Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende. Rückbesinnung und Ausblick. Dokumentation einer Tagung vom 3.-6. Oktober 1999 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hg. v. Eser, Albin/Hassemer, Winfried/Burkhardt, Björn. Beck, München 2000. XIV, 465 S.

 

An der Wiege dieser Tagung stand nicht ein Schielen auf die vielzitierte Jahrtausendwende, sondern ein langer aufgestauter, heiliger Zorn des Kommentators Albin Eser über das von ihm diagnostizierte selbstreferentielle und selbstgenügsame perpetuum mobile deutscher Strafrechtswissenschaft: Alter Wein in – bestenfalls – runderneuerten Schläuchen, nichts Neues unter der Sonne hierzulande, kein Gedankenblitz, der einen grauen Horizont erhellt hätte. Diese Frustration gebar die Idee, die deutsche Strafrechtswissenschaft solle das zu Ende gehende Jahrtausend zum Anlaß nehmen, Rechenschaft über ihr Selbstverständnis zu geben und sich den Erwartungen der Außenwelt zu stellen (S. 4). Zweieinhalb Tage sollte sie auf dem Prüfstand stehen und in fünf Sitzungen aus einer Binnen-, einer Außen- und einer Zukunftsperspektive begutachtet werden. Für die beiden ersten Bereiche sah die Konzeption jeweils zwei Referate vor und jedem der fünf Referate folgten drei Kommentare (beim vierten Thema blieb es wegen Krankheit eines Kommentators bei zweien) sowie eine moderierte Diskussion. Die im Buch abgedruckten Beiträge sind überarbeitete und zum Teil wesentlich erweiterte Fassungen des mündlich Vorgetragenen (zum Sonderfall des Kommentars von Sebastian Scheerer siehe S. VI, 345), die Diskussionsberichte summarische Zusammenfassungen (näher S. VI).

 

Das Echo, das die im Tagungsprogramm (S. 451-455) konkretisierte Idee im Kollegenkreis, in der Praxis wie auch über die nationalen Grenzen hinweg gefunden hat, übertraf die Erwartungen der Veranstalter, wie über 230 Anmeldungen aus 20 Ländern belegen (Teilnehmerliste S. 458-465). Bedenkenswert mag insoweit sein, in welchen europäischen Ländern sich niemand für die Thematik erwärmen mochte, könnte sich darin doch eine Transfergrenze abbilden, deren Überwindung zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben zu zählen wäre.

 

Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft gegenüber den Herausforderungen ihrer Zeit war das Referat betitelt, mit dem Winfried Hassemer die Betrachtungen aus der Binnenperspektive eröffnete (S. 21-46). Er beginnt mit einer Auflistung von Defiziten, nämlich in der Aufarbeitung der Geschichte und der Methodenlehre des Strafrechts, ferner dem Verlust der Beziehung zur Philosophie und – neuerdings – zu den Human- und Sozialwissenschaften. Die Strafrechtsvergleichung hält er für noch immer randständig, trotz des Informationsbedarfs angesichts eines künftigen europäischen Strafrechts. Weit faßt er sowohl den Begriff von Wissenschaft (unter Berufung auf BVerfGE 35, 79, 113) als auch den des Strafrechts (im Sinne Franz von Liszts); dunkel bleibt ihm das Wort Selbstverständnis, dessen Vagheit er sich dann aber doch nutzbar zu machen sucht, problematisch gewiß, angesichts der Themenstellung aber eine Notwendigkeit – mit der Folge freilich, daß die Weite des Themas kaum Verbindlichkeiten schaffen konnte, sondern dem Interpreten große Freiräume ließ. Hassemer nutzt sie in beeindruckender Weise: Die Strafrechtswissenschaft müsse als praktische Wissenschaft ein Selbstverständnis entwickeln und ins Werk setzen, in dem Wissenschaftsfreiheit und Verbindlichkeit, Autonomie und Gegenstandsbezug in praktischer Konkordanz miteinander bestehen könnten (S. 31). Zu den Herausforderungen zählt er zunächst die Frage, wie es zu den menschen- und freiheitsfeindlichen Äußerungen von Rechtswissenschaftlern der NS-Zeit kommen konnte (S. 33); darüber hinaus einen weiten, heterogenen und zerklüfteten Bereich als Umfeld der Strafrechtswissenschaft, wozu Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive, die anderen Rechtswissenschaften sowie die Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft gehörten, ferner die Politik, die Öffentlichkeit und die Kommunikationsmedien (S. 36). Diesem Umfeld sei mit offenen Sinnen zu begegnen, ohne sich autonomer Prüfung und Entscheidung zu begeben. Veranschaulicht wird das anhand der Politik als Quelle derartiger unentrinnbarer Herausforderungen, der gegenüber das Fach zur Wahrung seines Propriums – nämlich die grundrechtsschützenden Prinzipien aus der rechtsstaatlichen Tradition von Strafrecht und Verfassungsrecht – die Mitte zu halten habe zwischen gänzlicher Verweigerung und unvermittelter Anpassung (S. 40, 43f.). Man müsse sich wieder mit größerem Nachdruck einmischen, freilich nicht durch wissenschaftliches Salben schlichten politischen Meinens, sondern im Weg der systematischen Ausarbeitung einer Formalisierung sozialer Kontrolle schwerer Abweichungen.

