Charters and the Use of the Written Word in Medieval Society, hg. v. Heidecker, Karl (= Utrecht Studies in Medieval Literacy 5). Brepols, Turnhout 2000. XI, 253 S.
Der in der 1999 vom Utrechter „Pionier Project Verschriftelijking“ eingerichteten Reihe erschienene Band beschäftigt sich mit mittelalterlichen Urkunden und ihrem Aussagewert für die Entwicklung von Schrift und Schreiben in der mittelalterlichen Gesellschaft. Im Vordergrund steht also nicht eine auf das Discrimen veri ac falsi ausgerichtete Diplomatik, sondern die Frage, welcher Quellenwert Urkunden für die Untersuchung mittelalterlicher Kultur und Mentalität zukommt; erklärtes Ziel des Bandes ist es daneben, das betont Karl Heidecker in seiner programmatischen Einleitung (S. 1-12), die Bedeutung der historischen Hilfswissenschaften bei der Untersuchung von Schriftlichkeit und ihrem Gebrauch zu erweisen. Jeder der Autoren untersucht ein bestimmtes geographisches Gebiet; gemeinschaftlich wollen sie Einblick bieten in den gegenwärtigen Stand der Forschung und in unterschiedliche Untersuchungsmethoden.
Die Beiträge im Einzelnen: Mark Mersiowsky,
Towards a reappraisal of Carolingian sovereign charters, S. 15-25, plädiert für
einen Perspektivenwechsel bei der Untersuchung karolingischer
Herrscherurkunden; der Blick müsse künftig weniger auf die Herrscherkanzlei und
die Urkunden als Ausdruck herrscherlichen Willens und herrscherlicher
Selbstdarstellung gerichtet werden, sondern sich stärker modernen Fragestellungen
wie denen zur Rolle der Stücke im Rahmen von Schriftlichkeit und Kommunikation
zuwenden; der Einfluß der Empfänger auf die Sprache, das Layout und die Wirkung
von Urkunden sollte mehr ins Blickfeld rücken. - David Postles, Country clerici and the composition of English
twelfth- and thirteenth-century private charters, S. 27-42, sucht den
Urkundenschreibern in der ländlichen Gesellschaft Englands auf die Spur zu
kommen, unter denen sich viele clerici,
aber offenbar auch Laien finden, deren sozialer Status und deren Ausbildung
aber nur in Ausnahmefällen zu eruieren sind. - Philippe Depreux, The
development of charters confirming exchange by the royal administration (eighth
- tenth centuries), S. 43-62, widmet sich Herrscherurkunden, die Tauschvorgänge
bestätigen; diese Urkunden erscheinen, von seltenen älteren Ausnahmen (2
Beispiele merowingischer Herrscher, 4 Karls des Großen), erst unter Ludwig dem
Frommen, dessen Kanzlei auch ein festes Formular für die Bestätigungen
entwickelte; sie treten im 9. und 10. Jahrhundert mit mehr als 100 Beispielen
in großer Zahl auf, gehen danach jedoch im Westfrankenreich stark zurück,
während sie im ostfränkischen Reich noch länger vorkommen. - Herwig Weigl,
What to write in court: Literacy and lawsuits in late medieval Austria, S.
63-80, untersucht die Verwendung von Schrift in Gerichtsverhandlungen in
ländlichen Gebieten des spätmittelalterlichen Österreichs, an denen vor allem
der niedere Adel, in geringerem Maße auch die obere Schicht des Bauerntums
beteiligt waren; der Autor betont die Vorläufigkeit seiner Ergebnisse und ist
in seinen Schlußfolgerungen sehr zurückhaltend; seine vielfältigen Beispiele
liefern aber doch deutliche Indizien für „an increasing need
for well-documented
proceedings as proof of formal correctness, validity and legality“ (S. 78). - Anna
Adamska: „From memory to written record“ in the periphery of medieval
latinitas: The case of Poland in the eleventh and twelfth centuries, S. 83-100,
macht auf die geringe Anzahl von Urkunden vor dem Jahr 1200 in ihrem
Untersuchungsraum aufmerksam, streift die Frage der Existenz einer polnischen
herrscherlichen („central“) Kanzlei und stellt dann in einer Tour d’horizon
sämtliche Spuren von Schriftlichkeit im Polen des 11. und 12. Jahrhunderts vor,
vom ältesten schriftlichen Urteil (1189) über die erste Chronik bis hin zu
ersten literarischen Werken und Inschriften. - Eef
Dijkhof, Goatskin and growing literacy: The penetration of writing in the
former counties of Holland and Zeeland in the thirteenth century in relation to
the changes of the internal and external features of the charters issued, S.
