WassermannDiepraxis20001228 Nr. 10257 ZRG 119 (2002) 84
Die Praxis des Bundesgerichtshofes im deutschen Rechtsleben.
Festgabe aus der Wissenschaft zum 50-jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofes.
Beck, München 2000. Band 1 Bürgerliches Recht, hg. v. Canaris, Claus
Wilhelm/Heldrich, Andreas, 950 S., Band 2 Handels- und Wirtschaftsrecht,
Europäisches und internationales Recht, hg. v. Heldrich, Andreas/Hopt, Klaus
J., 950 S., Band 3 Zivilprozeßrecht, Insolvenzrecht, Öffentliches Recht,
hg. v. Schmidt, Karsten, 950 S., Band 4 Strafrecht, Strafprozeßrecht,
hg. v. Roxin, Claus/Widmaier, Gunter, 950 S.
Zur
Feier seines 50jährigen Bestehens erhielt der Bundesgerichtshof
(Bundesgerichtshof) eine voluminöse, vierbändige Festgabe „aus der
Wissenschaft“. Bewußt wurde dabei an die sechsbändige Festschrift mit dem Titel
„Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben“ angeknüpft, die 1929
Professoren der juristischen Fakultäten dem Reichsgericht zu seinem 50.
Jubiläum gewidmet hatten. Die Herausgeber Canaris, Heldrich, Hopt, Roxin,
Schmidt und Widmaier haben nicht weniger als 134 Hochschullehrer versammelt, um
dem obersten deutschen Gericht in Zivil- und Strafsachen Reverenz zu erweisen.
Im Vorwort betonen sie, die Würdigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
solle ein Zeichen des Dankes für die Aufgeschlossenheit des Gerichts im Dialog
mit der Rechtswissenschaft setzen und zugleich die Hochschätzung für den
argumentativen Entscheidungsstil des Bundesgerichtshofs zum Ausdruck bringen,
mit dem sich der Bundesgerichtshof von den Entscheidungsbegründungen anderer
Gerichte - insbesondere auch von dem des Reichsgerichts - unterscheidet. Dieses
Lob ist um so bemerkenswerter, als die Art und Weise, wie der Bundesgerichtshof
seine Entscheidungen begründet, von der Praxis vielfach kritisiert wird. Sicher
macht man es sich zu einfach, wenn man dem Bundesgerichtshof Weitschweifigkeit
anlastet. Nicht von der Hand zu weisen sind aber Monita, die rügen, daß die
Begründungen des Bundesgerichtshofes nicht nur wegen ihrer Zitierfreude häufig
wissenschaftlichen Arbeiten ähneln, ja teilweise sogar mit
„dissertationsähnlichem Aufwand“ (Mayer-Maly) geschrieben sind.
Zu
Recht machen die Herausgeber darauf aufmerksam, daß es dem Demokratieprinzip
entspricht, nicht lediglich Gehorsam zu verlangen, sondern durch Begründung zu
überzeugen und sich einer rationalen Auseinandersetzung zu stellen. Die
Rechtswissenschaft hat das Angebot des Bundesgerichtshofes zum Dialog
offensichtlich gern angenommen. So wertvoll dieses Zwiegespräch auch ist, so
verfehlt wäre es allerdings, würde sich die Bundesgerichtshofs-Judikatur als
Bestandteil des wissenschaftlichen Kommunikationssystems begreifen und außer
acht lassen, daß sie praktischen Zwecken dient. Prägnanz, Klarheit und eine
möglichst verständliche Sprache sind Essentialien eines dem Demokratieprinzips
verpflichteten Entscheidungsstils, und strikt sollte vermieden werden, der
Neigung zu obiter dicta nachzugeben. Wenn die Herausgeber meinen, der Stil des
Bundesgerichtshofes weise zukunftweisende Vorzüge für die zusammenwachsende
europäische Rechtsgemeinschaft auf, dürfte wohl eher Zurückhaltung angebracht
sein - schon im Blick auf die Vielzahl der einzelstaatlichen Justiztraditionen
(vgl. Sprung/König, Die Entscheidungsbegründung in europäischen Verfahrensrechten
und im Verfahren vor internationalen Gerichten, 1974).
Überhaupt
sparen die Herausgeber nicht mit Lob für den Bundesgerichtshof. Sie
bescheinigen ihm, maßgeblich das deutsche Recht zu einer Blüte geführt zu
haben, die international jedem Vergleich standhalte, und würdigen anerkennend
die Rezeption der Judikatur durch den Gesetzgeber, etwa bei den Allgemeinen
Geschäftsbedingungen. Die Autoren zeichnen die Entwicklung zu einer
„Rechtskultur von sehr hohem Rang“ an ausgewählten Fragestellungen nach. Unter
den Beiträgern vermißt man trotz der großen Zahl manchen bekannten Namen.