 

Ganz anders gerät die Einschätzung Günther Jakobs’ in seinem Kommentar (S. 47-56). Die große Herausforderung der Gegenwart, die Dominanz des Wirtschaftssystems und in dessen Gefolge die Internationalisierung aller Institutionen verlange Effektivität des Strafrechts. Hatte Jakobs in ZStW 97 (1985), 751ff. den Begriff Feindstrafrecht noch in kritischer Absicht gegenüber bestimmten Tendenzen in der lex lata entwickelt, so dient er ihm nunmehr schon zur Kennzeichnung der aktuellen Lage. Wer sich als nicht rechtlich gesonnen darstelle, in diesem Sinne keine Garantie für rechtliches Verhalten gebe oder sie sogar ausdrücklich verweigere, sei nicht Mitglied der Gesellschaft, sondern deren Feind, also ein Individuum, das sich jedenfalls vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt habe und dies durch sein Verhalten auch demonstriere (z. B. organisierte und Wirtschaftskriminalität, Terrorismus). Da die – eher zunehmende – Problematik mit polizeilichen Mittel nicht lösbar sei, bestehe zu einem Feindstrafrecht keine heute ersichtliche Alternative; also Krieg, dessen Gehegtheit oder Totalität (auch) davon abhänge, was vom Feind alles befürchtet werde. Aufgabe der Wissenschaft sei die Identifizierung und Aussonderung der Regeln des Feindstrafrechts, um beim Bürgerstrafrecht umso nachdrücklicher auf der Behandlung des Verbrechers als Rechtsperson beharren zu können, bei Strafe sonst drohender Marginalisierung der Strafrechtswissenschaft (S. 53f.). Eine analoge Aufgabe bestehe bei der Internationalisierung des Rechts bezogen etwa auf Menschenrechtsverletzungen, denn Strafrecht und bloße Strafgewalt seien – weiterhin – kategorial zu trennen (S. 54ff.). Während diese letzteren Überlegungen aus Sicht des Rezensenten Zustimmung verdienen, ist die vorangehende Ermunterung, ein Feindstrafrecht zu akzeptieren, weit mehr als nur anstößig (kritisch dazu auch Jareborg, Puppe und Eser, S. 414, 430f., 444f.; ferner Lorenz Schulz, ZStW 112 [2000], 653, 659ff.; Bernd Schünemann, GA 2001, 205, 210ff.; vgl. schon Norbert Hoerster, ZRP 1999, 215). Jeder Straftäter hat einen unverzichtbaren Anspruch darauf, nicht als Unperson, als Feind behandelt zu werden.

 

In anderer Weise radikal fällt der Kommentar Lothar Kuhlens aus (S. 57-73). Aus der Fülle von Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen greift er die von Hassemer mitgeprägte kritische Theorie des modernen Strafrechts heraus und unterzieht sie einer fundamentalen Gegenkritik. Statt die primären sozialen Probleme als Grund strafrechtlicher Reaktion anzugehen, diskutiere jene Theorie zweitrangige Fragen eben dieser Reaktion. So sei es mit der Klage über einen ständigen Abbau der Rechtsstaatlichkeit nicht getan, entscheiden müsse, ob dieser Abbau gerechtfertigt oder doch vertretbar sei. Wo die kritische Theorie mithin protestiert, sieht Kuhlen Notwendigkeiten der Reaktion. Während er sodann mit den Kritikern darin übereinstimmt, daß man zu den Entwicklungen auch mit dem Anspruch praktischer Verbindlichkeit Stellung nehmen sollte, bemängelt er, dem werde jene Theorie nicht gerecht, und mahnt größere Bescheidenheit an. Die Stellungnahmen hingen wesentlich von Wertungen ab, und es gebe keinen Grund für die Annahme, daß Strafrechtswissenschaftler richtiger werteten als Rechtspolitiker oder Nichtjuristen, zu jenen Wertungen also einen privilegierten Zugang hätten (S. 64, 73). Wäre Kriminalpolitik voraussetzungslos möglich, ohne Bezug zum Recht und der Dogmatik, könnte man Kuhlen eher zustimmen; aber Wertungen finden nicht im rechtsfreien Raum statt, und alle Relativität des Wertens enthebt nicht davon, daß Entscheidungen im Zusammenhang des Rechts begründet werden müssen, was dann eben Kenntnis dieses Rechts voraussetzt (kritisch auch Hassemer, S. 107 und Schünemann, GA 2001, 209).

 

Carlo Enrico Paliero (Pavia) bediente sich in seinem Kommentar zum so weit geratenen Thema der Systemtheorie (S. 75-101). Die Strafrechtswissenschaft habe als System zur Produktion einer Kultur der sozialen Kontrolle eine selbständige gesellschaftliche Funktion. In drei Punkten bestehe aber eine gegenseitige Beeinflussung mit dem sozialen System, nämlich in bezug auf den Gegenstand, die Akteure (Produzenten) und die Produkte. Durch ihre Wandlung von der Wissenschaft des Menschen zu einer der Gesellschaft habe die Strafrechtswissenschaft ihre Neutralität verloren, besitze keine autonome Produktionsfähigkeit mehr und könne nur noch die Konflikte verarbeiten, die ihr die gesellschaftliche Macht anliefere (S. 79). Die Herausforderungen folgten aus der Modernisierung des Strafrechts. Hierbei seien drei strategische Ziele gesetzt: die Stabilisierung der inneren Sicherheit, die soziale Neutralisierung der Risiken aus der Entwicklung von Wirtschaft und Produktion sowie die Verteidigung des Staatsmonopols der gesellschaftlichen Ordnung bis aufs Äußerste (S. 80). Zumindest seit den 30er Jahren sei die Strafrechtswissenschaft nicht mehr Quelle der Erkenntnis der Realität, sondern ein Instrument zur Ausübung von Macht, weshalb Hassemers Wissenschaftsbegriff zu optimistisch sei und die Vorstellung einer systemunabhängigen Dogmatik utopisch (S. 83). Auch die Methodik wandle sich, weg von der binären Logik (aut - aut) hin zu einer ordnenden nach Mehr-Weniger (S. 89), was er an den Eckpfeilern Verhalten, Kausalität und Vorsatz zu belegen sucht (S. 92ff., wobei er in seinem Fazit der Diagnose eines Feindstrafrechts bemerkenswert nahe kommt).

