HagemannWagner20010620 Nr. 10247 ZRG 119 (2002) Nr. 39

 

 

Wagner, Wolfgang Eric, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (= Europa im Mittelalter 2). Akademie, Berlin 1999. 448 S. 4 Abb.

 

Das Buch von Wolfgang Eric Wagner, eine von Michael Borgolte betreute und von ihm in seine neue Publikationsreihe „Europa im Mittelalter“ aufgenommene Berliner Dissertation, behandelt auf komparatistischer Grundlage die Stifte und Kollegien der drei ältesten Universitäten im deutschen Reich. Die Symbiose von Stift, Kollegium und Universität ist zwar schon oft konstatiert, aber verhältnismäßig selten thematisiert worden. Die Forschung hat sie vor allem unter dem ökonomischen Aspekt gewürdigt, als Nutzbarmachung von Pfründen für den Unterhalt akademischer Lehrer. Der Verfasser thematisiert sie demgegenüber vorab unter dem Gesichtspunkt: Herrschaft oder/und Genossenschaft. Den Ausgangspunkt seiner Arbeit bildet die in der bisherigen Forschungsdiskussion um das mittelalterliche Kollegiatstift und um die mittelalterlichen deutschen Universitäten und ihre Kollegien hervorgetretene Meinungspolarität in der Frage, „ob man beide Phänomene hinsichtlich ihrer Stellung eher als herrschaftlich-fremdbestimmt oder als genossenschaftlich-selbstbestimmt charakterisieren soll“ (S. 18). Der Autor strebt eine differenzierte Synthese der gegensätzlichen Ansichten an, indem er die Rolle der Stiftung in den Mittelpunkt seiner Untersuchung stellt. Der Stiftung waren einerseits herrschaftliche Elemente eigen, wie sie etwa das kanonische Patronatsrecht aufwies; andererseits war der Stifter auf die mit seiner Stiftung begründete Personengruppe angewiesen, die seinen Willen auf Dauer ausführen sollte. In der Stiftungsurkunde verkörperte sich der herrschaftliche Stifterwille, in den Statuten der gestifteten Gemeinschaft eher der genossenschaftliche Einungsgedanke. Diese Quellen bilden daher die hauptsächliche Basis der Untersuchung; ergänzt werden sie durch Akten über spätere Konflikte zwischen den beteiligten Parteien, welche ein Licht auf das Spannungsverhältnis zwischen Stiftungsauftrag und Stiftungswirklichkeit zu werfen vermögen. Um seine Fragestellung zu konkretisieren und die Vergleichbarkeit der geprüften Universitätsstifte und Kollegien zu erhöhen, wählt der Verfasser drei signifikante Teilbereiche der Stiftungsurkunden und Statuten aus, auf die er jeweils sein besonderes Augenmerk richtet: „(1) das Verhältnis von Dotation und selbständiger Vermögenseinheit; (2) das Präsentationsrecht des Stifters in Relation zu freiem Eintritt und Kooptation (freie Einung) sowie (3) Stiftergedenken und Gruppenmemoria“ (S. 31).

Von diesen thematischen und methodologischen Voraussetzungen aus analysiert der Verfasser eingehend und sorgfältig das Prager Allerheiligenkapitel und das Collegium Carolinum der Prager Universität, das Allerheiligenkapitel zu St. Stephan in Wien und das Collegium ducale der Wiener Universität sowie das Heidelberger Heiliggeiststift und das Collegium artistarum der Heidelberger Universität. Er breitet eine Fülle von wertvollen Informationen und Einsichten vor uns aus, indem er sein Material nicht nur unter universitäts-, kirchen- und rechtsgeschichtlichen Aspekten bearbeitet, sondern etwa auch mentalitäts-, personen- und sogar kunsthistorische Befunde in seine Betrachtung einbezieht. Im Rahmen dieser Rezension kann nur auf einige wenige Ergebnisse seiner Studien hingewiesen werden: Sowohl das Prager Karls- als auch das Wiener Herzogs- und das Heidelberger Artistenkollegium waren unmittelbar oder mittelbar nach dem Vorbild des Pariser Collegium Sorbonicum eingerichtet worden. Während jedoch das Prager und das Wiener Kolleg vorwiegend genossenschaftlich organisiert waren und das Selbstergänzungsrecht zugestanden erhalten hatten, behielt sich der Pfalzgraf als Stifter des Heidelberger Artistenkollegs das Präsentationsrecht vor. Die Besetzung der Chorherrenprofessuren bedurfte bei allen drei verglichenen Universitätsstiften wenigstens der Zustimmung des Stifters oder seiner Nachfahren. Eine herrschaftliche Einflussnahme auf die Stifte und Kollegien konnte auch aus der Art der Dotationsgüter erwachsen. In Wien und in Heidelberg waren nämlich die Pfründen der Chorherren auf Zöllen dotiert, ihre regelmäßige Bezahlung also von landesherrlichen Beamten abhängig. Die Tatsache, dass in den untersuchten Fällen der Stifter jeweils zugleich der Landesherr war, möchte der Verfasser allerdings in ihrer Auswirkung nicht überschätzt wissen. Die herrschaftliche Komponente hat aber durch das Verhalten der Stifternachkommen im Lauf der Entwicklung eher eine stärkere Ausprägung erhalten, als sie die betreffenden Gründungsdokumente vorgesehen hatten.

