaben durch Arnold
Köttgen, Konzept der staatlichen „Daseinsvorsorge“ Ernst Forsthoffs) auch
innovativ und traditionsbildend gewirkt habe.
Dreier (S. 62ff.) erwähnt in diesem Zusammenhang auch die von Carl
Schmitt 1938 entwickelte und neu benannte Formel „Völkerrechtliche
Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1939, 4. Aufl.
1941) und meint „das Analysepotential dieser Großraumtheorie“ weise im Hinblick
auf die Europaidee damals und heute „über deren Entstehungszusammenhang hinaus“
(S. 72). Dabei wird fälschlich unterstellt, die Europaidee von heute sei eine
„Großraumidee“ mit entsprechenden Hegemonieansprüchen. Aber selbst wenn das
zuträfe, („Großreiche“
mit umfassenden geopolitischen Interessen sind weder neu noch obsolet),
verdiente der „Entstehungszusammenhang“, der Schmitt 1939 zum Schreiben
veranlasste, eine notwendige Erwähnung, die bei Dreier fehlt. Schmitt wendete
sich nach dem Verlust seiner Ämter 1936 völkerrechtlichen Themen zu. Er schrieb
jetzt sein „Freund-Feind-Schema“ aus dem „Begriff des Politischen“ (1927) auf
die Interessen des kriegsbereiten totalen Staates fort. Die Geschwindigkeit
seiner Produktion ähnelt jetzt wieder seiner literarischen Hektik zwischen 1933
und 1936. Mit dem Thema „Großraum“, es konnte nur der ersehnte germanische
Lebensraum gemeint sein, trifft er genau die imperialen Sehnsüchte des
erträumten 1000-jährigen Reiches. Die Welt sollte unter den „Achsenmächten“ neu
in Großräume aufgeteilt werden. Dazu passt der Zeitpunkt nach dem Einmarsch in
Österreich (März 1938), nach der Abtretung des Sudentenlandes (Oktober 1938),
nach dem Einmarsch in die „Rest-Tschechei“ (März 1939). Am 1. April 1939
vertrat Schmitt auf einer Arbeitstagung in der Kieler „Stoßtrupp“-Fakultät das
„Großraumprinzip“ als das beherrschende Bauelement einer künftigen Theorie des
Völkerrechts[32].
Wie klar das den unmittelbar bevorstehenden Angriffskrieg Hitlers legitimieren
sollte, wird durch Zusätze Schmitts in der vierten Auflage der Großraum-Schrift
1941 deutlich. Dort heißt es jetzt:
„Die Tat des Führers hat dem Gedanken unseres
Reiches politische Wirklichkeit, geschichtliche Wahrheit und eine große
völkerrechtliche Zukunft verliehen.“[33]
Geschrieben wurde das am Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion. Den
zweiten Weltkrieg definierte Schmitt, ganz im Sinne des Diktators, als
„Raumrevolution“[34].
Betrachtet man Inhalt und zeitlichen Kontext der Entstehung dieser Theorie
Schmitts von der Großraumordnung, so wird man nachdenklich, ob das
„Analysepotential dieser Großraumtheorie ... über deren Entstehungszusammenhang“
in einem positiven Sinne hinausweisen kann (Dreier, S. 72). Sie wies eher einen
Irrweg, der Deutschland politisch, militärisch, ökonomisch und moralisch ins
Verderben führte[35].
In seinem Schlussabschnitt kommt Dreier (V. Ende und Neubeginn, S.
67ff.) auf einige literarische „Schwenkversuche“ führender NS-Autoren des
Staatsrechts kurz vor dem absehbaren Zusammenbruch des NS-Staates zu sprechen.
Huber schrieb jetzt über Goethe, Scheuner über Waffenstillstandsrecht, Maunz
über die spanische Großmachtzeit. Schmitt hielt in den Jahren 1943/44 an
mehreren europäischen Rechtsfakultäten denselben Vortrag „Die Lage der
europäischen Rechtswissenschaft“, und zwar im Februar 1943 in Bukarest, im Mai
1943 in Spanien, im November 1943 in Budapest, im Mai/Juni 1944 in Portugal und
im Dezember 1944 noch in Leipzig. Die Grenzen waren für ihn offenbar immer noch
offen. In deutscher Sprache wurde der Vortrag erstmals 1950, also fünf Jahre
nach der Kapitulation gedruckt[36].