 

Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik lautete das von Björn Burkhardt traktierte Thema (S. 111-157), und auch hier lag die erste Schwierigkeit schon darin, den Gegenstand zu klären, seine Konturlosigkeit als Chance zu begreifen. Den Zielpunkt rechtsdogmatischer Tätigkeit sieht Burkhardt in der an bestimmten Methoden ausgerichteten Entwicklung von Rechtsregeln. Das Produkt sei ein System von Sätzen mit normativem Gehalt, bezogen auf das geltende Recht und methodischen Ansprüchen genügend. Kontroverse Lösungsvorschläge könnten nach ihrer Geltungsintensität geordnet werden, d. h. nach dem Grad ihrer Akzeptanz. Strafrechtsdogmatik betreibe auch die Rechtsprechung und teilweise die Ministerialbürokratie, wenngleich unter besonderen Handlungsbedingungen (S. 116, 124; dazu auch Erb, ZStW 113 [2001], 1ff.). Als Maßstab der Beurteilung von Strafrechtsdogmatik führt er sieben (hier verkürzt wiedergegebene) Funktionen an, die er in der Literatur vorgefunden hat und die ihm hier hilfreich erscheinen (S. 117-119): Die Produktion von Regeln und Begründungen für die Entscheidung von Rechtsfragen (konstitutive Funktion); die Gewährleistung gleichmäßiger und voraussehbarer Rechtsanwendung (rechtsstaatliche Funktion); die Ermöglichung einer Stimmigkeitskontrolle durch Bildung eines kohärenten und konsistenten Systems (Kontrollfunktion); der Bestand anerkannter (bewährter) begrifflicher Kriterien, Rechtsfiguren usw., auf die regelmäßig zurückgegriffen werden kann (Entlastungsfunktion); die Herausarbeitung der Grundgedanken und Begriffe des geltenden Rechts und die systematische Ordnung dieser Einsichten (technische oder didaktische Funktion); die Vorbereitung guter Gesetzgebung durch Alternativenbildung (Beratungsfunktion); die Ermöglichung permanenter Anpassung des Rechts an sich wandelnde soziale Gegebenheiten durch Steigerung der Wahlmöglichkeiten im Umgang mit der Erfahrung und mit juristischen Texten (Anpassungsleistung; dazu auch S. 120f.). Der Referent merkt an, daß er möglichen Überschneidungen und Zusammenhängen (und damit auch Fragen der Priorität und der Widerspruchsfreiheit; dazu S. 119f.) nicht nachgespürt habe (S. 117), was man bedauern muß, weil schon deshalb der Beurteilungsmaßstab relativ ungewiß bleibt. Die Probleme setzen sich bei der Bewertungsfrage fort und potenzieren sich noch, weil Burkhardt – weit davon entfernt, ein geordnetes System von Kriterien präsentieren zu können – sich auf die Benennung einiger, ihm zentral erscheinender Aspekte beschränkt. Er unterscheidet zunächst zwischen der individuellen Ebene (Vorschlag eines Einzelnen) und der kollektiven Ebene (Gesamtresultat oder Disjunktion der kontroversen Vorschläge [S. 122, 115]); was dort als gelungener Wurf erscheine, könne hier zu Einbußen an Rechtssicherheit beitragen (S. 122 mit Fn. 41, 42; 135); ferner zwischen dogmatischer Qualität (u. a. Begriffsökonomie, Substratadäquanz, Folgerichtigkeit) und außerdogmatischer Qualität (Effizienz, Zweckmäßigkeit, Akzeptabilität); Dogmatik könne sozial angemessenes Entscheiden erschweren (S. 123 mit Hinweis auf BGHSt 37, 106, 130ff.; zu weiteren konkurrierenden Beurteilungsaspekten: systeminterne versus systemexterne Folgen, Wissenschaft versus Praxis, instrumenteller versus substantieller Sinn, Entlastungsfunktion versus Anpassungsleistung siehe S. 123f.).

 

Auf abstrakter Ebene scheint ihm die Kennzeichnung einer Dogmatik als geglückt oder folgenlos (nicht: mißlungen) nur unzureichend möglich (S. 124ff.), weshalb nur Beispiele helfen könnten, bei deren Bewertung es auch den Kosten-Nutzen-Aspekt zu berücksichtigen gelte (S. 129). Zuvor wendet er sich noch dem Unbehagen am Zustand der derzeitigen deutschen Strafrechtswissenschaft zu, das er an 12 Klagen renommierter Dogmatiker und an einer aktuellen Kontroverse festmacht, eine Partie, die man gelesen haben sollte (S. 131-137).

 

An fünf Problemfeldern will Burkhardt sodann die geistige Situation der Strafrechtsdogmatik exemplarisch verdeutlichen: Actio libera in causa, aberratio ictus,  Fahrlässigkeit, unechtes Unterlassungsdelikt und § 34 Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Für die sog. actio libera in causa bezweifelt der Referent, daß es zwingende Gründe zum Bruch mit der Tradition gegeben habe. Überdies sei der einzige praktisch bedeutsame Bereich die Trunkenheit im Straßenverkehr (§ 316 StGB), an deren Stelle nun der Vollrausch (§ 323 a StGB) trete – mit für den Verurteilten systemextern nachteiligen Folgen, nämlich der Abstempelung zum Trinker. 50 Beiträge allein seit 1980 – so wird man Burkhardt zu verstehen haben – seien angesichts des Ertrags nicht zu rechtfertigen. Aus dem Glashaus sei geantwortet: Gestritten wurde und wird um die Einhaltung des Gesetzlichkeitsprinzips sowie – verdeckt – um Inhalt und Reichweite des Schuldprinzips, also nicht gerade um Kleinigkeiten, sondern um Grundfragen, mögen auch Amtsrichter darüber lachen (wer die Voraussetzungen des § 323 a StGB erfüllt, gilt als bei Begehung der Tat volltrunken, nicht notwendig aber als Trinker). Für die aberratio ictus kommt Burkhardt auf beachtliche 43 Publikationen seit 1980, obwohl es letztlich „nur“ um die Bestrafung wegen Versuchs oder Vollendung gehe, angesichts des § 23 II StGB eines nicht eben dringlichen Problems (S. 141ff. mit Fn. 114). Freilich verschiebt die Beurteilungsbasis sich schon dann, wenn man – mit guten dogmatischen Gründen! – die bloße Kann-Milderung des § 23 II StGB für sachlich falsch hält. Unzufrieden zeigt der Referent sich ferner mit den Erträgen der Diskussion zur Fahrlässigkeit, zu deren Begriff seit Engischs Untersuchung kein nennenswerter Fortschritt im analytischen Sinne zu verzeichnen sei, sowie mit der Ausbeute zum unechten Unterlassungsdelikt, wobei er zum ersten Bereich inhaltlich Stellung bezieht (S. 146f.), zum zweiten sich mit dem Zitieren eines Gewährsmanns begnügt. Als Beleg dafür, daß die Schwerpunktbildung nicht am Forschungsbedarf oder am Orientierungsbedürfnis der Praxis ausgerichtet sei, dient ihm – pars pro toto - § 34 AWG, der in der Tat eine Fülle von enormen Problemen aufweist und in den letzten Jahren Gegenstand mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie mindest 10 des Bundesgerichtshofs war, der gleichwohl aber von der dogmatisch ausgerichteten Wissenschaft vernachlässigt werde.

