WilloweitÜberlieferung20010921 Nr. 328 ZRG 119 (2002) 00
Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der
rechtsgeschichtlichen Forschung [Ekkehard Kaufmann zum 70. Geburtstag] (=
Rechts- und Staatswissenschaftliche Ceröffentlichungen der Görres-Gesellschaft
N. F. 69), hg. v. Buchholz, Stephan/Mikat, Paul/Werkmüller,
Auch verspätete Rezensionen haben ihren Vorteil. Dieser
Ekkehard Kaufmann gewidmete Band betont, daß „das germanistische Fach in der
gegenwärtigen Rechtsgeschichte sein eigenständiges Forschungsprofil“ habe
„behalten und entfalten“ können (Stephan Buchholz S. VII). Der Rezensent
muß gestehen, daß er dieser Feststellung vor knapp einem Jahrzehnt mit
erheblich größeren Zweifeln begegnet wäre, als er dies heute für angemessen
hält. Zwar vermag ich eine „Entfaltung“ germanistischer Forschung angesichts
der verbreiteten Hinwendung zur neueren und neuesten Rechtsgeschichte auch
heute nicht festzustellen. Und die enge Perspektive der historischen Schule mit
ihren unvermeidlichen Verzerrungen eröffnet der rechtsgeschichtlichen
Germanistik keine Zukunft mehr. Aber die Sache selbst gibt es nun einmal. Der
Forschungsgegenstand „deutsche Rechtsgeschichte“ ist nicht deshalb abhanden
gekommen, weil einerseits viele Entwicklungen zumal im späten Mittelalter
„kanonistisch“ oder „romanistisch“ eingefärbt erscheinen und andererseits
moderne Fragestellungen den europäischen Vergleich notwendig machen. Denn man
muß das Wort „deutsch“ nur durch „sächsisch“ oder „fränkisch“ ersetzen, um
einzusehen, daß die Wissenschaft auf die Erforschung der autochthonen
Mikrostrukturen des Rechts keinesfalls verzichten kann. Dort, wo sich die
Mechanismen gesellschaftlichen Lebens noch mit den Rechtsvorstellungen der
Beteiligten decken und Gewohnheiten daher, wenn nicht die einzigen, so doch die
wichtigsten Regulative bilden, ist am meisten über die ursprünglichen
Sinnzusammenhänge des Rechtslebens in Erfahrung zu bringen. Dieses
Erkenntnisziel ist aber nicht nur ganz grundsätzlich und wegen der parallelen
Fragestellungen der Ethnologie von Bedeutung, sondern auch deshalb, weil die
modernen Forschungen zum Vordringen des gelehrten Rechts gezeigt haben, daß
dieses sehr spezifische Wege eingeschlagen hat und weite Bereiche traditionaler
Rechtspraxis noch lange unberührt blieben.
Wie oft in solchen Bänden, regiert leider die Willkür der
alphabetisch aufgelisteten Autorennamen das Gliederungskonzept. Eine an den
Inhalten orientierte Systematik könnte etwa folgendermaßen aussehen: I.
Rechtsquellen: Clausdieter Schott, Der Codex Sangallensis 731.
Bemerkungen zur Leges-Handschrift des Wandalgarius; Dietlinde Munzel,
Die Bedeutung der lateinischen Kapitel über die Reichshöfe in der Corveyer
Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes; Ruth Schmidt-Wiegand, Sprichwörter
und Redensarten aus dem Bereich des Rechts; Gero Dolezalek,
Krokodilfluß, Kanufahrer und Corpus Iuris. Probleme der Fortgeltung von
Ius-Commune-Rechtsquellen, beleuchtet anhand der südafrikanischen Entscheidung
Butgereit v Transvaal Canoe Union 1988 (1) SA 759 (A); II. Prozeß‑ und
Strafrechtsgeschichte: Hans-Albert Rupprecht, Hybris. Anmerkungen zu
einem Delikt in den Papyri der ptolemäischen und römischen Zeit; Heinz
Holzhauer, Zum Strafgedanken im frühen Mittelalter;
22 Beiträgen kann eine Rezension nicht in gleicher Weise
gerecht werden. Wenden wir uns daher besonders jenen Untersuchungen zu, die
einen Beitrag gerade zur germanistischen Rechtsgeschichte erwarten lassen. Clausdieter
Schott bietet zu jener berühmten Handschrift, in welcher der Schreiber
angeblich sein Konterfei hinterlassen hat, nicht nur eine exakte
Forschungsgeschichte, sondern ermutigt zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit
frühmittelalterlichen Rechtstexten. Modernem Denken schwer verständlich, finden
diese sich ja häufig in Sammelhandschriften, deren Inhalte zufällig
aneinandergereiht erscheinen. Schott entwickelt für seine Handschrift dagegen
ein einleuchtendes Konzept, das auch die Deutung der in ihr enthaltenen Figur
als eines Herrschers, der mit Stab und Buch das Recht zu schützen hat,
bestätigt. - Dietlinde Munzel stellt eine neu entdeckte Handschrift des
kleinen Kaiserrechts vor, die bisher unbekannte, hier im Wortlaut vorgestellte
lateinische Texte zu zinspflichtigen Gütern auf Königsgut enthält. Dabei
ergaben sich zugleich weitere Aspekte zur Entstehung und Verbreitung des
Rechtsbuches im Frankfurter Raum. - Ruth Schmidt‑Wiegand setzt
ihre Forschungen zu den Rechtssprichwörtern fort, die ihre Geheimnisse Schritt
für Schritt preisgeben. Es dürften sich wenige Materien der älteren
Rechtsgeschichte finden, an denen sich Einflüsse mündlicher Rechtsübung und
gelehrten Wissens zugleich so eindrucksvoll studieren lassen wie an diesem
Stoff.
