Depping, André, Das BGB als Durchgangspunkt. Privatrechtsmethode und Privatrechtsleitbilder bei Heinrich Lehmann (1876-1963) (= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 34). Mohr (Siebeck), Tübingen 2002. XVI, 356 S.
I. Ungeachtet aller Unkenrufe wächst das Bedürfnis des juristischen Nachwuchses nach rechtsgeschichtlicher Reflexion. Insbesondere das 20. Jahrhundert wird zunehmend zum Forschungsthema von Nachwuchswissenschaftlern - und die Geschichte des Zivilrechts im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland steht dabei besonders stark im Vordergrund des Interesses. Dabei konzentrieren sich solche Arbeiten nicht nur auf das Umfeld des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte. Vielmehr finden sich auch an den einzelnen juristischen Fakultäten Kollegen, die sich der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit verstärkt zuwenden und Forschungsprojekte ihrer Doktoranden auf diesem Gebiet fördern. In diesem Kontext ist die vorliegende Dissertation angesiedelt, die von Joachim Rückert in Frankfurt betreut und zur Promotionsreife an der dortigen Fakultät geführt worden ist.
Drei Jahre intensive Forschung, zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen und eine intensive Beschäftigung mit Primär- und Sekundärquellen haben sich gelohnt. André Depping gelingt es in seiner umfassenden Studie, ein lebendiges und tiefgründiges Bild vom Leben und Wirken des Privatrechtsexperten Heinrich Lehmann zu vermitteln.
II. Das Buch beginnt mit einem ersten großen Abschnitt (S. 11–134), in dem Depping dem Leben und Werk Heinrich Lehmanns nachgeht. Lehmann, geboren 1876, stammte aus einer alten Richterfamilie. Schon früh zog die Familie nach Köln; nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg und Bonn und einem Referendariat im Kölner Raum promovierte er 1904 über „Die Unterschrift im Tatbestand der schriftlichen Willenserklärung“. Es folgte dann die Habilitation im Jahre 1905 in Bonn über das Thema „Unterlassung als Gegenstand der Leistungspflicht“. 1911 wurde Lehmann zum Professor in Bonn ernannt und erhielt ein Extraordinariat für Bürgerliches Recht und Handelsrecht in Jena. In Jena begann dann auch die politische Prägung Lehmanns, bedingt durch seine Mitgliedschaft in einer wirtschaftsrechtlichen Vereinigung und den Beitritt in die deutsche Vaterlandspartei. Gleichzeitig wird der Ton Lehmanns in Bezug auf rechtspolitische Fragestellungen schärfer. So betont Lehmann nunmehr, dass die Privatautonomie nur Mittel zum Zwecke des Gemeinwohls sei (S. 33). Zunehmend spricht Lehmann von der „Sozialisierung des Privatrechts“ sowie der besonderen Bedeutung des „Gemeinschaftsgeistes“ (S. 33). 1919 folgte der Wechsel an die frisch gegründete rechtswissenschaftliche Fakultät in Köln (die häufig zu findende Annahme, die Kölner Universität stamme aus dem Mittelalter, ist ein Irrglaube; die Kölner Universität ist vielmehr erst nach dem ersten Weltkrieg – erneut - gegründet worden und damit zum Beispiel jünger als die Universität zu Münster). Lehmann erhielt den Lehrstuhl für Römisches und Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Handelsrechts. Lehmann wurde sehr schnell zu einem zentralen „Strippenzieher“ an der Fakultät. Unter seinen Einfluss wurde die Kölner Fakultät größer und größer. Mächtiger werden auch die Prä-NS-Züge. Lehmann kritisiert nunmehr das Bürgerliche Gesetzbuch wegen seiner „Hinneigung zur abstrakten, formaljuristischen Regelung“ (S. 44). Mit Hinblick auf das Gemeinschaftswohl wird das Letztentscheidungsrecht des Ehemannes in Eherecht verteidigt (S. 45). Lehmann fordert eine Sozialisierung des Rechts verbunden mit einer Sozialisierung der Gesinnung (S. 48). Die Einzelnen wie die Berufsklassen seien „dienende Glieder am Gesamtwohl“ und müssten sich als solche in die Gesellschaft einordnen (S. 48). Dies gelte vor allem auch für Bereiche wie das Arbeitsrecht, da eine wahre Werksgemeinschaft nicht ohne Unterordnung denkbar sei (S. 49). Lehmann plädierte für eine großzügige Anwendung von § 242 BGB und bekämpfte gleichzeitig jedwede Form einer „kleinlichen Wortdeutung der einzelnen Bestimmungen“ (S. 50). Dementsprechend soll der Richter ein eigenes Prüfungsrecht haben, das sich an Gerechtigkeit idealer Weimarer Reichsverfassung zu orientieren habe (S. 52). Depping selbst sieht solche Forderungen allerdings als bürgerlich-liberal an.