 

In seiner Bilanz sieht er nur die Anpassungsleistung als erbracht an, was aber gerade die Unsicherheiten vermehre. Hingegen werde die konstitutive Funktion nicht erfüllt. Und weiter: Meinungsvielfalt bis hin zur Beliebigkeit entlaste nicht, sondern erhöhe die Fehleranfälligkeit und führe zu Umgehungsstrategien (§§ 153ff. StPO, Absprachen). Das Überangebot sich widersprechender Konzepte konterkariere die didaktische Funktion und sei einer gleichmäßigen und voraussehbaren Rechtsprechung nicht dienlich. Geglückte Dogmatik gebe es allenfalls auf der Ebene individueller Entwürfe. Zu den Ursachen seines, nähme man ihn zum Nennwert, niederschmetternden Befunds listet Burkhardt eine stattliche Reihe von Bedingungen auf (Professorenberg, schwache Richtigkeitskriterien und Rechtspluralismus, Freiheit der Wissenschaft, erweiterte Publikationsmöglichkeiten, Subventionierung u. a. m.), wobei das Belohnungssystem (Berufungen) eine gewiß wesentliche Rolle spielt. Angesichts der europäischen Perspektive ruft er mit Arzt (ZStW 111 [1999], 767, 769) dazu auf, die Kluft zwischen individueller und kollektiver Rationalität zu verringern (S. 157).

 

Dieser couragierten Bestandsaufnahme mit der Diagnose: Elend widersprach Wolfgang Frisch in seinem nahezu ebenso umfangreichen Kommentar (S. 159-198) in allen wesentlichen Punkten. Geglückt sei etwa die Anpassung an die Grund- und Freiheitsrechte, die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld, die materielle Aufhellung des Unrechtsbegriffs, die Entwicklung der personalen Unrechtslehre und der Lehre von der objektiven Zurechnung, die Formung des normativen Schuldbegriffs, die Erarbeitung einer Dogmatik der Strafzumessung u. a. m. Das gelte auch für Materien des Besonderen Teils, wenngleich hier in jüngster Zeit (nicht nur hierzulande) in einem politisch ungünstigen Klima Rückschläge zu verzeichnen seien (S. 182f.), sowie für das Strafprozeßrecht (S. 183ff.). Das Fehlen innovatorischer Ansätze erklärt Frisch mit dem Sättigungsgrad, der inzwischen auf diesen Feldern erreicht sei. Er stimmt dem Referenten aber darin zu, daß man sich angesichts dessen verstärkt auf dogmatisch weniger ausgearbeitete Bereiche konzentrieren sollte (S. 185; womit sich dort wiederholen dürfte, was hier mit Grund für Burkhardts Klage war). Folgerichtig zu seinem anders ausgerichteten Erwartungshorizont (seiner Vorstellung von geglückter Strafrechtsdogmatik) hat Frisch Mühe, folgenlose, i. S. keine Veränderungen bewirkende Dogmatik in nennenswertem Umfang zu erkennen, denn folgenlos sind für ihn nur Aussagen, die schon den Mindestansprüchen an wissenschaftlich-dogmatische Aussagen nicht genügen (S. 190). Das Gegenbild geglückter Dogmatik sieht er in der dogmatischen Fehlentwicklung, zu deren Bereich er auch die Konstellation rechnet, daß die Dogmatik einer Fehlentwicklung auf ihrem Gebiet nur unzureichend entgegentritt, wie dies in der NS-Zeit der Fall gewesen sei (S. 195f.; zum Märtyrer fühlen sich freilich – immer – nur wenige berufen).

 

