Auss liebe der gerechtigkeit vnd vmb gemeines nutz willenn.
Historische Beiträge zur Strafverfolgung, hg. v. Jerouschek.
Günter/Rüping, Hinrich (= Rothenburger Gespräche
zur Strafrechtsgeschichte 1). Kimmerle, Tübingen 2000. 253 S.
Angeregt durch das zehnjährige Jubiläum der Rothenburger strafrechts‑
und kriminalitätsgeschichtlichen Seminarveranstaltungen der beiden Herausgeber
1998 soll mit diesem Band eine neue Reihe begründet werden.
Erhellend ist der Einführungsbeitrag Günter Jerouscheks.
Zunächst greift er mit sozialisationstheoretischen Überlegungen zur Strafe in
die gegenwärtige Diskussion um die Entstehung des öffentlichen Strafrechts ein
und stellt zu Recht fest, dass primäre Sozialisation ohne jede Sanktion nicht
auskommt, dass also die Existenz von „Strafen in Form und Sanktionierung
außerhalb des Rechts“ (S. 14) eine anthropologische Konstante ist. Er möchte
weniger von einer Koexistenz von Kompositionensystem
und öffentlichem Strafrecht im frühen Mittelalter sprechen, sondern den Prozess
der Punitivierung als „Infiltration“ beschreiben (S.
17). Dabei macht er als Grundzug die „Aufweichung der ursprünglich schroffen
Scheidung“ von Freien und Unfreien hinsichtlich peinlicher Strafen aus (S. 23).
In der Möglichkeit der Buße erblickt Jerouschek einen
Indikator für die Fehdemächtigkeit und damit den Freienstatus des Missetäters.
„Die peinliche Strafdrohung wäre dann das rechtlich legitimierte Substitut für
die Fehdehandlung des Königs“ (S. 24); sie zielte auf die Ehre, also auf Status
bzw. Freiheit. In dieser Hinsicht waren die frühen Ansätze peinlicher Strafen
„einer traditionellen Deutungsperspektive verhaftet“ (S. 26), da sie in dem
bestehenden Gesellschaftsgefüge wurzelten. So gelangt Jerouschek
zu der vorsichtig als „Ausblick“ apostrophierten These, dass die Punitivierung der Individualisierung bedurfte, die mit der
Schuld „auf Kosten der Ehre ein neues und schon prinzipiell egalitäres
Paradigma für die peinliche Strafe“ entwickelte.
Hinrich Rüping analysiert dagegen die neueste
Zeit. Er schildert, wie der Nationalsozialismus „kurz vor seinem Kollaps“ die
vor 1933 und nach 1945 praktizierte Methode der indirekten Justizlenkung über
die Staatsanwaltschaft „bis zum letzten“ steigerte, ausbaute und schließlich ‑
als das System an seine Grenzen stieß ‑ zu Formen direkter Lenkung griff,
„die keine Vorbilder kennen“ (S. 245)- 1939 wurde zunächst nur die „Fühlungnahme“ zwischen Staatsanwaltschaft und
Gericht in besonderen Fällen angeregt, eine Maßnahme, die ‑ weiter
ausgebaut ‑ schließlich beide Seiten zu einer „Verständigung“
verpflichtete. Doch „Fühlungnahme“, „Vorbesprechung“ mit Vorwegnahme des
Ergebnisses der Hauptverhandlung und die zwischen 1942 und 1944 auf
Veranlassung des Reichsjustizministers Thierack
herausgegebenen „Richterbriefe“ erschienen als noch nicht genug. Zusätzlich zur
offenen Lenkung der Rechtspflege durch das Ministerium vereinbarten Thierack und Himmler 1942 die „Korrektur“ von Urteilen „durch polizeiliche Sonderbehandlung“ und betrieben
damit den „Ausverkauf der Justiz“ (S. 243).
Bezüglich der meisten übrigen Darlegungen erlaubt sich die Rezensentin die Frage, ob „bemerkenswerte
studentische Beiträge“ (Einleitung, S. 9), die im Wesentlichen den aktuellen
Stand der Forschung auf übersichtliche Weise zusammenfassen, der
Veröffentlichung wert sind. Jedenfalls sind diese als Einstieg geeignet in die
Themen: Herausbildung des Inquisitionsprozesses, Entstehung und
Charakterisierung des Hexereideliktes, Strafbarkeit von Sexualdelikten von der
Spätantike bis heute, der aufgeklärte Diskurs über die Folter, die
Laienbeteiligung an Strafverfahren, die Einführung der freien Beweiswürdigung
und Franz von Liszt als Begründer der soziologischen Schule.
Anschau Eva
Lacour