Das breite wissenschaftliche Interesse, das in jüngerer Zeit
die Geschichte des Verfahrensrechts und der Strafpraxis gefunden hat, schlägt
sich in diesem Band zunächst in einem Beitrag von Heinz Holzhauer
nieder. Er bekennt sich entschieden zum „Strafgedanken“ auch im
Frühmittelalter, eine Position, die auch durch neuere Untersuchungen Jürgen
Weitzels gestützt wird und inzwischen als herrschende Meinung bezeichnet werden
darf - Viktor Achters Idee von der „Geburt der Strafe“ (1951 ) seit dem 11.
Jahrhundert darf als eine Episode der Wissenschaftsgeschichte zu den Akten
gelegt werden. Holzhauer steuert zum Verständnis des Strafens im frühen
Mittelalter auch einen ganz wichtigen Gedanken bei, der nach Überzeugung des
Rezensenten im Rahmen des Forschungsschwerpunktes über „Die Entstehung des
öffentlichen Strafrechts“ im Prinzip - wenn auch in differenzierter Weise -
seine Bestätigung gefunden hat: Es wurde immer gestraft, wenn durch ein
Verhalten die Rechtsgemeinschaft insgesamt betroffen war, wie im Falle von
Verrat, Religionsdelikten und ähnlichen Vorfällen. -
Daß Rechtsgeschichte letztlich nicht aus dem
verfassungsgeschichtlichen Rahmen herausgelöst werden kann, obwohl dieser eine
Domäne der Allgemeinhistoriker geworden ist, zeigen eindrucksvoll die Studien
von Hans-Jürgen Becker und Karin Nehlsen-von Stryk . Alle
Entwicklungsstadien des von Becker untersuchten Gerichts auf dem Bornheimer
Berg bei Frankfurt hängen auf das engste mit der jeweiligen
Herrschaftskonstellation zusammen. Der Fallstudie kommt nicht zuletzt deshalb
exemplarische Bedeutung zu, weil sie sich mit anderen, sonst auch anderswo
diskutierten Themen überschneidet: Königsgut und Territorialherrschaft,
Weistümer und Rechtsbücher, Königsgericht und gelehrtes Recht. Nehlsen von
Stryk schildert die Territorialisierung des Gerichtswesens in der
Landgrafschaft Hessen als einen langwierigen Prozeß, dessen Ziel in immer
wieder erneuerten Anläufen erst allmählich erreicht wird. Wie fast überall,
setzt die gegen die Rechtszüge zu Oberhöfen gerichtete Politik zwar im 14.
Jahrhundert ein, vermag sich aber angesichts der tiefen Verwurzelung des Rechts
im Herkommen nur mühsam durchzusetzen. Die Zurückdrängung der expandierenden
geistlichen Gerichtsbarkeit, die hier, in den Händen des Mainzer Erzbischofs
und Kurzfürsten, wohl als besonders bedrohlich empfunden wurde, mutet an wie
ein Vorspiel zur Reformation. Wie anderswo auch, suchten die hessischen
Landesherren ihre Position als Träger der iurisdictio
durch die Errichtung von Hofgerichten zu stärken.
Versuchen wir eine Bilanz in Hinblick auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Sinn germanistischer Rechtsgeschichtsforschung. Überwiegend eröffnen die Beiträge Perspektiven auf unbeantwortete Fragen von oft grundsätzlicher Bedeutung. Schon lange geht es nicht mehr um eigentlich „Germanistisches“, sondern um den Zugang zur Geschichte durch ein adäquates Verständnis der Quellen, um die Geschichte der Konfliktbewältigung, um den Wandel des Rechtsverständnisses und damit letztlich auch um die Frage, was Recht überhaupt ist. Schwerlich wird man der rechtsgeschichtlichen Forschung den Vorwurf machen können, daß sie wirklich relevante Fragen nicht erkenne. Eher scheint umgekehrt das Verständnis für die Geschichtlichkeit des Rechts zu schwinden, was sich anhand der neuesten Studienreformpläne zweifelsfrei belegen läßt.
Auch wenn sich der Rezensent dafür entschieden hat, in
dieser Besprechung nur eine kleinere Auswahl der hier präsentierten
Abhandlungen genauer vorzustellen, mag doch deutlich geworden sein, daß der
vorliegende Band das Genre „Festschrift“ in seiner Weise rechtfertigt. Ihm ist
eine nachhaltige Resonanz in der Wissenschaft zu wünschen.
Würzburg Dietmar
Willoweit