Francisco Munoz Conde (Sevilla) hält in seinem Kommentar (S. 199-211) die deutsche Strafrechtsdogmatik zwar für bis zu einem gewissen Grade geglückt (Beispiel: die kategoriale Gliederung des Verbrechensbegriffs; siehe auch S. 208 Fn. 31), weist aber auch darauf hin, daß andere Techniken der Auslegung und Systematisierung des Strafrechts anderer Länder ihren Prämissen nach ebenso richtig sein könnten, zumal die deutsche meist praxisfern und innersystematisch orientiert sei. Eine als lingua franca der Strafrechtswissenschaft begriffene Dogmatik müsse jedenfalls mehr anstreben als eine gemeinsame technische Sprache (S. 201). Da der Rechtsstoff in verschiedenen Bezugssystemen erfaßt werden könne, sei eine rein systematische Darstellung von nur relativem Wert, deren Ertrag im innersystematischen, dogmatischen Bereich verbleibe, was beispielsweise am ehemaligen Streit zwischen kausaler und finaler Handlungslehre gut zu sehen gewesen sei, einem Streit, der kaum praktische Bedeutung in der Gesetzgebung und Rechtsprechung erlangt habe (eine These über die man wohl doch streiten könnte). Als praktische Wissenschaft müsse die Strafrechtsdogmatik sich jedoch an systemexternen Folgen orientieren, woran es auch den neueren Modellen von Roxin und Jakobs fehle (S. 205). Der klassische Ansatz individueller Zurechnung konfligiere mit den neuen Instrumenten zur Bekämpfung moderner Risiken (Wirtschaft, Umwelt, Produktverantwortung, organisierte Kriminalität usw.), was zu einer Grundlagendiskussion über zentrale Begriffe geführt habe (u. a. Rechtsgut, Schuldprinzip, Kausalität, individuelle Zurechnung, Haftung mehrerer). Zu hoffen sei, daß an ihrem Ende nicht ein Identitätsverlust der Dogmatik als einem Instrument der Garantie der Grundprinzipien des verfassungsrechtlichen Strafrechts stehe, also mißlungene Dogmatik (S. 207). Zwar blühe die Strafrechtsdogmatik im akademischen Unterricht, ihr praktischer Ertrag sei hingegen gering – hier wie in Spanien. Probleme der Gesetzesreform könnten von der Dogmatik kaum gelöst werden. Ob die Tendenz der Politikberatung (auch hinsichtlich einer Ausweitung des Strafrechts) geglückt sei, bezweifle er, wenngleich Kritik des geltenden Rechts und des sozialen Systems eine Aufgabe auch der Zukunft sei.

 

Aus Sicht eines Rechtsanwalts hält Salditt (S. 213-220) Dogmatik für geglückt, wenn sie die Praxis mit Erfolg dazu anhält, Normen zutreffend anzuwenden, und wenn sie richterliche Entscheidungen gegen irrationale Einflüsse abschirmt. Mit einem solchem Maßstab könnte die Dogmatik gut leben, aber Salditt meint etwas anderes. Vereinigungstheorien wie etwa in der Strafzumessungsdogmatik führten zu einem Vakuum, in dem als trübste Quelle des Erkennens das Rechtsgefühl sich breitmache. Eine Schuldlehre, die sich den Erwartungen der Allgemeinheit öffne, entgrenze sich selbst. Der Sieg der Schuldtheorie habe § 17 Satz 2 StGB hervorgebracht, zu dessen Anwendbarkeit die Dogmatik nichts beizusteuern wisse. Das – diffuse – Präventionsbedürfnis breche die Systematik auf und verzehre die Grundlagen der Dogmatik. Der verfahrensrechtliche Umgang mit Vergehen (i. S. des § 12 II StGB) unterliege keiner Kontrolle (der Theorie), von Rechtsanwendungsgleichheit nicht zur reden. Die Wissenschaft müsse mehr als früher zwischen materiellem und prozessualem Recht hin und her schauen, denn wenn die Systeme keine Gewißheit mehr böten, müsse der Prozeß an deren Stelle treten (was ja schon im Übermaß der Fall ist).

 

Die Außenperspektive – unter dem etwas schiefen Titel: Die deutsche Strafrechtswissenschaft im Spiegel der Rechtsvergleichung – eröffnete das Referat Georg P. Fletchers Deutsche Strafrechtsdogmatik aus ausländischer Sicht (S. 235-253). Das Kernstück der Wissenschaft, die Dogmatik, versteht Fletcher als eine philosophische Untersuchung über Struktur und Umfang der Zurechnung einer unmoralischen oder sozialschädlichen Tat, das Werk eines Menschen als Ausdruck seiner Persönlichkeit in der Außenwelt. Dieser Art des Denkens fühlt er sich verbunden in dem Wissen, daß die Welt der Strafrechtsdogmatik und deren Bedeutung in anderen Ländern anders gesehen wird. Sodann listet er die Länder auf, in denen die deutsche Dogmatik Einfluß erlangt hat oder erlangen könnte, häufig Länder mit ebenfalls totalitären Erfahrungen, wobei freilich der Ideenaustausch hauptsächlich in eine Richtung laufe (S. 240; kritisch insoweit auch Kaiafa-Gbandi und Zoll, S. 261, 285). Der zweite Teil des Vortrags war der Eruierung der Vor- und Nachteile der verschiedenen Denkweisen (insbesondere der amerikanischen und der deutschen) gewidmet und nutzte als Exempel den Begriff der Strafe und die Figur des Erlaubnistatbestandsirrtums. Fletcher resümiert, die Deutschen könnten von der fallbezogenen Methode der Amerikaner lernen (insoweit vehemente Kritik bei Schünemann, GA 2001, 219f.) und diese von der systematischen deutschen Denkweise profitieren.

 

Aus spanischer Sicht erläutert José Cerezo Mir (Madrid) anhand illustrer Namen den Einfluß deutscher Strafrechtsdogmatik seit Beginn des 20. Jahrhunderts, um sodann drei Beispiele abweichender spanischer Regelungen aufzuzeigen (S. 256-260). Das spanische Recht sieht für den vermeidbaren Verbotsirrtum eine obligatorische Milderung vor, die der Kommentator – zu Recht – für vorzugswürdig hält. Die Freiheitsstrafen unter 6 Monaten wurden abgeschafft, eine § 47 StGB entsprechende Regelung gibt es nicht, dafür aber die neue Strafe des Wochenendarrests, wo Geldstrafe als nicht ausreichend angesehen wird. Die Regelung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei den bessernden und sichernden Maßnahmen in Art. 6 II des spanischen StGB von 1995 sei zwar in der Zielsetzung zu begrüßen, nicht jedoch hinsichtlich der gewählten Mittel (S. 259f.).