101-112, kann in seinem informativen Beitrag die führende Rolle der Städte und
ihrer Bewohner bei der Ausbreitung von Schriftlichkeit verdeutlichen; einen
Wandel des äußeren Erscheinungsbildes der Urkunden (Aufkommen der Kursive,
Wandel des Beschreibstoffes, Veränderung von Layout und Formular, Übergang zur
Volkssprache) setzt er überzeugend in Beziehung zum Anwachsen von
Schriftlichkeit. - Dauvit Broun, The writing of charters in Scotland and
Ireland in the twelfth century, S. 113-131, bestreitet zumindest für Schottland
und Irland die Existenz der von Wendy Davies postulierten sogenannten „Celtic
charters“, verfolgt die Spuren der Entstehung und Ausbreitung von Urkunden im
12. Jahrhundert vor allem in Schottland und stellt dort - im Unterschied zu den
Verhältnissen in Irland - einen Wandel einer auf lokalen Machtstrukturen
aufgebauten Gesellschaft zu einer neuen Ordnung fest, in der Kirche und
Königtum eine wachsende Rolle spielten; im Anhang bietet er eine Übersetzung
der gälischen, Grundbesitz betreffenden und aus dem 12. Jh. stammenden
Einschübe in das Book of Deer (9. Jh.). - Ivan Hlaváček, The use of
charters and other documents in Přemyslide Bohemia, S. 133-144, liefert
einen Überblick über die urkundliche Überlieferung bis 1310 und den Editions-
und Bearbeitungsstand der Urkunden seines Untersuchungsgebiets; er betont den
Einfluß von außen kommender Zeugnisse (u. a. Papsturkunden) und die Rolle der
neuen Orden der Prämonstratenser und Zisterzienser bei der Ausbreitung von
Schriftlichkeit. - Georges Declercq, Originals and cartularies: The
organisation of archival memory (ninth - eleventh centuries), S. 147-170,
widmet sich der Archivierung von Urkunden und der Anlage von Chartularen; die
Ursachen der großen Unterschiede in der Entstehung und der typischen Anlage von
Chartularen zwischen dem Ostfrankenreich und dem Westfrankenreich sieht er im
frühen Übergang von der Carta zur Traditionsnotiz im Osten, im Gegensatz zum
längerem Überleben der Carta im Westen; in der Folge kamen Chartulare im Osten
bereits seit dem frühen 9. Jahrhundert, im Westen aber nicht vor dem 10.,
gehäuft erst seit dem 11. Jahrhundert auf. Bestätigt sieht er seine Theorie
durch die italienischen Verhältnisse, die von einer noch längeren Lebensdauer
der Carta und einer noch späteren Entstehung von Chartularen charakterisiert
sind. - Laurent Morelle, The metamorphosis of three monastic charter
collections of the eleventh century (Saint-Amand, Saint-Riquier,
Montier-en-Der), S. 171-204, zeichnet die Unterschiede in der
Urkundenarchivierung an den drei in der Kirchenprovinz Reims gelegenen
Beispielen nach und untersucht die Entstehung von Chartularen, Chroniken mit
Urkundeninserten und Inventaren. - Alexander Hecht, Between memoria, historiography and pragmatic
literacy: The Liber Delegacionum of
Reichersberg, S. 205-211, stellt das unter Gerhoch 1146-69 begonnene und bis
zum Ende des 13. Jahrhunderts fortgeführte Traditionsbuch von Reichersberg vor
und weist darauf hin, daß die älteren Editoren (Monumenta Boica, MGH) in ihren
Ausgaben in Aufbau und Struktur des Textes eingriffen. - Franz-Josef
Arlinghaus, From „improvised theatre“ to scripted roles: Literacy and
changes in communication in north Italian law courts (twelfth - thirteenth centuries), S. 215-237, zeigt
an Beispielen des ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jh. vor allem aus
Mailand, aber auch aus Bologna und San Gimignano auf, wie sich die mündliche
Kommunikation vor Gericht zunehmend auf Schriftstücke stützte; damit sei eine
autonome Zone der Kommunikation innerhalb der Stadt geschaffen und eine
möglichst geringe Gefährdung des sozialen und politischen Lebens innerhalb der
Stadtgesellschaft erreicht worden. - Simon Teuscher, Textualising peasant
enquiries: German Weistümer between
orality and literacy, S. 239-253, kommt bei der Analyse der Weistümer des
Züricher Großmünsters (St. Felix und Regula), deren ältestes aus der Mitte des
14. und deren jüngeres von ca. 1500 stammt, zu dem Ergebnis, daß die jüngere
Version durch zahlreiche archaisierende und idyllisierende Einschübe die
älteren Texte in einer Weise veränderte, die fälschlich den Eindruck einer auf
mündlicher Tradition beruhenden Herkunft der Texte erwecken sollte.
Mit diesem Band, dessen Verdienst nicht zuletzt
darin liegt, daß er die Randzonen des mittelalterlichen Europas in seine
Betrachtungen mit einbezieht, liegt uns ein wichtiger und weiterführender
Beitrag zur Geschichte mittelalterlicher Schriftlichkeit vor.
Marburg an der Lahn Irmgard
Fees