Blanke, Helge, Das Recht als Mittel der
Machtpolitik. Eine Untersuchung zur nordwestdeutschen Grafschaftschronik im
Spätmittelalter (= Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter
Neue Folge 6). Böhlau, Köln 2002. 338 S.
Zentrales
Anliegen der Arbeit Blankes ist die Frage nach der Feststellung von
Recht und Unrecht in historisch vorfindbaren Handlungsabläufen, hier anhand
spätmittelalterlicher Quellen. Diese Quellen entstammen einer Zeit, in der die
Trennung von Recht und Unrecht oft nur aus dem jeweiligen persönlichen Platz in
einer Fehde oder gewaltsamen Auseinandersetzung folgte. Wenn die Fehde als
Mittel der gewaltsamen Durchsetzung privater Rechtspositionen erlaubt war und
Raub, Überfälle und Entführungen „rechtfertigte“, dann können nach heutigem
Verständnis unrechtmäßige Handlungen unter den damaligen Voraussetzungen
rechtmäßig gewesen sein. Auch die Fehde und sonstige Gewaltausübung aber war an
nach und nach immer enger gefaßte formale
Voraussetzungen und inhaltliche Grenzen gebunden. Wie mit solchen Grenzen im
gelebten Recht umgegangen wurde, ist ein Untersuchungsgegenstand der Arbeit.
Ein weiterer ist, wie bei spätmittelalterlichen Chronisten eine bewußt einseitige Darstellung des Rechts im Interesse
adliger und fürstlicher Adressaten erfolgt. Das „Recht“ werde so nach Blanke
(S. 11) zu einem Mittel machtpolitischen Handelns der Adligen, hier der Grafen.
Die Fehde sei dabei (S. 12f.) solange rechtens, wie sie von den tragenden Elementen der mittelalterlichen Gesellschaft
als ein Instrument der Streitbeilegung akzeptiert worden sei.
Zur
Untersuchung ausgewählt wurden die bisher kaum umfassend ausgewerteten
Chronisten der nordwestdeutschen Grafendynastien in Oldenburg, Holstein,
Schauenburg, Kleve und Mark nebst ihren Adressaten an den jeweiligen Höfen.
Unter den „Grafschaftschroniken“ versteht Blanke vor allem solche
Geschichtsdarstellungen, die sich als Auftragsarbeiten oder vermeintlich
unabhängig mit regionaler Dynastie, Land und Herrschaft einer Grafschaft
befassen. Bei den in der Chronistik erörterten Gewalttaten handelt es sich
vorwiegend um die Auseinandersetzungen von Landesherren untereinander, daneben
auch um den Umgang mit Aufständen der Beherrschten und gelegentlich um
Zeugnisse obrigkeitlicher Strafrechtspflege. Wenn der subjektive Rechtsbericht
eines Chronisten als Mittel zur Machtpolitik dient, so umfaßt
er typischerweise die Legitimation (Rechtfertigung) der eigenen Gewalt, wobei
dies oft nur ein Versuch sei, eine fragwürdige Handlung als rechtmäßig
erscheinen zu lassen, zudem die Delegitimation und
gar Kriminalisierung des Gegners.
Einleitend
(S. 15-61) werden die ausgewählten Chronisten und ihre Chroniken im einzelnen
beschrieben: der Dominikaner Hermann von Lerbeck für
Schauenburg (Chronicon comitatus Schawenburgensis, vor und um 1400), der sog. Presbyter Bremensis für Holstein (Chronicon Holtzatiae, um 1448), die Chronik der nordelvischen
Sassen, der Dietmarschen, Stormarn unde Holsten
(bis 1483), der Notar und fürstliche Sekretär Gert van der Schüren für Kleve
und Mark (um 1470), der Augustiner Johannes Schiphower
für Oldenburg (Chronica Archicomitum Oldenburgensium, etwa 1504-1521).