 

Wie schon Fletcher, so rügt auch Maria Kaiafa-Gbandi (Thessaloniki) die Einseitigkeit der Beziehung der Deutschen zur griechischen Strafrechtswissenschaft und mahnt gerade auch im Hinblick auf die europäische Entwicklung Gegenseitigkeit an (S. 261-282). Als Brennpunkte mit zentraler Bedeutung für das materielle Recht benennt und erörtert sie die Diskussion zum Begriff des Rechtsguts, die Thesen über abstrakte Gefährdung sowie die zunehmende Bereitschaft zur Anerkennung strafrechtlicher Verantwortung juristischer Personen. In der Rechtsgutslehre sieht die Kommentatorin eines der wichtigsten Vermächtnisse für die europäische Rechtskultur (strafbarkeitsbegrenzender, liberaler Gehalt; Kontrollfunktion gegenüber der Gesetzgebung). Ganz entschieden wendet sie sich dagegen, bei der Frage der Strafbarkeit das Rechtsgut an den Rand zu drängen und die Aufgabe der Kontrolle ausschließlich dem Grundrechtsgedanken zu überlassen (S. 269). Die inhaltliche Bestimmung des Rechtsgutsbegriffs habe sich an empirischen sozialen Größen zu orientieren – fern von moralischen Zielsetzungen (Verbot der Gesinnungsbestrafung; Abweisung von Konstrukten wie Sicherheitsgefühl des Bürgers). Für eine Straftat genüge nicht jeglicher Rechtsgutsbezug, erforderlich sei ein Rechtsgutseingriff (Verletzung oder Gefährdung). Besorgt zeigt Kaiafa-Gbandi sich hinsichtlich der Zunahme abstrakter Gefährdungsdelikte, insbesondere aber gegenüber dogmatischen Versuchen – auch in der deutschen Lehre -, diesen Deliktstypus auszuweiten (S. 273ff.), und gänzlich ablehnend gegenüber der Einführung einer Verbandsstrafbarkeit. In der Tat bahnte letzteres den Weg in ein anderes Strafrecht und wäre der Abschied von einem Schuldprinzip, das diesen Namen noch verdient.

 

Aus Sicht der polnischen Strafrechtslehre beurteilt Andrzej Zoll (Krakau) die deutsche Strafrechtsdogmatik (S. 283-294); und zwar in der Weise, daß er nach einem geschichtlichen Rückblick die Entwicklung der polnischen Dogmatik nachzeichnet, die Eigenständigkeit auch gegenüber dem Modell des Täterstrafrechts der Nachkriegszeit zeigt (S. 286f.) sowie parallele, übernommene und eigenständige Entwicklungen schildert. Sehr zu Recht moniert Zoll, daß Arbeiten polnischer Wissenschaftler, obwohl häufig auch in deutscher Sprache veröffentlicht, in der hiesigen Diskussion nicht beachtet werden (S. 285f.), nicht lediglich ein Säumnis, sondern ein gravierender Fehler.

 

Die Strafrechtswissenschaft im Blick anderer Wissenschaften und der Öffentlichkeit lautete das zweite Thema zur Außenperspektive, das Otfried Höffe zu einem Referat Proto-Strafrecht: Programm und Anfragen eines Philosophen nutzte (S. 307-337), womit er das Anliegen der Veranstalter nicht ganz getroffen hat. Für die Neubegründung einer Strafrechtsphilosophie seitens der Philosophie sprächen heute mindestens drei Faktoren: Neukriminalisierungen und Strafverschärfungen, Emanzipation von kulturspezifischen Prämissen und Konzentration auf interkulturelle Rechtsdiskurse infolge der vielschichtigen weltpolitischen Entwicklung (Globalisierung) und schließlich Neuorientierung des modernen Strafrecht (S. 309f.). Ein Proto-Strafrecht befasse sich nicht wie die Strafrechtsdogmatik mit dem positiven Recht, sondern mit den für das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft entscheidenden Grundgrößen; es gehe ihm um eine in neutralem Sinn vor- und überpositive Theorie, die auch nicht an eine epochal gültige Strafrechtskultur, etwa die der europäischen Neuzeit, gebunden sei (Legitimierung eines Menschenwerks mit inter- oder transkultureller Gültigkeit; S. 311). Ein solches Proto-Strafrecht wird im folgenden skizziert (S. 312ff.), wobei Höffe auch dem Verfahrensrecht einige Anmerkungen widmet (S. 332ff.).

 

Da die Strafrechtswissenschaft als praktische Wissenschaft ihren Gegenstand aufzuklären und mittels Aufklärung zu verbessern habe, stellt ihr Höffe im abschließenden Abschnitt (Öffentliche Aufgaben) vier Fragen: Warum habe man von den Vorbereitungen zum 6. Strafrechtsreformgesetz in der Öffentlichkeit nichts erfahren? (Antwort S. 41, 385f.) Die Strafrechtslehrer sollten sich – modo scientifico – einmischen, Themen zu grundlegenden Problemen in den öffentlichen Diskurs tragen. Warum habe man aus strafrechtlicher Sicht nicht zum Kosovo-Konflikt Stellung genommen, um für Aufklärung (in) der Öffentlichkeit zu sorgen? Inwieweit beteiligten sich deutsche Strafrechtslehrer an der wissenschaftlichen Vorbereitung eines Weltstrafrechts? Und schließlich als Vorfrage: Lasse man sich schon hinreichend auf inter- und transkulturelle Rechtsdiskurse ein? Wolle man bei diesen Fragen die (kritische) Kooperation von Philosophen, so solle man diese hierzu auffordern.

