WilloweitÜberlieferung20010921 Nr. 328 ZRG 119 (2002) 00

 

Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung [Ekkehard Kaufmann zum 70. Geburtstag] (= Rechts- und Staatswissenschaftliche Ceröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 69), hg. v. Buchholz, Stephan/Mikat, Paul/Werkmüller, Dieter. Schöningh, Paderborn 1993. S, 393 S.

 

Auch verspätete Rezensionen haben ihren Vorteil. Dieser Ekkehard Kaufmann gewidmete Band betont, daß „das germanistische Fach in der gegenwärtigen Rechtsgeschichte sein eigenständiges Forschungsprofil“ habe „behalten und entfalten“ können (Stephan Buchholz S. VII). Der Rezensent muß gestehen, daß er dieser Feststellung vor knapp einem Jahrzehnt mit erheblich größeren Zweifeln begegnet wäre, als er dies heute für angemessen hält. Zwar vermag ich eine „Entfaltung“ germanistischer Forschung angesichts der verbreiteten Hinwendung zur neueren und neuesten Rechtsgeschichte auch heute nicht festzustellen. Und die enge Perspektive der historischen Schule mit ihren unvermeidlichen Verzerrungen eröffnet der rechtsgeschichtlichen Germanistik keine Zukunft mehr. Aber die Sache selbst gibt es nun einmal. Der Forschungsgegenstand „deutsche Rechtsgeschichte“ ist nicht deshalb abhanden gekommen, weil einerseits viele Entwicklungen zumal im späten Mittelalter „kanonistisch“ oder „romanistisch“ eingefärbt erscheinen und andererseits moderne Fragestellungen den europäischen Vergleich notwendig machen. Denn man muß das Wort „deutsch“ nur durch „sächsisch“ oder „fränkisch“ ersetzen, um einzusehen, daß die Wissenschaft auf die Erforschung der autochthonen Mikrostrukturen des Rechts keinesfalls verzichten kann. Dort, wo sich die Mechanismen gesellschaftlichen Lebens noch mit den Rechtsvorstellungen der Beteiligten decken und Gewohnheiten daher, wenn nicht die einzigen, so doch die wichtigsten Regulative bilden, ist am meisten über die ursprünglichen Sinnzusammenhänge des Rechtslebens in Erfahrung zu bringen. Dieses Erkenntnisziel ist aber nicht nur ganz grundsätzlich und wegen der parallelen Fragestellungen der Ethnologie von Bedeutung, sondern auch deshalb, weil die modernen Forschungen zum Vordringen des gelehrten Rechts gezeigt haben, daß dieses sehr spezifische Wege eingeschlagen hat und weite Bereiche traditionaler Rechtspraxis noch lange unberührt blieben.

Wie oft in solchen Bänden, regiert leider die Willkür der alphabetisch aufgelisteten Autorennamen das Gliederungskonzept. Eine an den Inhalten orientierte Systematik könnte etwa folgendermaßen aussehen: I. Rechtsquellen: Clausdieter Schott, Der Codex Sangallensis 731. Bemerkungen zur Leges-Handschrift des Wandalgarius; Dietlinde Munzel, Die Bedeutung der lateinischen Kapitel über die Reichshöfe in der Corveyer Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes; Ruth Schmidt-Wiegand, Sprichwörter und Redensarten aus dem Bereich des Rechts; Gero Dolezalek, Krokodilfluß, Kanufahrer und Corpus Iuris. Probleme der Fortgeltung von Ius-Commune-Rechtsquellen, beleuchtet anhand der südafrikanischen Entscheidung Butgereit v Transvaal Canoe Union 1988 (1) SA 759 (A); II. Prozeß‑ und Strafrechtsgeschichte: Hans-Albert Rupprecht, Hybris. Anmerkungen zu einem Delikt in den Papyri der ptolemäischen und römischen Zeit; Heinz Holzhauer, Zum Strafgedanken im frühen Mittelalter; Dieter Werkmüller, Per pugnam probare. Zum Beweisrecht im fränkischen Prozeß; Gerhard Dilcher, Mord und Totschlag im alten Worms. Zu Fehde, Sühne und Strafe im Hofrecht Bischof Burchards (AD 1023/25); Wolfgang Sellert, Borgerlike, pinlike und misschede klage nach der Sachsenspiegelglosse des Johann v. Buch; Bernhard Diestelkamp, Zunftprozesse des 18. Jahrhunderts aus der Reichsstadt Wetzlar vor dem Reichskammergericht; Jürgen Weitzel, „Bauerngerichte“ und Prozeßrechtsreform 1933‑1945; III. Privatrechtsgeschichte: Fritz Sturm, Das Absterben der mancipatio; Paul Mikat, Zu den konziliaren Anfängen der merowingisch-fränkischen Inzestgesetzgebung; Hans Thieme, John Miltons Ehe und die Gleichberechtigung des Mannes; Udo Kornblum, Vom Bauern zum Kaufmann. Zum Wandel der privatrechtlichen Stellung des Bauern in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart; IV: Herrschaftsgeschichte: Hans-Jürgen Becker, Das Gericht Bornheimer Berg; Karin Nehlsen-von Stryk, Die Justizpolitik der Landgrafen von Hessen vom 14. bis 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung des frühmodernen Territorialstaats; V. Wissenschaftsgeschichte: Karl Christ, Geschichte, Rhetorik und Recht. Zur Interdependenz von Historie und Recht bei Tacitus; Rudolf Gmür, Primitive Gedanken über Gerechtigkeit; Nikolaus Grass, Joseph von Würth als Vorkämpfer der österreichischen Rechtsgeschichte um die Mitte des 19. Jahrhunderts; Manon Borchert/Stephan Buchholz, Marianne Weber - Portraitstudien zu Person und Werk; Adalbert Erler, Aus den Anfängen des Handwörterbuches zur deutschen Rechtsgeschichte.