Eine ungarische Fassung erschien bereits 1944[37].
Die beiden Fassungen weisen erhebliche inhaltliche Unterschiede auf.
In der deutschen Publikation (1950) steht u. a. der Satz:
„Wir können uns die wechselnden Machthaber und
Regime nicht nach unserem Geschmack aussuchen, aber wir wahren in der wechselnden
Situation die Grundlage eines rationalen Mensch-Seins, das der Prinzipien des
Rechts nicht entbehren kann. Zu diesen Prinzipien gehört eine auch im Kampf
nicht entfallende, auf gegenseitiger Achtung beruhende Anerkennung der Person
...“.[38].
Das klingt fast wie eine radikale Abkehr vom Nationalsozialismus oder
wie gut getarnter innerer Widerstand. Jetzt sind die Juristen offenbar nicht
mehr „Mitarbeiter des Führers“, wie 1936[39],
sondern Garanten eines „unzerstörbaren Kerns allen Rechts“ und der auf gegenseitiger
Achtung beruhenden Anerkennung der Person“. 1944 gesprochen, wäre das in der
Tat ein Indiz für eine innere Umkehr gewesen.
In der ungarischen Druckfassung von 1944 fehlt diese Aussage, nach der
die Juristen sich die wechselnden politischen Machthaber und Regime nicht
aussuchen können, leider ganz[40].
Dass Schmitt den Satz vor 1945 mündlich vorgetragen, aber aus der Druckfassung
gestrichen haben sollte, darf als unwahrscheinlich gelten. Dagegen spricht die
Tatsache, dass im ungarischen Text die politischen Aussagen gegenüber der
deutschen Publikation von 1950 insgesamt erheblich abgemildert, teils nur in
Andeutungen enthalten sind. Jedenfalls gibt die deutsche Fassung von 1950 wohl
nicht den Text wieder, den Schmitt 1944 in Budapest vorgetragen hat. Dabei ist
ferner zu beachten, dass es sich nicht um die letzte Publikation Schmitts vor
dem Zusammenbruch des NS-Regimes handelt. In einem Sammelband des
„Reichsinstituts für Seegeltungsforschung“ veröffentlichte er ebenfalls 1944
einen Beitrag „Die letzte globale Linie“[41].
Er rechtfertigt darin nochmals Hitlers Krieg gegen den „planetarischen
Imperialismus – mag er nun kapitalistisch oder bolschewistisch sein – ...“,
indem er für eine „Mehrheit sinnerfüllter, konkreter Großräume“ eintritt.[42].
So sehr die beiden Berichte von Dreier und Pauly zum erneuten
Nachdenken über die Staatsrechtslehre im Nationalsozialismus anregen,
wesentlich Neues konnten sie nach dem großen zeitlichen Abstand und selbst
unter den inzwischen gewandelten zeitrechtsgeschichtlichen Perspektiven nicht
zutage fördern. Wohltuend sind die erkennbare innere Distanz und Gelassenheit
der beiden Autoren und ihr Streben nach fairer Darstellung und Beurteilung. Die
gemeinsame Feststellung, der Staatsrechtslehre sei durch den Nationalsozialismus
ihr Gegenstand verlorengegangen, ist mehrdeutig und missverständlich. Eine
„Lehre“ hat keine eigenständige, gleichsam personale Existenz. Sie wird von
Personen gelehrt und geschrieben. Wo ihr der Gegenstand verloren geht, haben
Personen die Lehre vom Staatsrecht eben nicht mehr erfüllt, sondern entleert.
Wenn man die Texte und das Ergebnis der beiden bis ins einzelne belegten
Berichte so liest, ist der Aussage zuzustimmen, dass das „Staatsrecht“ im
Nationalsozialismus schließlich ein Phänomen ohne „Staat“ und ohne „Recht“ war.
Aber ebenso wichtig ist es, dass viele Staatsrechtslehrer damals an dieser
Entleerung oder Perversion ihrer Disziplin bis zum bitteren Ende aktiv und
eifrig mitwirkten. Das ist kein moralischer Vorwurf, sondern eine schlichte
Tatsachenfeststellung. Sie bedeutet allerdings zugleich das Zeugnis einer
bemerkenswerten (Selbst- ?)Liquidation nicht nur einer wichtigen Teildisziplin,
sondern großer Teile der damaligen Jurisprudenz und ihrer Vertreter überhaupt.
