Brandt, Christian, Die Entstehung des Code pénal
von 1810 und sein Einfluss auf die Strafgesetzgebung der deutschen
Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns und Preußens (=
Europäische Hochschulschriften 2, 3326). Lang, Frankfurt am Main 2002. XXIX,
487 S.
Während die Einflüsse des
Code civil (Code Napoléon) und der französischen Strafgerichtsverfassung auf
die deutsche Rechtsentwicklung hinreichend bekannt und erforscht sind, fehlte
es bislang an Arbeiten über die Einflüsse des materiellen französischen
Strafrechts des Code pénal auf die deutschen
Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts. Die Lücke schließt nunmehr das
Werk von Brandt in mehrfacher Hinsicht. Die gute Hälfte des Werkes befasst sich
mit dem französischen Strafrecht unter dem Ancien régime im 18. Jahrhundert, mit dem Code pénal
von 1791 und dem revolutionären Strafrecht sowie auf über 150 Seiten mit dem
Code pénal von 1810. Mit Recht hielt es Brandt für
unerlässlich, sich neben dem Code pénal von 1810 auch
ausführlich mit der Strafrechtskodifikation von 1791 zu befassen, da zahlreiche
der in der napoleonischen Kodifikation und später auch in den meisten deutschen
Partikularrechten erfassten Materien letztlich auf Neuerungen beruhen, die
bereits durch die Strafgesetzgebung der Revolutionszeit eingeführt worden
waren. Die Neuerungen von 1791 hatten wiederum ihre Grundlage in der
Aufklärungsphilosophie, die ebenfalls im Überblick dargestellt wird. Auch die
Missstände des überkommenen französischen Strafprozesses kommen hier zur
Sprache. Noch
vor dem Code pénal vom 25. 9./6. 10. 1791 war das Décret relatif à
l’organisation d’une police municipale et correctionelle am 21. 9/22. 7. 1791 ergangen, das die minderschweren Delikte
tatbestandsmäßig erfasste und der police correctionelle und municipale
unterstellte. Dies bedeutete eine erste Differenzierung zwischen Vergehen und
Übertretungen und leitete zusammen mit den im Code pénal
erfassten Verbrechen die für die Zukunft richtungweisende qualitative
Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen
ein. Der Code des délits et des peines
vom 25. 10. 1795 brachte für das materielle Strafrecht nur geringe Änderungen,
baute jedoch die Dreiteilung der strafbaren Handlungen und damit auch die
qualitative Dreiteilung der Strafen und der Strafgerichtsbarkeit weiter aus. Im
einzelnen befasst sich Brandt detailliert mit den den französischen Codes zugrundeliegenden
Prinzipien, dem Strafensystem, den allgemeinen Grundsätzen der Verbrechenslehre
und mit den speziellen Tatbestandsgruppen. Abschließend ist die weitere
Entwicklung des französischen Strafrechts bis in die 60er Jahre des 19.
Jahrhunderts in Umrissen dargestellt. Zur Entstehung der Codes und inhaltlichen
Kennzeichnung zieht Brandt durchgehend die jeweils maßgeblichen Quellen heran
(für 1792 die Archives Parlamentaires,
für den Code pénal von 1810 die immer noch
unentbehrliche Quellensammlung von Locré). Die breite
Darstellung der französischen Strafrechtskodifikation war auch im Hinblick auf
die rezeptionsgeschichtliche Zielsetzung des Werkes erforderlich, da eine in
sich geschlossene, hinreichend detaillierte Entstehungsgeschichte der
französischen Strafrechtskodifikationen bisher nicht vorlag. Auch in dieser
Hinsicht betritt die Darstellung Brandts Neuland.