22 Beiträgen kann eine Rezension nicht in gleicher Weise gerecht werden. Wenden wir uns daher besonders jenen Untersuchungen zu, die einen Beitrag gerade zur germanistischen Rechtsgeschichte erwarten lassen. Clausdieter Schott bietet zu jener berühmten Handschrift, in welcher der Schreiber angeblich sein Konterfei hinterlassen hat, nicht nur eine exakte Forschungsgeschichte, sondern ermutigt zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit frühmittelalterlichen Rechtstexten. Modernem Denken schwer verständlich, finden diese sich ja häufig in Sammelhandschriften, deren Inhalte zufällig aneinandergereiht erscheinen. Schott entwickelt für seine Handschrift dagegen ein einleuchtendes Konzept, das auch die Deutung der in ihr enthaltenen Figur als eines Herrschers, der mit Stab und Buch das Recht zu schützen hat, bestätigt. - Dietlinde Munzel stellt eine neu entdeckte Handschrift des kleinen Kaiserrechts vor, die bisher unbekannte, hier im Wortlaut vorgestellte lateinische Texte zu zinspflichtigen Gütern auf Königsgut enthält. Dabei ergaben sich zugleich weitere Aspekte zur Entstehung und Verbreitung des Rechtsbuches im Frankfurter Raum. - Ruth Schmidt‑Wiegand setzt ihre Forschungen zu den Rechtssprichwörtern fort, die ihre Geheimnisse Schritt für Schritt preisgeben. Es dürften sich wenige Materien der älteren Rechtsgeschichte finden, an denen sich Einflüsse mündlicher Rechtsübung und gelehrten Wissens zugleich so eindrucksvoll studieren lassen wie an diesem Stoff.

Das breite wissenschaftliche Interesse, das in jüngerer Zeit die Geschichte des Verfahrensrechts und der Strafpraxis gefunden hat, schlägt sich in diesem Band zunächst in einem Beitrag von Heinz Holzhauer nieder. Er bekennt sich entschieden zum „Strafgedanken“ auch im Frühmittelalter, eine Position, die auch durch neuere Untersuchungen Jürgen Weitzels gestützt wird und inzwischen als herrschende Meinung bezeichnet werden darf - Viktor Achters Idee von der „Geburt der Strafe“ (1951 ) seit dem 11. Jahrhundert darf als eine Episode der Wissenschaftsgeschichte zu den Akten gelegt werden. Holzhauer steuert zum Verständnis des Strafens im frühen Mittelalter auch einen ganz wichtigen Gedanken bei, der nach Überzeugung des Rezensenten im Rahmen des Forschungsschwerpunktes über „Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts“ im Prinzip - wenn auch in differenzierter Weise - seine Bestätigung gefunden hat: Es wurde immer gestraft, wenn durch ein Verhalten die Rechtsgemeinschaft insgesamt betroffen war, wie im Falle von Verrat, Religionsdelikten und ähnlichen Vorfällen. - Dieter Werkmüller geht einer Frage nach, von der man wahrlich behaupten kann, daß sie auf der Tagesordnung der Rechtsgeschichtswissenschaft steht. Er denkt über die immer wieder behauptete Irrationalität der mittelalterlichen Rechtsfindung nach, und zwar am Beispiel der den modernen Menschen so sehr faszinierenden und verschiedene Wissenschaften beschäftigenden Gottesurteile. Das Ergebnis verblüfft. In Rudolf Hübners umfassender Sammlung der fränkischen Gerichtsurkunden spielen Gottesurteile nur mit dem geradezu zu vernachlässigenden Prozentsatz von 0,3 eine Rolle. In 99,7 % aller Verfahren kam man also ohne dieses zweifellos irrationale Beweismittel aus. Gerhard Dilcher analysiert die strafrechtsgeschichtlich interessanten Regelungen im Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms aus den Jahren 1023/25 und erkennt „in der Verbindung von Wergeldzahlung und Leibesstrafen ... eine wichtige Stufe zwischen Volksrechten und Landfrieden“. Nachdem sich über hundert Jahre lang niemand mehr mit diesen Vorschriften beschäftigt hat, fanden sich nun zur selben Zeit gleich zwei Bearbeiter, außer Gerhard Dilcher auch der Rezensent (Unrechtsfolgen in Hof- und Dienstrechten des 11. und 12. Jahrhunderts. Mit einer Anmerkung zum Verhältnis von geistlicher Buße und weltlicher Sanktion vor der Ausbreitung des peinlichen Strafrechts, in: Norbert Brieskorn/ Paul Mikat/Daniela Müller/Dietmar Willoweit [Hrsg.], Vom mittelalterlichen Recht zur neuzeitlichen Rechtswissenschaft - Bedingungen, Wege und Probleme der europäischen Rechtsgeschichte [Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 72], 1994, S. 109‑127). Naturgemäß stimmen die Akzente beider Abhandlungen nicht völlig überein. Eine Differenz besteht insofern, als der Rezensent das Scheren des Haupthaares und die Brandmarkung in die Wangen weniger als eine Leibesstrafe, denn als eine Kennzeichnung der Täter versteht. - Wolfgang Sellert erinnert an die sich im Spätmittelalter abzeichnende Unterscheidung der bürgerlichen von einer peinlichen Klage, die nicht mit dem Inquisitionsverfahren zu verwechseln, sondern als akkusatorisches Strafverfahren zu verstehen ist. Er geht dieser bisher viel zuwenig untersuchten Entwicklung anhand der Sachsenspiegelglosse des Johann von Buch nach und kommt zu dem Ergebnis, daß dieser einen „ersten und wichtigen Schritt zur Trennung von iurisdictio civilis und criminalis getan“ habe. Systematisch sei diese Unterscheidung aber erst in der humanistischen Jurisprudenz vollzogen worden. Dem wird man zustimmen dürfen, zumal Sellert selbst auf das weiterhin bedeutsame, schwer einzuordnende Wergeld hinweist. Allerdings ist der Forschungsstand noch immer unbefriedigend, findet sich ein früher Hinweis auf die Unterscheidung von Straf- und Schadensersatzklage doch schon im Schwabenspiegel, während andererseits in Kursachsen die beiden Klageformen alternativ zur Verfügung standen.