Auf dem Forum der VDStRL geschah das in Leipzig im Jahre 2000. Hier liegt die
eigentliche und wirklich befreiende dramatische Erkenntnis dieser Tagung.
Ebenso fesselnd wie die beiden Berichte liest sich die ausführliche und
lebhafte, nicht selten auch von emotionalen und subjektiven Erlebnissen
geprägte Diskussion (S. 106-147), die in Leipzig stattfand. An ihr beteiligten
sich aktiv insgesamt 30 Diskussionsredner aus verschiedenen Altersstufen,
Vorverständnissen und Blickwinkeln. Im Gegensatz zu den meisten anderen
Jahrestagungen blieb fast die gesamte Teilnehmerschaft der Tagung bis zu den
Schlussworten anwesend. Natürlich fanden dezidierte Stellungnahmen von
Zeitzeugen des NS-Regimes (Doehring, Bachof, Thieme) besondere Aufmerksamkeit.
Es kam auch zur Sprache, dass das Tagungsthema die VDStRL schon früher,
allerdings eher am Rande und nicht unbedingt freiwillig beschäftigt hatte,
nämlich einmal 1955 in Hamburg, als in der Mitgliederversammlung die Aufnahme
von Schmitt, Höhn, Koellreutter u. a. abgelehnt wurde (Thieme, S. 126), ein anderes
Mal in einer turbulenten Sitzung in Bochum 1968, als rebellierende Studenten
vor dem Tagungsraum lautstark eine Diskussion über die Rollen von Maunz und
Scheuner verlangten (Bayer, S. 123f.; Küchenhoff, S. 129f.).
Die erste historisch-systematische Beschäftigung war also dem
„Schwellenjahr“ 2000 vorbehalten. Das blieb den Teilnehmern nicht verborgen.
Bayer kommentierte den Dank mehrerer Redner an den Vorstand, der dieses Thema
durchgesetzt hatte, mit der Frage, warum dies erst jetzt nach Jahrzehnten beraten
werde (Bayer, S. 123f.). In seinem Schlusswort meinte Dreier dazu, dies sei für
die VStRL „gar kein normaler Beratungsgegenstand, sondern eher eine Art
dislozierter Tagesordnungspunkt unserer Mitgliederversammlung“ gewesen (S.
146). Damit ist ein wichtiger organisationssoziologischer Aspekt der
Veranstaltung angesprochen. Diese Sichtweise verbandsinterner Verflechtungen
wird unterstrichen durch andere Voten. Dreimal war in dieser Diskussion vom Mut
der Veranstalter die Rede. M. Stolleis, der zu diesem Themenkreis bereits in
den 70er Jahren engagiert war, als er damit noch ein Tabu brach, dankte den
Referenten für „mutige und in gewisser Weise befreiende Referate“ (S. 108).
Böckenförde (S. 124), ebenfalls mit frühen persönlichen Erfahrungen in Tabuzonen
der fünfziger Jahre, richtete den Dank an den Vorstand (Starck) für die Wahl
dieses Themas: „Das war in der Tat eine mutige Entscheidung“.
Der unbefangene Leser fragt sich unwillkürlich: Was war denn das
„Mutige“ an der Themenwahl und an den Referenten im Jahr 2000?
Für den unbefangenen Betrachter von außen ist die Vorstellung, es
erfordere heute Mut, über diesen Teil einer Disziplingeschichte
historisch-systematisch nachzudenken und öffentlich zu reden, eher befremdlich.
Äußere Risiken sind nicht erkennbar. Seit etwa 1970 ist die kritische Analyse
der NS-Vergangenheit in Deutschland eher karrierefördernd. Andererseits haben
die genannten, sicher ernstgemeinten Komplimente und Dankadressen offenbar auch
weder Heiterkeit noch Unverständnis ausgelöst. Teilnehmer der Diskussion haben
auf die Frage, ob das Lob des Mutes nicht allgemeine Heiterkeit ausgelöst habe,
dies strikt verneint. Gelacht werde bei diesen Tagungen ganz selten, an dieser
Stelle sicher nicht. Wo sind also die Gefahren, denen mutig begegnet werden
muss oder kann? Sollten in den Strukturen und Traditionen der VDStRL von außen
nicht erkennbare drohende Mächte verborgen sein, die eine freimütige Diskussion
immer noch als einen Akt kühner Unerschrockenheit erscheinen lassen?