Der zweite Abschnitt des
Werkes behandelt den Einfluss des Code pénal von 1810
auf die Strafgesetzgebung der deutschen Partikularstaaten des 19. Jahrhunderts
am Beispiel Bayerns und Preußens, und zwar beschränkt auf das Strafensystem und
die allgemeinen Grundsätze der Verbrechenslehre. Brandt schreibt zu dieser
Beschränkung in der Einleitung: „Während nämlich im ersten Teil der
vorliegenden Arbeit die einzelnen Bestimmungen der besonderen Teile sowohl des
Code pénal von 1791 als auch die der gleichnamigen
napoleonischen Kodifikation von 1810 deshalb bewusst dargestellt worden sind,
um den den beiden Kodifikationen innewohnenden Geist
zu verdeutlichen sowie die erheblichen Veränderungen und die rasch
fortschreitende Entwicklung innerhalb der französischen Strafgesetzgebung
zwischen 1791 und 1810 zu dokumentieren, musste ein entsprechendes Eingehen auf
die einzelnen strafbaren Tatbestände beider deutscher Strafgesetzbücher allein
schon aufgrund der Fülle der Vorschriften den für die vorliegende Arbeit zur Verfügung
stehenden Rahmen sprengen“ (S. 3). Dies ist zwar sehr zu bedauern, war aber –
wenn man wie Verfasser zwei Kodifikationen rechtsvergleichend
und geschichtlich abhandeln will – wohl unumgänglich. Nicht ganz zu verstehen
ist allerdings, weshalb Verfasser die über das preußische Strafgesetzbuch von
1851 vermittelten französischrechtlichen Einflüsse auf den Allgemeinen Teil des
Strafgesetzsbuchs von 1870/71 im einzelnen nicht mehr
dargestellt hat, zumal dies in aller Kürze hätte geschehen können. – Hinsichtlich
der französischrechtlichen Einflüsse auf das bayerische Strafgesetzbuch von
1813 – so stellt Brandt fest – lassen sich die französischrechtlichen Einflüsse
nur „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit“ feststellen (S. 485). Allerdings
hätte man vielleicht einen Teil der Mutmaßungen präzisieren können, wenn man
die Entwürfe Feuerbachs aus der Zeit bis zum Bekanntwerden
des Code pénal von 1810 mit
heranzieht. Erst in den Beratungen der besonderen Staatsratskommission konnte
der Code pénal überhaupt berücksichtigt werden. Dies
schließt aber nicht aus, dass die Entwürfe Feuerbachs vom Code pénal von 1791 und den nachfolgenden Strafrechtsnovellen
Frankreichs, die auch in den linksrheinischen Departements galten, beeinflusst
waren. Hinzu kommen noch mögliche Einflüsse des französischen Strafrechts über
die zeitgenössische Strafrechtsliteratur, die unter rezeptionsgeschichtlichen
Aspekten bisher kaum erschlossen ist. - Auch hinsichtlich der
französischrechtlichen Einflüsse auf das preußischen Strafgesetzbuchs von 1851
musste sich Brandt im Interesse der notwenigen Umfangsbegrenzung mehrere
Beschränkungen auferlegen. Zwar ist die Geschichte der StGB-Entwürfe, die im
Rahmen der „Gesetzrevision“ ab 1826 aufgestellt wurden, in ihrem äußeren
Verlauf detailliert beschrieben. Da sich aber die Vorlagen zum Teil erheblich
voneinander unterscheiden, war ihre volle Einbeziehung in den
rezeptionsgeschichtlichen materiellrechtlichen Teil nur am Rande möglich.
Endlich sei noch auf die Entscheidung von Brandt hingewiesen, die Rezeptionsgeschichte
hinsichtlich der von ihm behandelten Materien nicht sozusagen „vertikal“,
sondern getrennt für die beiden deutschen Kodifikationen darzustellen;
ähnliches gilt für das Verhältnis der beiden französischen Kodifikationen von
1791 und 1810. Dieses Verfahren führt dazu, dass der Leser an vier Stellen mit
den jeweiligen Einzelregelungen befasst wird. Auf der anderen Seite erscheint
das vom Verfasser gewählte Verfahren aber darin wohlbegründet, dass nur auf
diesem Weg ein Gesamtbild der französischrechtlichen Einflüsse auf die
deutschen Kodifikationen möglich erscheint.