Und hier werden auch schon meine ersten Zweifel und Anfragen an die Arbeit begründet. Lehmann war eindeutig nicht bürgerlich-liberal; er war auch nicht unpolitisch, wie es Depping gerne hätte (S. 55). Lehmann war, wie gerade auch weitere Belege des Verfassers zeigen (S. 59f.), deutsch-national und gleichzeitig sozial/gemeinschaftsorientiert. Er war ein Repräsentant der bürgerlichen Mittelklasse, die an zentralen Stellen der Verwaltung und Erziehungsanstalten den Nährboden für den Nationalsozialismus schuf. Dass diesen Personen der Nationalsozialismus nicht in allen Facetten später zusagen sollte, ändert nichts daran, dass sie auf Grund ihrer eingeschränkten, „typisch deutschen“ Denkweise im NS-Sog mitschwammen und dies auch grundsätzlich gerne taten.
Diese Einordnung gilt in besonderem Maße für Lehmann, wie sich schnell bei einem Blick auf dessen Verhalten eben in der NS-Zeit verdeutlichen lässt. Lehmann trat bereits 1934 dem Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen und der NS-Volkswohlfahrt bei. Er wurde Gruppenwalter im NS-Rechtsraterbund und Vorsitzender des handelsrechtlichen Ausschusses in der Akademie für Deutsches Recht. Er wirkte maßgebend an der Entwicklung des Volksgesetzbuches mit, dem ehrgeizigen NS-Plan für ein neues „NS-geprägtes Zivilgesetzbuch“. Schon 1933 finden sich zahlreiche Äußerungen in den Lehrbüchern Lehmanns, in denen dieser den Führergrundsatz und das Rasseprinzip rechtfertigt. Endlich konnte Lehmann seine Gedanken aus der Zeit vor 1933 aufgreifen und konsequent zu Ende führen. Dementsprechend liest man Passagen wie: „Die Wirtschaft hat dem Volke zu dienen und die Aufgabe des Staates ist es, darüber zu wachen, dass das geschieht. Auch der einzelne Unternehmer und das einzelne Unternehmen haben sich als dienendes Glied der Volksgemeinschaft zu fühlen und sich bei der wirtschaftlichen Betätigung und dem Gewinnstreben stets der Pflichten gegenüber Volk und Staat bewusst zu bleiben“. Fleißig wirkte Lehmann an den Konturen zum GmbH-Recht und AG-Recht innerhalb der Akademie für Deutsches Recht mit. Die entsprechenden Reformen waren wichtig für die Organisation des Kriegsnachschubes und der Verschleppung von Juden in die Konzentrationslager.