Ein Diskussionsredner hat dazu etwas angedeutet:
„... diese Vereinigung hat über Jahrzehnte hinweg
nicht den Mut gehabt, die, um die es heute ging, vor die Frage zu stellen,
warum gebt Ihr nicht zu, dass Ihr geirrt habt?“ (Bayer S. 123f.)
Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Epoche in einer
im Schlusswort Horst Dreiers gestellten, bis heute gemiedenen, deshalb ganz
überwiegend ohne ehrliche Antwort gebliebenen Frage, nämlich der, warum nach
1933 nicht viel mehr juristische Professoren und Angehörige anderer geistiger
Berufe geschwiegen haben (Dreier, S. 145).
Könnte der Umgang der VDStRL im Jahre 2000 und des Historikertages 1998
mit der eigenen Disziplingeschichte vielleicht repräsentativ sein für die
geistige Lage in (West-)Deutschland nach 1945? Ganz anders verhielt sich
übrigens die Juristenelite des SED-Regimes nach 1990. Sie gönnte sich und ihren
Mitbürgern keine Schweigephase.[43].
Diese Unterschiede sind bisher kaum beachtet worden. Sie lohnen das Nachdenken.
Die dazu oft verkündeten „Vergleichsverbote“ sind nichts anderes als
Denkverbote.
Konstanz Bernd
Rüthers
[1] B. Rüthers, NJW 2000, 2402 ff., B.
Rüthers, Geschönte Geschichten - geschonte Biographien /
Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen, 2001.
[2] B. Rüthers, Geschönte Geschichten
- geschonte Biographien /Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen, 2001, S.
10-21.
[3] B. Rüthers, Geschönte Geschichten
- geschonte Biographien /Sozialisationskohorten in Wendeliteraturen, 2001, S.
3-9.
[4] Vgl. Nachw. bei B. Rüthers,
Geschönte Geschichten – geschonte Biographien / Sozialisationskohorten in
Wendeliteraturen, 2001, S. 72ff.
[5]
Vgl. H. Rottleuthner,
(Hrsg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, ARSP, Beiheft 18,
Wiesbaden 1883; dazu Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 5. Aufl. 1997,
S. XXI.
[6] Vgl. den Sammelband von W. Schulze/O.
G. Oexle, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999; dort u. a. G.
Aly, Theodor Schieder, Werner Conze, Die Vorstufen der
physischen Vernichtung, S. 173.
[7] Vgl. dazu mit Nachweisen B. Rüthers,
Geschönte Geschichten – geschonte Biographien / Sozialisationskohorten in
Wendeliteraturen, 2001, S. 150-156.
[8] H. Wilms, Die Staatsrechtslehre
im Nationalsozialismus, DVBl. 2000, 1237-1249.
[9] C. Schmitt, DJZ 1934 Sp. 945ff.;
vgl. auch E. R. Huber, DJZ 1934 Sp. 150; G. Küchenhoff,
Nationaler Gemeinschaftsstaat, Volksrecht und Volksrechtsprechung, 1935, S.
25f.
[10] B. Rüthers, Carl Schmitt im
Dritten Reich, 2. Aufl. 1990, S. 56ff. mit Nachw.
[11] Anm. zu Hitler, 1978, Sonderausgabe
1997, S. 185.
[12]
Vgl. statt aller C. Schmitt,
Nationalsozialismus und Rechtsstaat, JW 1934, 713ff.; C. Schmitt, Was
bedeutet der Streit um den >Rechtsstaat<? , ZgesStW 95 (1935), 189ff.;
Nachw. bei H. Wilms, DVBl. 2000, S. 1241 m. Fn. 31.
[13] Insofern bin ich Dreier für den
Hinweis auf mein Fehlzitat (NJW 2000, 2867, Fn. 5) aus W. Stuckart/R.
Schiedermair, Rassen- und Erbpflege in der Gesetzgebung des Dritten Reichs,
3. Aufl. 1942, S. 12, dankbar.
[14] G. Küchenhoff, Nationaler
Gemeinschaftsstaat, Volksrecht und Volksrechtsprechung, 1934, S. 12; ders.,
ZaöRV 12 (1944), 34ff., 65.
