Brauneder, Wilhelm, Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht. Amalthea, Wien 2000. 368 S. 30 Abb.
Wilhelm Brauneder hat mit diesem Buch als erster unter den österreichischen Historikern und Verfassungshistorikern eine detaillierte Darstellung des Entstehungsvorganges der Ersten Republik vorgelegt, in der die zahlreichen Irrtümer und Ungenauigkeiten innerhalb der neueren österreichischen Geschichtsschreibung, aber auch in der österreichischen Verfassungsrechtslehre überzeugend korrigiert werden. Zugleich wird eine eindrucksvolle Schilderung der verwickelten Vorgänge geliefert, die zur Entstehung der Republik Österreich geführt haben, bei der nicht nur die amtlichen Quellen herangezogen worden sind, sondern auch die Mitteilungen in der zeitgenössischen Presse, die Wiedergabe von persönlichen Eindrücken bis hin zur Deutung einzelner Vorgänge in der zeitgenössischen Literatur.
Der Verfasser beginnt mit einer Beschreibung der für die Staatsgründung maßgebenden Vorgänge und Schauplätze, die bei den Geschehnissen namentlich in Wien eine Rolle gespielt haben, sowie der Kalenderdaten, denen bei dem ganzen Geschehen eine entscheidende Bedeutung zukam und über deren verfassungsrechtliche wie verfassungsgeschichtliche Bedeutung in der Forschung wie im allgemeinen Bewußtsein noch immer keine wirkliche Klarheit herrscht.
Als erstes Datum nennt der Verfasser den 30. Oktober 1918, jenen Tag, an dem die Provisorische Nationalversammlung den Staatsgründungsbeschluß über den neuen Staat Deutschösterreich faßte. Der neue Staat sollte eine „Neuerscheinung“ sein, nicht zuletzt um die zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbaren Folgen des verlorenen Krieges von dem neuen Staat fernzuhalten. Die Diskontinuität konnte allerdings nur eine formelle sein, materiell sollte die alte Rechtsordnung bis zum Erlaß neuer Gesetze fortbestehen, ein Verfahren, das später übrigens in abgewandelter Form beim sog. Anschluß 1938 erneut verwendet wurde, um ein juristisches Chaos zu verhindern. Eingehend beschreibt der Verfasser das vorübergehende Nebeneinander der alten Verfassung der k. und k. Monarchie und der neuen, durch den Staatsgründungsbeschluß geschaffenen Verfassungsordnung mit allen ihren Facetten. Es läßt deutlich eine stufenweise Entstehung der Republik erkennen und stellt im Grunde keine Revolution im Sinne eines gewaltsamen Umsturzes dar, sondern den etappenweisen Übergang von der Monarchie zur Republik. Manches mutet dem heutigen Betrachter geradezu bizarr an, so etwa wenn berichtet wird, daß zwei Regierungen zur gleichen Zeit nebeneinander agierten, nämlich auf der einen Seite der k. und k. Ministerrat bzw. der Gemeinsame Ministerrat der in Realunion verbundenen „Reichshälften“ Österreich und Ungarn und auf der anderen Seite der Staatsrat der Republik Deutschösterreich, nur getrennt durch zwei verschiedene Sitzungssäle und ausgestattet mit demselben bürokratischen Apparat. Der Beamte als Diener zweier Dienstherren – eine seltsame Situation.
Das zweite bedeutende Datum ist für Brauneder der 12. November 1918, an dem die Provisorische Nationalversammlung den Beschluß über die republikanische Regierungs- und Staatsform faßte, mit dem das Ende der Monarchie endgültig besiegelt wurde. Eine spätere Folge dieses Beschlusses waren die bekannten im Jahre 1919 von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossenen Gesetze gegen die Habsburger und über die Aufhebung des Adels und die Abschaffung bestimmter Titel und Würden, Gesetze, die als Ausdruck der herrschenden Stimmung sowohl bei den Mitgliedern der Versammlung wie in Teilen der Bevölkerung gewertet werden müssen. Der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuß, Nationalökonom, Historiker und selbst Politiker, hat die Aufhebung des Adels und die Abschaffung der Titel und Würden durch das neue Staatswesen als „kleinliche Reaktion der neuen Republik“ bezeichnet, eine zutreffende Charakteristik, zumal dieser Gesetzesbeschluß in der sozialen Wirklichkeit vielfach kaum Auswirkungen zeitigte. Die an die Sitzung anschließende Proklamation geriet freilich fast zu einem politischen Debakel, insofern kommunistische Aktivisten die neuen rot-weiß-roten Fahnen von den Fahnenmasten vor dem Parlamentsgebäude herunterrissen und die roten Teile zum Zeichen des sozialistischen Charakters der neuen Republik vorübergehend als neue Fahnen aufzogen. In der Folgezeit habe man diesen Tag immer wieder – nicht zuletzt aus parteipolitischen Gründen - als den wirklichen Staatsgründungstag verstanden und zum Staatsfeiertag erhoben, meint Brauneder, obschon die eigentliche Staatsgründung bereits mit dem Beschluß der provisorischen Nationalversammlung erfolgt sei.
Im Anschluß an eine staats- und verfassungsrechtliche Würdigung des ganzen Geschehens untersucht der Verfasser andere Staatsgründungen in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges, vor allem die Rolle von Nationalversammlungen als bestimmenden Institutionen bei der Schaffung neuer staatlicher Ordnungen. Im Licht dieser Vorgänge erscheint für ihn Österreich keineswegs als ein Sonderfall, sondern eher als der Normalfall, insofern sich in den meisten Staaten die Umbildung überlieferter und die Schaffung neuer staatlicher Ordnungen ebenfalls durch die Abfolge von provisorischen und konstituierenden Nationalversammlungen vollzogen. Mit Recht geht Brauneder am Ende seines Buches auch auf den parteipolitischen Streit um die Bedeutung des 12. November als Staatsfeiertag ein, der in den dreißiger Jahren von der österreichischen Sozialdemokratie einseitig in Anspruch genommen, später durch den Ständestaat abgeschafft wurde, bevor er nach dem Anschluß endgültig verschwand. Heute spielt der Streit keine Rolle mehr, nachdem der 26. Oktober als Tag der Beendigung der alliierten Besetzung als Staatsfeiertag figuriert, den es allerdings nicht gäbe, so bemerkt der Verfasser am Schluß, wenn es keinen 30. Oktober 1918 gegeben hätte.
Das Buch ist nicht nur für Fachkollegen geschrieben, sondern richtet sich bewußt an einen größeren Leserkreis von historisch interessierten, nicht zuletzt auch jüngeren Lesern, denen die dramatischen Ereignisse der Oktober- und Novembertage des Jahres 1918 vor Augen gestellt werden sollen, zumal die gängigen Geschichtsdarstellungen in Bezug auf Genauigkeit und Objektivität viel zu wünschen übriglassen. Lebendig, anschaulich und spannend werden die Vorgänge dieses Zeitabschnitts der österreichischen Geschichte von Brauneder geschildert, ohne daß die Präzision der Darstellung, vor allem die Klarheit der juristischen Argumentation, darunter gelitten hätte. Das ganze Ausmaß der Vorgänge, die sich am Ende des Jahres 1918 in Österreich abgespielt haben, vermag allerdings nur derjenige wirklich zu begreifen, der die Dramatik des Zusammenbruchs einer staatlichen Ordnung und die Mühen eines Neuanfangs selbst erlebt hat.