Für die Kodifikation von 1791
arbeitet Brandt folgende Prinzipien heraus: Gleichheit aller vor dem Gesetz,
Persönlichkeit der Strafe, Abschaffung der Vermögenskonfiskation, die oft eine
ganze Familie traf, Humanisierung der Strafgesetzgebung, Verhältnismäßigkeit
von Strafe und Verbrechen, Legalitätsprinzip (nulla poena sine lege), System der peine fixe (gegen die Willkürstrafen des Ancien régime gerichtet) sowie
Abschreckungs- und Nützlichkeitsgedanke. Entgegen den Vorschlägen der
vorbereitenden Kommission (Comité de législation criminel) wurde die
Todesstrafe beibehalten. Die zweithöchste Strafe war die (zeitige) Kettenstrafe
(chaîne, später fer),
die mit schwerer Zwangsarbeit verbunden war. Im einzelnen geht der Verfasser
ein auf den Rückfall, den Einfluss des Alters auf Art und Dauer der Strafe
(Anfänge eines Jugendstrafrechts), die Verfolgungs- und
Strafvollstreckungsverjährung, die sog. Rehabilitierung, die Mitwirkung
mehrerer an einem Verbrechen, den Versuch (allgemeine Regelung erst 1796/99)
und die Notwehr (nur beschränkte Regelung in Einzeltatbeständen). Bis 1810
wurden u. a. die Vermögenskonfiskation und die lebenslangen Strafen wieder
eingeführt. Der Code pénal von 1810 behielt die
Prinzipien von 1791 im wesentlichen bei. Er war
allerdings nahezu ausschließlich im Anschluss an die Einflüsse von Bentham – 1802 waren in Paris die Traités
de législation civiles et pénales erschienen – vom Prinzip der Nützlichkeit und
Notwendigkeit der Strafe als Mittel eines effektiven Schutzes der Gesellschaft
und ihrer Rechtsgüter bestimmt. Zu Ahndung der Verbrechen wurden die Strafen
erheblich verschärft (Todesstrafe in 30 Fällen; lebenslängliche Zwangsarbeit bzw.
Brandmarkung [1832 abgeschafft], Betonung der Willensfreiheit). Im Gegensatz
dazu verfolgt die Kodifikation mit der 1810 für Vergehen erstmals geschaffenen
Gefängnisstrafe keine vorrangig generalpräventive Zielsetzung mehr, sondern in
erster Linie spezialpräventive und auf die Besserung des Straftäters gerichtete
Elemente. Bei Vergehen konnten auch allgemein mildernde Umstände bei der
Straffestsetzung berücksichtigt werden. Aus dem Bereich des Besonderen Teils
sei auf den Aufbau der Sittlichkeitsdelikte hingewiesen (S. 203ff.;
stärkere Ahndung der Förderung der Jugendprostitution; Wiedereinführung der
Ehebruchsstrafen mit Besserstellung des Mannes).
Für das bayerische
Strafgesetzbuch von 1813 arbeitet Brandt die französischrechtlichen Einflüsse
bei der Dreiteilung der Delikte, der richterlichen Strafzumessung innerhalb
eines gesetzlich genau fixierten Strafrahmens, dem strafmildernd zu
berücksichtigenden jugendlichen Alter des Straftäters, der Festschreibung des
Grundsatzes nulla poena sine lege,
der Einführung von Haupt- und Nebenstrafen sowie bei der mit dem Strafensystem
des Code pénal unmittelbar entlehnten Sanktion des
bürgerlichen Todes heraus. Unverkennbar sind die französischen Einflüsse auch
bei den gesetzlichen Begriffsbestimmungen des Versuchs, der Beihilfe sowie der
Begünstigung, des Rückfalls, der Notwehr sowie bei der Verjährung. Auf der
anderen Seite wich das bayerische Strafgesetzbuch vom französischen Recht u. a.