[15] W. Best, ZfP 32 (1942), 406, 407.
[16] U. Scheuner, ZgesStW 99 (1939),
245ff., 267.
[17] E. Wolf, ARSP 28 (1934/35) 348
(360).
[18] E. Wolf, ARSP 28 (1934/35) 348
(360).
[19] K. Larenz, Volksgeist und Recht,
Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie 1935, 40ff. (42).
[20] B. Rüthers, 2001, S. 118-123.
[21]
Vgl. zu Larenz: R. Frassek,
Von der völkischen Lebensordnung zum Recht: die Umsetzung weltanschaulicher
Programmatik in den schuldrechtlichen Schriften von Karl Larenz (1903-1993),
1996.
[22] BVerfGE 3, 58ff.
[23] BVerfGE 6, 132ff.
[24] BGHZ 2, 117; 10, 30; 12, 265.
[25] BVerfGE 6, 150ff.
[26] BVerfGE 6, 132, 167.
[27] BVerfGE 6, 132, 177.
[28] Vgl. dazu die Teilaspekte bei B.
Rüthers, Die Wende-Experten – Zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe am
Beispiel der Juristen, 1995, S. 175-197; ders., Wir denken die
Rechtsbegriffe um, 1987, Vorwort und S. 43 ff.
[29] Dazu B. Rüthers,
Die Wende-Experten, 1995, S. 175-187.
[30] B. Rüthers, Die
Wende-Experten, 1995, S. 175-187.
[31] J. Rückert, Abbau und Aufbau der
Rechtswissenschaft nach 1945, NJW 1995, 1251-1259.
[32] Eingehend dazu L. Gruchmann,
Nationalsozialistische Großraumordnung – Die Konstruktion einer deutschen
Monroe-Doktrin, Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr.
4, Stuttgart 1962, S. 20ff. und 121ff., jeweils mit Nachweisen.
[33] C. Schmitt, Völkerrechtliche
Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, 4. Aufl. 1941,
S. 49f.
[34] C. Schmitt, Die Raumrevolution –
Durch den totalen Krieg zum totalen Frieden, in: Das Reich, 1940, Nr. 19; C.
Schmitt, Raumrevolution – Vom Geist des Abendlandes, in: Deutsche
Kolonialzeitung 1942, S. 219.
[35] Es fehlt hier das Eingehen auf M.
Schmoeckel, Die Großraumtheorie: Ein Beitrag zur Geschichte der
Völkerrechtswissenschaft im Dritten Reich, besonders in der Kriegszeit, Berlin
1994.
[36] C. Schmitt, Die Lage der
deutschen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950; nachgedruckt in: C. Schmitt,
Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 1958, 3. Aufl.
1985, S. 386; zitiert hier nach dieser 3. Auflage.
[37] C. Schmitt, Gazdasági Jog, 1944, S.
257ff.
[38] C. Schmitt, Die Lage der
deutschen Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1985, S. 386 (422).
[39] C. Schmitt, Aufgabe und
Notwendigkeit des deutschen Rechtsstandes, DR 1936, 181 (184).
[40] Unscharf insoweit Dreier S. 67
mit Fn. 280.
[41] C. Schmitt, in: E. Zechlin (Hrsg.),
Völker und Meere – Aufsätze und Vorträge, Leipzig 1944, S. 342ff.
[42] C. Schmitt, in: E. Zechlin
(Hrsg.), Völker und Meere – Aufsätze und Vorträge, Leipzig 1944, S. 348; zum
Ganzen vgl. B. Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich, 2. Aufl. 1990, S.
116-120.
[43] Vgl. U.-J. Heuer (Hrsg.), Die
Rechtsordnung der DDR – Anspruch und Wirklichkeit, 1995; V. Schöneburg,
Recht im nazifaschistischen und im „realsozialistischen deutschen Staat“, NJ
1992, 49; H. Klenner, Was bleibt von der marxistischen
Rechtsphilosophie?, NJ 1991, 442. Zu den Unterschieden der
„Nachwendeliteraturen“ nach 1945 und 1990 ausführlich B. Rüthers,
Geschönte Geschichten – geschonte Biographien, 1999, S. 137ff.