 

Hieran knüpfte der Kommentar Heribert Prantls (Die deutsche Strafrechtswissenschaft muß sprechen lernen; S. 339-344) an. Seine Antwort auf die Frage, welchen Part die Strafrechtswissenschaft in der Öffentlichkeit – welcher auch immer – spiele, lautet in brutaler Kürze: keine; und zwar ganz im Gegensatz zur Ökonomie, die in der öffentlichen Auseinandersetzung eine Hauptrolle innehabe, ja – insoweit abschreckend – Teil der Politik geworden sei (S. 341). Wer aufgeklärte, nicht atemlose Kriminalpolitik wolle, müsse Aufklärung betreiben. Dieser ihrer öffentlichen Verantwortung werde die deutsche Strafrechtswissenschaft nicht gerecht. Es mag sein, daß die zahlreichen Prisen dieses starken Tobaks, die Prantl dem Publikum verabreichte, mit zur Wiederentdeckung der Printmedien als Forum führen werden, mit welchem Ertrag und Wahrnehmungswert im Einzelfall auch immer.

 

Die Kriminalstrafe als Kulturerbe der Menschheit? sollte der Kommentar Sebastian Scheerers heißen, den er wegen unzureichender Vorbereitung abbrechen mußte (S. 364; zu dem veröffentlichten Text Schünemann, GA 2001, 222).

 

Zur dritten Thematik, die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft, hielt Claus Roxin das Referat (S. 369-395). Für ihn liegt auch künftig ein Schwerpunkt in der Systematisierung, Auslegung und Fortentwicklung des nationalen Rechts, seiner Überprüfung und wo nötig Revision sowie in der Bearbeitung neuer und ungelöster Probleme. Mehr als bisher sei allerdings die Arbeit am nationalen Recht auf übernationaler Grundlage zu betreiben (also neben den Export wohl doch auch der Import zu stellen). Ferner habe man die Rolle der Beratung von Rechtsprechung und Gesetzgebung teils auszubauen, teils zurückzuerobern, aber auch – vermehrt – wissenschaftliche Kriminalpolitik zu betreiben; und schließlich bestehe die Aufgabe, die wissenschaftliche Grundlage für ein übernationales Strafrecht zu liefern. Alles das wird – nach einem Bekenntnis zum Exportartikel der deutschen Strafrechtswissenschaft, das einen am Anlaß der Tagung zweifeln lassen könnte – in die Länge und Breite ausgemalt, mit einer Fülle von Belegen garniert und endet in einem arbeitsplatzerhaltenden Schlußsatz in schönster Roxin’scher Manier. Um die Zukunft der Strafrechtsdogmatik (auch als Exportartikel) ist Roxin nicht bange (S. 370).

 

Eine gewaltige Aufgabe sieht er in der Entwicklung der Dogmatik des Strafprozeßrechts (S. 371, 375ff.); Großgebiete künftiger Arbeit bildeten ferner die internationale Wirtschaftskriminalität einschließlich der Thematik der Verbandssanktionen, Großrisiken durch die pharmazeutische, die Lebensmittel- und die Futterindustrie, ferner die Gesamtproblematik menschlichen Lebens und Sterbens. Eingehend befaßt Roxin sich sodann mit der Aufgabe, Strafrechtswissenschaft mehr als bisher auf internationaler Grundlage zu betreiben (S. 378 ff.). Auf der Höhe der Zeit sei nur, wem auch der internationale Diskussionsstand jederzeit zur Hand sei! Man brauche ein vielbändiges internationales Lehrbuch, das das Strafrecht aller europäischen und der wichtigsten außereuropäischen Staaten darstelle, vergleiche und interpretiere (S. 381; wohl zu ergänzen um ein entsprechendes Werk zu den jeweiligen Prozeßrechten). Daß es mit der Gesetzesberatung in den vergangenen Jahren (jedenfalls bis 1998) nicht zum Besten stand, ist offenkundig, und so versäumt auch Roxin nicht, den besonderen Tiefstand der Gesetzgebungskunst in die Aufforderung umzumünzen, künftig Experten in Entwurfsberatungen institutionell einzubinden (S. 386). Unzweifelhaft ist ihm des weiteren, daß die Wissenschaft der Kriminalpolitik vorarbeiten sollte; die Erarbeitung von Vorschlägen sei eine genuin wissenschaftliche und nur von Wissenschaftlern kompetent zu lösende Aufgabe, zumal der Gesetzgeber aus eigener Kraft auf dem Gebiet des Strafrechts zu großen Reformen nicht mehr in der Lage sei (S. 387). Andererseits sieht er das Fehlen wissenschaftlicher Vorarbeiten, z. B. einer Strafrahmenwissenschaft, als Bedingung schlechter Gesetzgebung an (S. 389). Abschließend widmet er sich dem übernationalen Strafrecht. Die Kodifikation eines exakten, konsensfähigen Völkerstrafrechts befürwortet er ebenso wie eine dazugehörige Verfahrensordnung. Hingegen erscheint ihm auf absehbare Zeit – beim gegenwärtigen Stand der Strafrechtskultur – ein europäisches Strafgesetzbuch nicht als wünschenswert (S. 391), wohl aber die übernationale Regelung von Teilgebieten (etwa Schutz der wirtschaftlichen und finanziellen Interessen der Europäischen Union und Bekämpfung übernational wirksamer Kriminalität; S. 393f.).

 

Aus der Vielfalt von Aufgaben für ein im Umbruch befindliches Recht leitet Günter Heine in seinem Kommentar (S. 397-410) die Notwendigkeit zur Gemeinschaftsarbeit ab, wobei er besonderen Wissenschaftsbedarf in drei Bereichen sieht: De-Etatisierung, Internationalisierung und Instrumentalisierung des Strafrechts für gesellschaftliche Krisen.

 

Nils Jareborg (Uppsala) gibt dem Begriff Ideologie, verstanden als Grundanschauungen in einem Gedankensystem, eine Heimstatt (in seinem Kommentar Strafrecht und Ideologie, S. 411-415), um an fünf Typen von ideologischen Gegensätzen darzutun, daß jeweils in strafrechtsideologischer Hinsicht Stellung genommen werden müsse, was ohne Strafrechtsideologiebewußtsein nicht möglich sei.

