WassermannDorsch20001129 Nr. 10200 ZRG 119 (2002) 57
Dorsch,
Thomas G., Der
Reichsgerichtsbau in Leipzig: Anspruch und Wirklichkeit einer Staatsarchitektur
(= Europäische Hochschulschriften Reihe 37, Architektur 21). Lang, Frankfurt am
Main – Berlin – Bern – Brüssel – New York – Oxford – Wien 2000. 411 S.
Die deutsche Justizarchitektur wurde
von der Kunstgeschichte lange vernachlässigt. Dies befremdete um so mehr, als
im 19. Jahrhundert bemerkenswerte Bauten entstanden, in denen versucht
wurde, Autorität und Ästhetik zu verbinden und der Würde des Rechts Geltung zu
verschaffen. Zu ihnen gehört das Reichsgerichtsgebäude, das sich seit der
Wiederherstellung der Einheit Deutschlands beträchtlicher Aufmerksamkeit
erfreut. Das hundertjährige Jubiläum im Jahre 1995 gab den Anstoß zu der
vorzüglich bebilderten Monographie „Das Reichsgericht”, die das
Stadtgeschichtliche Museum Leipzig herausgab (Edition Leipzig 1995). Nachdem
der Architekturhistoriker Klemens Klemmer im Rahmen des Werkes „Deutsche Gerichtsgebäude”
(C. H. Beck München 1993) dem Reichsgerichtsgebäude einen ausführlichen Beitrag
gewidmet hatte, liegt nunmehr die Marburger Dissertation des Kunsthistorikers
Thomas G. Dorsch vor, die sich zum Ziel setzt, am Beispiel des
Reichsgerichtsbaus „Anspruch und Wirklichkeit einer Staatsarchitektur” zu
behandeln.
In dem Eingangskapitel „Justiz und
Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert” wagt sich der Autor an den bedeutsamen
Abschnitt der Rechtsgeschichte heran, in dem sich unter dem Einfluß des
Liberalismus und seiner Öffentlichkeitsauffassung eine moderne, unabhängige
Justiz entfaltete. Er folgt dabei im wesentlichen Fögens Arbeit von 1974 über
den Kampf um die Gerichtsöffentlichkeit. Daß der zitierte Peter Landau ein
Rechtshistoriker und kein Kunsthistoriker ist, sei der guten Ordnung halber
angemerkt. Eingehend widmet sich Dorsch der Frage, weshalb Leipzig zum Sitz des
Reichsgerichts bestimmt wurde (Kapitel II) und welche Entwürfe für den Bau des
„Reichsgerichtshauses” miteinander konkurrierten (Kapitel III). Der Schwerpunkt
der Arbeit liegt im Kapitel IV, in dem Dorsch zunächst den Weg vom Funktionsbau
zur Monumentalarchitektur verfolgt, um anschließend auf über 200 Seiten das
Verhältnis der Architektur zu ihrer Funktion zu untersuchen.
Das geschieht in eindrucksvoller
Weise vor allem im Wege einer ikonologischen und rezeptionsästhetischen
Analyse, die Vorbilder aus der Staatsarchitektur einbezieht und Vergleiche mit
anderen Bauten im Inland und Ausland anstellt, etwa was die Portiken, die große
Kuppel und die in der Tradition der „salle des Pas perdus” konzipierten
Wandelhalle angeht. Die Formensprache der Renaissance war damals der Staatsstil
für bedeutende Staatsbauten. Beim Vestibül wurde das ikonographisch besetzte
Dekorum früher gern den Besuchern gezeigt. Zu Recht widmet der Autor der Halle
besondere Aufmerksamkeit, wobei er u. a. Vergleiche mit dem Reichstagsgebäude,
der Nikolaikirche in Potsdam, den Justizpalästen in Lyon und Paris und dem
Gewandhaus zieht. Neben den Sitzungssälen mit ihrer unterschiedlichen Funktion
charakterisiert Dorsch treffend die damalige Bedeutung der Dienstwohnung des
Präsidenten, die im Stil der deutschen Renaissance gehalten war. Überzeugend
arbeitet er den Unterschied zwischen dem Besuchertreppenhaus und dem vom Barock
geprägten Familientreppenhaus heraus. Dem letzteren schreibt er zu Recht
schloßähnlichen Charakter zu, und den Festsaal der Präsidentenwohnung rühmt er
als „am reichsten und prachtvollsten ausgestatteten Raum des gesamten
Bauwerks”. Den Architekten Ludwig Hoffmann, der in den 20er Jahren als Staatsbaurat
in Berlin wirkte, nimmt der Autor vor dem Vorwurf des willkürlichen,
stilpluralistischen Historismus in Schutz. Hoffmann, so schreibt er, habe den
Stil jeweils nach seinem ikonologischen Inhalt ausgesucht. Den Hoffassaden z.
B. wurde schon von zeitgenössischen Architekten eine „ausgezeichnete Wirkung”
zugeschrieben; ihr Gleichmaß könne sich den besten Schöpfungen der Veroneser
und Florentiner Renaissance anreihen.
In seinem Schlußkapitel bemüht sich Dorsch um ein Resumée, nachdem er zuvor die zeitgenössischen Pressestimmen wiedergegeben hat. Dabei untersucht er das Verhältnis der monarchischen Elemente des Bauwerks zu Motiven des Bürgertums und weist darauf hin, daß die Betonung der deutschen Rechtsgeschichte etwa im Figurenprogramm des Bibliotheksrisalits mit der Tatsache konstrastiere, daß gerade die öffentliche Verhandlungsform von Frankreich übernommen worden sei. Inhaltlich habe der Bau nicht in allem der Wirklichkeit entsprochen, sondern ein Idealbild des Deutschen Reiches und der deutschen Justiz gezeichnet. Gegenüber dieser Kritik ist freilich Widerspruch angezeigt. Es kann nicht die Aufgabe von Staatsarchitektur sein, die gesellschaftliche Realität einer Institution wiederzugeben, erst recht nicht die einer bei Künstlern so unbekannten Einrichtung wie der Rechtsprechung. Richtiger ist es wohl, zumal wenn es um eine Bauaufgabe geht, der Frage nach dem – zeitgebundenen – Selbst- und Fremdverständnis nachzugehen, was allemal auf ein Idealbild hinausläuft. Das Reichsgericht hatte für eine einheitliche Rechtsprechung im Deutschen Reich zu sorgen. So war es nur folgerichtig, wenn man in seinem Domizil das Symbol für die mühsam errungene, für das Reich ungemein wichtige Rechtseinheit sah.
Großes Lob ist der reichen Bebilderung
des Werkes zu zollen. Die Aufnahmen sind gut gewählt; sie lassen auch erkennen,
wie es im Innern des Monumentalbaues ausssah, und unterstreichen damit den
Anspruch der Studie.
Goslar Rudolf
Wassermann