Besonders peinlich ist gerade eine von Depping als positiv dargestellte Szene, in der Lehmann ein einziges Mal mit den NS-Machthabern Probleme bekommt. So wurde ihm vorgeworfen, seine Frau habe auffallend regen Kontakt mit einem Juden unterhalten. Lehmann gibt zu, dass seit mehr als 10 Jahren Kontakte bestanden haben. Lehmann glaube „durch das schonende Abbrechen und Einschlafenlassen des Verkehrs meine Pflicht gegenüber dem Staat durchaus erfüllt zu haben“ (S. 63). Depping erwähnt auch noch einige Hilfeleistungen für jüdische Schüler und Kollegen (S. 64); die entsprechenden Belege stammen aber sämtlichst aus der Zeit nach 1945 und gehören zu den häufig bei Entnazifizierungsverfahren aufzufindenden „Persil-Scheinen“.
Nach 1945 kommt es denn auch sofort zum Eklat (S. 97ff.). Ein Gutachten bestätigte, dass Lehmann „mitarbeiten wollte, die Ziele und Grundgedanken des Parteiprogramms zu verwirklichen“. Lehmann legte dagegen Berufung ein und verwies auf vorliegende Persil-Scheine anderer Kollegen. Erstaunlicherweise kam es dann zu einer anonymen Anzeige bei der britischen Militärregierung. Hierin wird noch einmal die besondere Rolle Lehmanns bei der Mitherausgabe des Entwurfs eines Volksgesetzbuches herausgearbeitet und gefordert, Lehmann nicht wieder als Hochschullehrer einzusetzen. Lehmann wurde daraufhin im August 1946 entlassen und legte erneut dagegen Berufung ein. Dieses Verfahren selbst ist mit zahlreichen Ungereimtheiten versehen, erklärte Lehmann doch für fast ein Jahr das Ruhen des Berufungsverfahrens. Taktisch erwies sich dieses Ruhen des Verfahrens als sinnvoll, da angesichts der zunehmenden Kritik an der Entnazifizierungspraxis der Trend zu einer „liberaleren Haltung“ der Alliierten einzusetzen begann. Folgerichtig wurde Lehmann Ende 1947 in die Kategorie fünf (entlastet) eingestuft (S. 101). Doch damit war das Problem der NS-Zeit für Lehmann noch nicht beendet. Die besondere Stärke der Arbeit liegt nämlich auch darin, das Verlagsarchiv des JCB Mohr Verlags ausgewertet zu haben. Darin findet sich ein Schriftwechsel zwischen dem Verleger Paul Siebeck und Martin Wolff. Wolff, der wegen seiner jüdischen Abstammung zwangsweise entlassen und emigriert war, verweigerte die Zustimmung zur Neubearbeitung des Lehrbuches von Enneccerus durch Lehmann mit Hinweis auf dessen „braune Vergangenheit“. Trotz wiederholter Proteste Wolffs blieb Lehmann Neubearbeiter des Enneccerus. Allerdings – und hier liegt die besondere Peinlichkeit nicht nur am Wirken Lehmanns, sondern vieler NS-geprägter Zivilrechtslehrer nach 1945 – kam es zu eigenartigen Darstellungen in den Lehmann-Texten. So wird in dem Enneccerus darauf verwiesen, dass bei der Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuchs „der Eigenart des deutschen Rechtsdenkens“ Rechnung zu tragen sei, die das Schuldverhältnis als einen „Zustand des Gemeinschaftslebens“ ansehe (S. 115). Der Ton ist zwar etwas moderater, wenn Lehmann die Gemeinschaftswerte nicht mehr aus einer nationalsozialistisch konzipierten Gemeinschaft ableiten will und statt dessen auf die gleichberechtigte Mitwirkung des anderen besteht. Dennoch sind die Phrasen die gleichen. So werden einfach die Hinweise auf das „gesunde Volksempfinden“ ersetzt durch die „guten Sitten“ (S. 115). Wieder werden Gemeinschaftssinn, Pflichtengebundenheit sowie Über- und Unterordnungsgedanke verwendet. Kein Wort der Entschuldigung, kein Wort der selbstkritischen Reflexion über die NS-Zeit kam Lehmann über die Lippen, bis er am 7. Februar 1963 im Alter von 86 Jahren in Köln starb.