Die beiden
Hauptteile Blankes beschäftigen sich sodann mit den den
Chroniken zugrunde liegenden Vorstellungswelten und Begriffshorizonten (S.
63-162) sowie mit der Frage nach Gewalt und Recht (S. 163-304).
Es gelingt
dem Verfasser zunächst, an unterschiedlichen Stellen der Chroniken tendenziöse
Wertungen bis hin zu Verfälschungen der Wahrheit nachzuweisen (S. 63-74).
Bereits hier wird die Neigung der Chronisten zur abwertenden Darstellung
fremder Volks- und Religionsgruppen deutlich. Die lokalpatriotische Abwertung
benachbarter Bevölkerungsteile wird im Anschluß
vertieft erläutert an den Beispielen der Dänen, Friesen und Bremer (S. 75-90). Es
folgt die Untersuchung religiöser Vorstellungen von Recht und Unrecht (S.
91-133): der Teufel als Verführer, Anstifter und schließlich als Bestrafer von Verbrechern und Sündern, Gott - der selber
Recht ist - hingegen als Beschützer und Retter der Guten und Gerechten und Bestrafer des Übels. Gott ist Retter im Kampf um Recht und
Freiheit, er verhilft auch durch Wunder zum Sieg. Er ist mit den Gerechten,
aber damit noch nicht zwangsläufig auf der Seite des eigenen Grafen. Er kann
auch mit den Gerechten des Gegners sein (Dithmarschen 1404) und den Hochmut der
eigenen Seite bitter strafen (Holstein 1432). Gott ist Richter und nimmt durch
sein Eingreifen in die Ereignisse selbst Bestrafungen vor. Er greift gegen
Fehdebeteiligte ein, die Kirchenraub begehen oder die sich mit vermeintlichen
Ketzern verbünden. Auch die Gewalttaten von Menschen, insbesondere diejenigen
der eigenen Seite, können durch - mitunter aber bloß funktionalisierte -
religiöse Motive gerechtfertigt werden. Gerechtfertigt wurde so der Kreuzzug
gegen die Stedinger (1233/1234) und auch Judenpogrome
zu Zeiten der Pest, wobei sich zu letzterem Vorgang Chronisten wie Hermann von Lerbeck und Gert van der Schüren allerdings eher
zurückhaltend äußern und Heinrich von Herford gar auf die wirtschaftliche
Bereicherungsabsicht vieler Verfolger verweist.
Wichtig ist
auch der Stellenwert der Ehre in der spätmittelalterlichen Fehde (S. 135-162):
wenngleich keine Fehde ausgemacht wurde, die allein mit einer Ehrverletzung zu
begründen war, so war der Begriff der Ehre doch in fast allen Fehden präsent.
Blanke (S. 135) betrachtet die Ehre für damalige Adlige als „das ideelle
Kapital an öffentlicher Achtung“, ein Angriff auf die Ehre hätte immer die
gesamte Person betroffen und ihre Verteidigung sei ein Mittel der
Selbsterhaltung gewesen. Ehre kommt in den Quellen auch adligen Wenden zu, und
Graf Gottfried von Holstein (1110) zieht aus Gründen der Ehre mit unterlegenen
Kräften in einen Kampf, in dem er erschlagen wird. Wenn aber die Chronisten
mitunter allein eine Ehrverletzung als Fehdegrund ausgeben, so vermutet Blanke
hier zusätzliche - verdeckte - machtpolitische Motive der Gewalt.