Zu den vornehmsten Verpflichtungen der Kanoniker gehörte das liturgische Gedenken für den Stifter und seine Familie. Die Professorenchorherren hatten demgemäss - weniger in Prag, wo das Universitätsstift nicht zugleich stifterliche Grabstätte war, als in Wien und in Heidelberg - eine Doppelfunktion: Neben ihrer akademischen Lehrtätigkeit sollten sie die Memorialauflagen der landesfürstlichen Stifterfamilie in Gestalt von Anniversarfeiern und täglichen Fürbitten erfüllen. Sie kamen dieser Aufgabe offenbar auch wirklich nach. Friedrich Paulsen hatte die deutschen Universitäten als „freier konstruierte Kollegiatstifte“ bezeichnet, „bei denen von den beiden Funktionen dieser kirchlichen Anstalten, der Lehre und dem Gottesdienst, die Lehre das Uebergewicht hat, während bei den gewöhnlichen Kollegiatstiften der Gottesdienst überwiegt“.[1] Der Verfasser stimmt dieser Aussage grundsätzlich zu, legt aber Wert auf die Feststellung, dass die Stifter bei der Eingliederung ihrer „ecclesia collegiata“ in die Universität darauf bedacht waren, die Wesenszüge der Stifte und vor allem den feierlichen Chorgottesdienst unter Einschluss des Stiftergedenkens zu konservieren (S. 315 ).

Für den Rechtshistoriker von besonderem Interesse sind die Ausführungen Wagners zum mittelalterlichen Stiftungsrecht. Die herkömmliche Definition der Stiftung als Hergabe eines Vermögenskomplexes zu einem vom Stifter bestimmten, über dessen Tod hinaus auszuführenden Zweck betrachtet er wohl mit Recht für das Mittelalter als nicht ausreichend, da sie die interaktiven Beziehungen zwischen dem Stifter und der gestifteten Gemeinschaft nicht zu erfassen vermag. Im Anschluss an seinen Lehrer Borgolte spricht er der mittelalterlichen Stiftung auch den Status einer juristischen Person grundsätzlich ab und möchte statt dieses rechtlichen Konstrukts die alte Denkform von der Gegenwart der Toten zum Ausgangspunkt des Stiftungsverständnisses nehmen (S. 32f.). Demgegenüber ist allerdings zu bedenken, dass - bei aller Bedeutung, die dem Stiftergedenken gewiss zukam - die mittelalterliche Kanonistik die juristische Persönlichkeit der selbständigen Stiftung herausgearbeitet hat.[2] Die moderne Gegenüberstellung von Stiftung und Korporation lässt sich freilich, wie gerade das Beispiel der Kollegiatstifte zeigt, kaum auf das mittelalterliche Stiftungswesen übertragen.[3] Bemerkenswert ist auch die Beobachtung des Verfassers, dass in den von ihm behandelten Fällen die Stiftung nicht als einheitlicher Akt erscheint, sondern als ein über einen längeren Zeitraum sich erstreckender Vorgang.

 

Das vorliegende Buch stellt, zumal wenn man bedenkt, dass es sich um eine Dissertation, also um ein Erstlingswerk handelt, eine beeindruckende wissenschaftliche Leistung dar.

 

Basel                                                                                                    Hans‑Rudolf Hagemann



[1] Friedrich Paulsen, Die Gründung der deutschen Universitäten im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift, 45 (1881), S. 283.

[2] Siehe etwa Robert Feenstra, L’ histoire des fondations, in: Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis, 24 (1956), S. 381ff.; Hans Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, Bd. I (1963), S. 121.

[3] Vgl. auch Reiner Schulze, Art. „Stiftungsrecht“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, Sp. 1980ff., insbes. 1984/1985.