 

Schwer tut sich Ursula Nelles, die Zukunftsaufgaben der Strafrechtswissenschaft zu erahnen, soweit nicht an den Bestand der Gegenwart angeknüpft werden soll (S. 417-426). Das Verlängern aktueller Linien verbürge nichts und ermögliche allenfalls eine brüchige Prognose. Dem von Roxin ausgemachten Zukunftsszenario stellt sie eine Skizze alternativer Prioritäten und Lösungswege entgegen. Einige Thesen ihrer weit in die Zukunft vorausgreifenden, höchst anregenden Spekulationen seien benannt: Nach Nelles befinden wir uns in einer Ära des Epochenwechsels, dessen Indikator die Auflösung aller derzeitigen Ordnungsmuster sei, wobei die Erosion auch vor dem Recht nicht haltmache (S. 420). Die Zukunft werde von einer Weltverfassung der Ökonomie geprägt sein, also Unantastbarkeit des Marktes, Deregulierung, Neodarwinismus (S. 421f.); hieraus folgend Entgrenzung der Strafrechtswissenschaft, Verschwimmen des Rechtsgebiets Strafrecht, Erosion des Verfahrensrechts, Abschied von den Aufgaben bisheriger Provenienz, dafür Suche nach Alternativen und neuen Steuerungselementen (für die bisherigen Zwecke) in einem Kontext globaler Ordnung. Von daher vermutet Nelles, daß wissenschaftliche Kriminalpolitik eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Zukunftsaufgabe der gesamten Strafrechtswissenschaften ist und zunehmend zur Kriminalpolitikwissenschaft werden wird (S. 425). Nur bei solcher Wandlung bestehe die Chance, die Richtung zu beeinflussen, die die Entwicklung nehmen werde.

 

In seinen Schlußbetrachtungen (S. 437-448) erstellt Eser zunächst eine Negativliste dessen, was ihm – weil nicht oder nur beiläufig angesprochen – fehlte. Neben der Strafrechtswissenschaft in der DDR und in der NS-Zeit (was war in den Lehren unserer Vorgänger bereits angelegt, was nur persönliche Schwäche) vermißt er den konzentrierten Blick auf die Strafrechtswissenschaft selbst, darauf, wie sie mit einem Problem wie beispielsweise dem Erlaubnistatbestandsirrtum umgeht; von der philosophischen Position habe er sich kein bestimmte Proto-Strafrecht erhofft, vielmehr eine kritische Überprüfung der Strafrechtsphilosophie und –dogmatik am Stand der zeitgenössischen Philosophie; Ähnliches gelte für den sozialwissenschaftlichen Blickwinkel. In Sorge um die Reinheit des Strafrechts verlören große Teile der Strafrechtswissenschaft dessen Ziel aus den Augen, nämlich (nur) eines der Mittel zu sein, mit deren Hilfe ein Höchstmaß an Freiheit in menschengerechtem Frieden gewährleistet werden soll. Hier könne schon die ältere Benennung Kriminalrecht zu einer Blickveränderung führen (S. 441). Auch der eigentliche Adressat der Kriminal(straf-)rechts sollte nicht länger übersehen werden; der Systemkonformität einer dogmatischen Konstruktion dürfe die rechtsethische Botschaft nicht geopfert werden (S. 424f.). Nachzudenken sei ferner über Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft, weil die mit der Tätigkeit notwendig verbundenen Wertungen dem Strafrechtswissenschaftler auch das externe Folgenbewußtsein abverlangten. Auf der kollektive Ebene müsse die Strafrechtswissenschaft sich verpflichtet fühlen, nicht nur modische Steckenpferde zu reiten, sondern auch den realen Fragen der Zeit Aufmerksamkeit widmen, besonders solchen Feldern, auf denen Gesetzgebung wuchere (S. 445). Sodann nimmt er den Appell an die verschiedentlich in der Diskussion zur Sprache gekommene Selbstreinigungskraft des Rezensionswesens auf, weil darin eine Chance liege, die Spreu vom Weizen zu trennen und damit für die Adressaten ein Gewinn an Lebenszeit verbunden sei (S. 446).

 

Ob diese Veranstaltung der Anfang einer gemeinsamen Besinnung war, wie die Veranstalter sich erhofften, oder ob nur ein „kollektiver Hund“ – und dazu noch vielstimmig – gebellt hat, ob sie als geglückt und folgenreich in Erinnerung bleiben, also Früchte tragen wird? Wer wollte das – schon heute – entscheiden?

 

Die Veranstalter hatten sich viel, nach Empfinden des Rezensenten zuviel, vorgenommen, die Themenstellungen wiesen nicht alle weitmöglichste Klarheit auf, die Vortragenden trafen nicht immer ganz das Gemeinte, die – hier nicht referierten - Diskussionen, der Kern der Veranstaltung, standen offenbar unter allzu großem Zeitdruck (die Sicht eines Revisionsrichters auf die Strafrechtswissenschaft fehlt): Kann ein solches Unternehmen überhaupt glücken? Das Kollektiv hat sich – ohne Absichtserklärungen – wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut; wie die einzelnen mit der gebotenen Fülle umgehen, was sie im eigenen Beritt ändern werden, weiß man nicht. Nichts gewesen? Dann wäre diese Rezension Zeitdiebstahl. So liegen die Dinge jedoch nicht. Die Tagung war ohne Frage ein Wagnis und die erwähnten Mängel, insbesondere auch die von Eser benannten, mögen höchstes Lob ausschließen. Aber die für die Teilnehmer in der Kürze der Zeit kaum zu fassende Menge an Problemen unterschiedlichster Provenienz bietet in der gedruckten Fassung dem Leser etwas, was es in dieser Art bisher nicht gegeben hat, einen echten Erkenntnismehrwert (Eser, S. 446). Chancen zu einer – in welcher Richtung immer – purgatorischen Gewissenerforschung.

 

Mainz                                                                                                             Michael Hettinger