Seine
Darlegungen zu „Gewalt und Recht“ beginnt Blanke mit einer aus
rechtshistorischer Sicht sicherlich zentralen Fragestellung seiner Arbeit: der
Frage (S. 163-195) nach der Rechtmäßigkeit von (Fehde-)Gewalt. Er versteht
unter den damaligen Verhältnissen in Anlehnung an Janssen Fehde wie Krieg als
das gewaltsame Durchfechten eines konkreten Rechtsstreits im Rahmen einer
vorgegebenen Rechtsordnung, die eine solche Gewaltanwendung als legitim
anerkennt, und verweist hierbei summarisch auf Teile der Literatur zu Fehde und
Landfrieden. Grenzen des Fehderechts (wie die Notwendigkeit eines gerechten
Grundes, Beachtung formaler Regeln wie der Absage) werden unter Verweis auf die
Goldene Bulle, den Sachsenspiegel und diverse Landfrieden kurz erläutert. Bei
einem Regelverstoß galt die Fehde als mutwillig und unrecht. Man habe als
Fehdebeteiligter in der Regel aber fast immer die eigene Position als
berechtigt und das Handeln des Gegners als mutwillig dargestellt. Chronisten,
wenn sie einer der Parteien nahestanden, hätten es
grundsätzlich ebenso gehalten. Diese vorab getroffenen Feststellungen erläutert
Blanke mit Quellenbeispielen: zur Diskreditierung des Gegners, zur
Entkriminalisierung der eigenen Seite, zur Funktionalisierung fehderechtlicher
Verstöße der Gegenseite. Sonderaspekte betreffen die Wahrung des
herrschaftlichen und landfriedensrechtlichen Gewaltmonopols als Fehdeargument
und die Legitimierung einer Fehde im Gegeneinander von Reichs- und
Fürstenrecht.
Dabei
hinterfragt Blanke immer wieder (vgl. nur beispielhaft S. 181) die vorgegebenen
Argumente der Chronisten und kommt zu dem Schluß, es
habe sich oft nur um Scheinargumente zur Bemäntelung gewaltsamer Machtpolitik
gehandelt.
Ein weiterer
Abschnitt (S. 197-211) gilt dem sog. Raubrittertum, das begrifflich einerseits
in Frage gestellt, andererseits auch in der jüngsten Forschung weiterhin als
Begriff nachgewiesen wird. Tatsächlich berichten Blankes Quellen von
Übergriffen des niederen Adels, aber auch von Grafen, denen u. a. Straßenraub
und Seeraub nachgesagt wurden. Insgesamt scheinen die grafschaftlichen
Chroniken (S. 210/211) im Vergleich mit städtischen Quellen den Raubrittervorwurf
stärker einzuschränken und vorwiegend auf lehensrechtlich
untergeordnete Gegner anzuwenden.
Das im
mittelalterlichen Naturrecht wurzelnde Widerstandsrecht als gegen eine unrechte
Obrigkeit ausgeübte rechtmäßige Gewalt (S. 213-233) wird in den Quellen in
bestimmten Fällen durchaus anerkannt, in der konkreten Darstellung allerdings
oft beeinflußt vom jeweiligen Machtinteresse des
eigenen Territoriums (vgl. nur S. 222-229 zur Bewertung von Aufständen für und
gegen Holstein). Wege der Friedenswahrung durch pax und treuga (S. 235-254) werden
gleichfalls in den Grafschaftschroniken nachvollzogen, wobei Blanke diese
Friedensbestrebungen mit den obrigkeitlichen Versuchen zur Herausbildung eines
Gewaltmonopols zusammenführt. Er schildert Beispiele der Maßregelung adliger
Vasallen durch die Fürsten, Rechtsunsicherheit bei schwach ausgeprägtem
Gewaltmonopol, Landfriedensbündnisse und Versuche der Städte zur
Friedenswahrung. Das aus Sicht der Chronisten - passend zum Eigeninteresse der
Grafen - einzig wirksame Konzept der Friedensbewahrung ist dabei der vom
Fürsten gesicherte Friede mittels Gebot und Vereinbarung (S. 254).