Daß Rechtsgeschichte letztlich nicht aus dem verfassungsgeschichtlichen Rahmen herausgelöst werden kann, obwohl dieser eine Domäne der Allgemeinhistoriker geworden ist, zeigen eindrucksvoll die Studien von Hans-Jürgen Becker und Karin Nehlsen-von Stryk . Alle Entwicklungsstadien des von Becker untersuchten Gerichts auf dem Bornheimer Berg bei Frankfurt hängen auf das engste mit der jeweiligen Herrschaftskonstellation zusammen. Der Fallstudie kommt nicht zuletzt deshalb exemplarische Bedeutung zu, weil sie sich mit anderen, sonst auch anderswo diskutierten Themen überschneidet: Königsgut und Territorialherrschaft, Weistümer und Rechtsbücher, Königsgericht und gelehrtes Recht. Nehlsen von Stryk schildert die Territorialisierung des Gerichtswesens in der Landgrafschaft Hessen als einen langwierigen Prozeß, dessen Ziel in immer wieder erneuerten Anläufen erst allmählich erreicht wird. Wie fast überall, setzt die gegen die Rechtszüge zu Oberhöfen gerichtete Politik zwar im 14. Jahrhundert ein, vermag sich aber angesichts der tiefen Verwurzelung des Rechts im Herkommen nur mühsam durchzusetzen. Die Zurückdrängung der expandierenden geistlichen Gerichtsbarkeit, die hier, in den Händen des Mainzer Erzbischofs und Kurzfürsten, wohl als besonders bedrohlich empfunden wurde, mutet an wie ein Vorspiel zur Reformation. Wie anderswo auch, suchten die hessischen Landesherren ihre Position als Träger der iurisdictio durch die Errichtung von Hofgerichten zu stärken.

Versuchen wir eine Bilanz in Hinblick auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Sinn germanistischer Rechtsgeschichtsforschung. Überwiegend eröffnen die Beiträge Perspektiven auf unbeantwortete Fragen von oft grundsätzlicher Bedeutung. Schon lange geht es nicht mehr um eigentlich „Germanistisches“, sondern um den Zugang zur Geschichte durch ein adäquates Verständnis der Quellen, um die Geschichte der Konfliktbewältigung, um den Wandel des Rechtsverständnisses und damit letztlich auch um die Frage, was Recht überhaupt ist. Schwerlich wird man der rechtsgeschichtlichen Forschung den Vorwurf machen können, daß sie wirklich relevante Fragen nicht erkenne. Eher scheint umgekehrt das Verständnis für die Geschichtlichkeit des Rechts zu schwinden, was sich anhand der neuesten Studienreformpläne zweifelsfrei belegen läßt.

Auch wenn sich der Rezensent dafür entschieden hat, in dieser Besprechung nur eine kleinere Auswahl der hier präsentierten Abhandlungen genauer vorzustellen, mag doch deutlich geworden sein, daß der vorliegende Band das Genre „Festschrift“ in seiner Weise rechtfertigt. Ihm ist eine nachhaltige Resonanz in der Wissenschaft zu wünschen.

 

Würzburg                                                                                                             Dietmar Willoweit