III. Nach dieser Darstellung der Vita wendet sich Depping der Privatrechtsmethode Lehmanns zu (S. 134ff.). Sehr flüssig und eingängig beschreibt der Verfasser die verschiedenen methodischen Einsprengsel im Wirken Lehmanns, der selbst nie eine eigene Schrift zur Rechtstheorie oder Methodenlehre verfasst hat. Es ist daher schon ein Verdienst, aus den verschiedenen Schriften Lehmanns dessen theoretischen Grundannahmen herausgearbeitet zu haben. Allerdings teile ich die Wertung des Verfassers nicht ganz, der in seinem Bemühen, Lehmann vor Vorwürfen der NS-Mitläuferei zu retten, stets die bürgerlich-liberalen Traditionen bei Lehmann (über-)betont. Depping hebt daher sehr stark auf die gesetzgebungsfreundliche Grundhaltung Lehmanns ab, die zentral auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstelle und Juristenrecht vor allem bei der Ausfüllung offener Begriffe zulasse. Depping sieht Lehmann hier in der Nähe zu seinem Lehrer Zitelmann, insbesondere auch bei der Betonung objektiver Auslegungselemente. Zu Recht stellt Depping dann fest, dass die Brüche nach 1933 besonders in der Methodenpraxis als eher gering „anzusehen sind“ (S. 213). Der Bruch ist nach Auffassung Deppings nach 1945 deutlicher, insbesondere mit dem Verzicht auf „Lebensfloskeln“ und dem vermehrten Auftreten entstehungsgeschichtlicher Argumente.
IV. Im dritten und letzten Abschnitt folgen dann noch Hinweise zu den Privatrechtsleitbildern Lehmanns (ab S. 215). Depping betont hier, wie stark Lehmann gesetzgebungsorientiert das BGB nicht nur als formales Gesetz, sondern als Lebensregel und natürliche Ordnung angesehen hat (S. 216ff. und S. 231ff.). Das Zivilrecht habe eine soziale Aufgabe, insbesondere im Ausgleich zwischen unterschiedlich Mächtigen und zum Schutz wirtschaftlich Schwächerer (S. 238ff.). Vieles, was man hier lesen kann, ist allerdings sehr allgemein gehalten. Es fällt auf, dass Lehmann eben nicht der große Rechtstheoretiker oder Rechtsphilosoph war. Von Lehmann gingen keine umwälzenden Neuentwürfe aus; es handelt sich nicht um einen der großen zivilrechtlichen Entdecker. Lehmann war ausweislich seiner Schriften der vorliegenden Biographie ein blitzgescheiter, formulierungsgewandter Handlanger, der die formale Strenge der Zivilrechtsordnung durch eine je nach Lebensalter stärker oder schwächer akzentuierte Bindung an das Volk, das Leben oder den Gemeinsinn abschwächen wollte. Damit passte er in das Milieu der Nationalsozialisten und wurde dadurch auch einer ihrer unzähligen Rädchen im Getriebe. Dies darf man meines Erachtens Lehmann nicht vorwerfen. Niemand weiß, was er selbst in dieser Zeit als Hochschullehrer getan hätte. Mit Befremden allerdings muss man registrieren, wie die Wissenschaftszunft nach 1945 eine grundlegende Reflexion über das eigene Versagen systematisch verhindert hat. Bei Lehmann wiederholt sich nur das, was man bei Larenz, Heinrich Lange oder Theodor Maunz ebenfalls feststellt. Noch heute wollen deren Schüler nicht wahrhaben, welch unsägliche Rolle ihr Lehrer in der NS-Zeit gespielt hat; noch heute zehrt der juristische Nachwuchs von Handbüchern und Kommentaren, die in ihrer Wurzel auf einem NS-Umfeld basieren.
Münster Thomas Hoeren