In einem
weiteren Abschnitt (S. 255-304) geht Blanke detailliert auf die von ihm unter
„Modernisierung des Strafrechts“ subsumierte Entwicklung der Strafrechtspflege
ein. Er schildert Relikte alter Rechtspraxis (wie Gottesurteile), wichtige
zeitgenössische Rechtsfragen (Streit um das „richtige Recht“, Gerichtsprozesse
als Alternative zur Fehde), Einblicke in die städtische und geistliche Gerichtsbarkeit,
Visionen gerechter Strafrechtspflege. Nach seiner Ansicht (S. 275) wurden von
der Chronistik Fehde und Krieg als probatere, wenn nicht sogar als einzige
Mittel zur Wahrung der eigenen, als gerecht empfundenen Ansprüche dargestellt.
Dies spräche für die These, daß es den Grafen nicht
um die Befriedung ihrer Territorien ging, sondern um die Monopolisierung von
Gewalt und die Festigung persönlicher Macht.
Blankes
Fazit (vgl. S. 305-311): die Grafschaftschroniken präsentieren ihr Material
perspektivisch verzerrt, mitunter gar sachlich verfälscht, im Dienste der
Grafen: deren Taten werden auch dann legitimiert, wenn es sich um Unrechtstaten
gehandelt hat. Gott wird als Unterstützer der jeweiligen Obrigkeit und als
Helfer gegen deren Feinde herbeizitiert. Der Gegner wird diskreditiert. Wenn im
Fall einer Fehde aber nur noch die eigene Fehde legitimiert scheint, so (S.
308) stelle man damit in letzter Konsequenz die Fehde als Rechtsmittel
schlechthin in Frage und führe das Fehderecht ad absurdum, denn der Gegner habe
faktisch kein Recht zur Fehde mehr. Damit aber werde die Macht der Landesherren
zusätzlich gefestigt: es komme zu einem landesherrlichen „Rechts- und
Friedensanspruch“, der in dieser Form allerdings nur wie eine Monopolisierung
des Krieges zu wirken scheint. Funktion der Chroniken sei die Legitimation
machtpolitischer Ziele und die Traditionsbildung der Fürstenhäuser gewesen.
Insgesamt
erscheinen Darstellung und Thesen Blankes in sich konsequent und plausibel. Sie
werden durchweg durch Belege der sehr gut ausgewerteten Quellen untermauert,
wobei diese einer teils vernichtenden Quellenkritik unterworfen werden. Dabei
ergänzt die Arbeit die bisherigen Forschungen zum spätmittelalterlichen
Fehderecht mit einer Fülle bisher kaum ausgewerteter neuer regionaler Belege
aus Nordwestdeutschland. Mit dem Verweis auf fürstliche Machtpolitik liefert
Blanke einen tragfähigen Begründungsansatz für weitergehende
fehdegeschichtliche Forschungen, insbesondere für die Vorgeschichte des im
Verlauf des 16. Jahrhunderts durchgesetzten Fehdeverbots und staatlichen
Gewaltmonopols. Folgt man diesem Ansatz weiter, so ließe sich je nach
persönlicher Vorliebe entweder eine Delegitimation
dieses Gewaltmonopols daraus ableiten oder ein an Hobbes angelehnter
Machtpositivismus. Wenn es diese Art landesfürstlicher Machtpolitik war, die
schließlich zur Durchsetzung des Landfriedens geführt hat - wofür in eigenen
Forschungen des Rezensenten (1999) zum Verhalten Sachsens in der Fehde des Hans
Kohlhase durchaus parallel interpretierbare Befunde feststellbar sind - dann
hat hier mit den Worten Mephistos jene Kraft Wirkung entfaltet, die „stets das
Böse will und stets das Gute schafft“. Doch soll hier zumindest die kurze
Ergänzung gestattet sein, daß auch andere Kräfte zur
Befriedung des Landes beigetragen haben mögen, wie z. B. der Wunsch eines von
Fehden und Gewalt geplagten Landes nach Frieden und ein schon Jahrhunderte
zuvor in der Gottesfriedensbewegung angelegter religiös motivierter
Friedenswunsch.
Hannover Arne
Dirk Duncker