ab mit der Strafbarkeit des Versuchs auch bloßer Vorbereitungshandlungen sowie
mit der unverhältnismäßigen Einengung des richterlichen Ermessens. - Erheblich
stärker waren die Einflüsse des französischen Rechts auf den Allgemeinen Teil
des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851, auf dessen Vorentwürfe seit 1847
rheinische Juristen einen im einzelnen noch nicht näher untersuchten
maßgebenden Einfluss hatten. Das Vorbild des französischen Rechts zeigte sich –
zum Teil in wörtlicher Übernahme von Bestimmungen des Code pénal
– in allen Bereichen, besonders im Aufbau und in der Struktur des preußischen Strafgestzbuchs, in der Dreiteilung der Delikte, der
Abstellung auf die intellektuelle Einsichtsfähigkeit bei jugendlichen
Straftätern, der Festschreibung des Grundsatzes nulla poena sine lege, bei dem System von
Haupt- und Nebenstrafen, der Festsetzung von Strafrahmen sowie bei der
Übernahme des Systems der mildernden Umstände. Insgesamt verfolgte das
preußische Strafgesetzbuch ein erheblich milderes Strafensystem und verzichtete
auf die Vollstreckung der Todesstrafe in der Öffentlichkeit. Entsprechend dem
französischen Recht enthielt die neue Kodifikation keine Definition des
Vorsatzes und der Fahrlässigkeit. Weiter entwickelt wurden die Abgrenzung der
Teilnahmeformen, das Notwehrrecht (Regelung auch des Notwehrexzesses), der
Versuch, die Teilnahme sowie der Rückfall. Die
Strafverfolgungsverjährungsfristen wurden verlängert; eine
Vollstreckungsverjährung war nicht vorgesehen. Die mildernden Umstände durften
anders als nach dem nachnapoleonischen Strafrecht nicht allgemein
berücksichtigt werden. Ausgebaut wurde die als unzureichend empfundene
französische Konkurrenzlehre. Keine französischen Einflüsse lassen sich
hinsichtlich des Irrtumsrechts nachweisen. Abschließend stellt Brandt fest,
dass trotz aller auf der Übernahme französisch-rechtlicher Elemente beruhender
Gemeinsamkeiten der Einfluss des Code pénal auf das
preußische Strafgesetzbuch von 1851 „nicht überbewertet“ werden dürfe, denn
auch der preußische Gesetzgeber habe mehrere Gesetzesquellen berücksichtigt, so
dass es jedenfalls „übertrieben“ erscheine, „hier von einem bestimmenden
Einfluss des französischen Rechts sprechen zu wollen“ (S. 487). Dies ist
vielleicht etwas missverständlich formuliert; denn für die vom Verfasser
besprochenen Teile des preußischen Strafgesetzbuchs war das französische Recht
stark mitbestimmend, wenn auch daneben nationale Rechtstraditionen
berücksichtigt wurden und vor allem die französischen Institutionen auf der
Basis der deutschen Rechtsdogmatik unter Berücksichtigung der Novellen zum Code
pénal. weiterentwickelt wurden. Insgesamt sind die
Einflüsse des französischen Rechts auf das deutsche Strafrecht des 19.
Jahrhunderts erheblich umfangreicher und tiefgreifender
als die Einflüsse des französischen Zivilrechts, das auf eine gefestigte
deutsche Zivilrechtsdogmatik stieß, auf das moderne deutsche Zivilrecht.
Mit den Untersuchungen
Brandts ist ein von dem Rezensenten seit langem gehegter Wunsch nach einer
detaillierten Darstellung der in dem Werk behandelten Thematik in Erfüllung
gegangen. Das Werk Brandts stellt einen ersten und zugleich wichtigen Beitrag –
die juristische Dissertation Fritz Hartmanns: Der Einfluss des französischen
Rechts auf das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 (Allgemeiner Teil) aus
Göttingen vom Jahre 1923 ist leider verschollen – zur Rezeption des
französischen Strafrechts und zugleich zur Entstehung und zum Inhalt der
französischen Strafrechtskodifikationen in ihrer originalen Fassung dar, womit
weitere rezeptionsgeschichtliche Arbeiten ermöglicht werden. Es ist zu
wünschen, dass die im Vorwort angekündigte Darstellung der
französischrechtlichen Einflüsse auf die einzelnen Strafbarkeitstatsbestände
zumindest für das preußische Strafgesetzbuch und vielleicht auch noch auf das
Reichsstrafgesetzbuch bald nachfolgt, da erst auf dieser Basis ein Gesamturteil
über die zumindest seit 1870 kaum mehr thematisierten französischrechtlichen
Einflüsse auf das deutsche Strafrecht möglich erscheint.
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Werner Schubert |