Gleichwohl bieten die Bände eine ebenso instruktive wie eindrucksvolle
Gesamtschau.
Unmöglich
ist es, in dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen dem reichen Inhalt der Bände
auch nur annähernd gerecht zu werden. Besonders bedauerlich ist das bei dem
ersten Band, der dem Privatrecht gewidmet ist. Es sei wenigstens erwähnt, daß Bydlinski
in seinem Beitrag zum Richterrecht
die Richtlinien des Bundesgerichtshofes zum Richterrecht herausarbeitet und
auswertet, um sie methodologisch der Lehre von der Bindungskraft von
Präjudizien zuzuordnen. Beiläufig, aber mit Schärfe kritisiert er das
„erstaunliche Phänomen“, daß sich der Europäische Gerichtshof als
„gerichtsförmige Gesetzgebungsinstanz“ versteht, wogegen sich, wie er hofft,
„rechtskultureller Widerstand“ aus gemeinrechtlicher Tradition entwickeln
solle.
Natürlich
ist es Bydlinski nicht allein, der sich mit der richterlichen
Rechtsfortbildung beschäftigt. Die Problematik zieht sich vielmehr wie ein
roter Faden durch das gesamte Werk, wobei unterschiedliche Aspekte zutage
treten. Im ersten Band geschieht das konkret im Haftungs- und Schadensrecht, im
Kauf- und im Mietrecht, aber auch im Sachen-, Familien- und Erbrecht. Man würde
den Leistungen der Autoren insgesamt einen Tort antun, wollte man einzelne
hervorheben, so sehr diese es auch verdienten, etwa wenn Canaris die
Vertrauenshaftung im Lichte der Bundesgerichtshofs-Rechtsprechung untersucht, Ehmann
am Beispiel des vom Bundesgerichtshof eingeführten Allgemeinen
Persönlichkeitsrechts den Wegen der Transformation unmoralischer und
unerlaubter Handlungen nachgeht und Deutsch das Verhältnis der
Gefährdungshaftung zur Judikatur und Gesetzgebung bedauernd als „gegenseitige
Abstoßung“ bezeichnet.
Wie
im Zivilrecht, so geht es auch im Handels- und Gesellschaftsrecht, im Banken-,
Börsen- und Kapitalmarktrecht, im Versicherungs- und Kartellrecht sowie im
Wettbewerbs-, Patent- und Urheberrecht um die Anpassung des Rechts an die
moderne Wirtschaftsgesellschaft. Zum zweiten Band des Werkes gehören aber auch
gewichtige Abhandlungen, die sich mit dem europäischen Recht, dem
Internationalen Privatrecht und der Rechtsvergleichung beschäftigen. Zu
begrüßen ist, daß zwei Beiträge (Roth und Hommelhoff) die
Verantwortung der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts
ausführlich anhand konkreter Probleme erörtern. Die Erkenntnis, daß die
Gerichte anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die
gemeinschaftsrechtliche Dimension bei der Auslegung und Anwendung des
nationalen Rechts oft nicht erkennen, kann über die beim Bundesgerichtshof und
den deutschen Gerichten festzustellenden Defizite nicht hinwegtrösten. Der
gemeinsamen Rechtstradition, aber auch dem lebhaften Meinungsaustausch zwischen
Deutschland und Österreich entspricht es, daß Koziol in seinem interessanten Beitrag bedeutsame Beispiele
aufzeigen kann, in denen der österreichische Oberste gerichtshof die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes rezipiert hat, wobei sein Hinweis darauf,
daß der Bundesgerichtshof weit großzügiger mit dem Gesetz und dessen Wertungen
umgeht als der Oberste Gerichtshof, nachdenklich stimmen könnte. Der Einfluß
des Bundesgerichtshofes auf die schweizerische Judikatur, mit dem sich Honsell befaßt, ist
verständlicherweise geringer. Uneingeschränkt zuzustimmen ist dem Wunsch nach
wechselseitiger Befruchtung der Rechtsordnungen. Daß gegenwärtig die
Einbeziehung der Rechtsordnungen der Nachbarländer in die deutsche Judikatur
weitgehend eine Einbahnstraße ist, kann auch der Rezensent nur bedauern.
Im
Mittelpunkt des dritten Bandes steht der Zivilprozeß. Des weiteren sind in ihm
das Vollstreckungsrecht, das Insolvenzrecht, das Anwaltsrecht und aus dem
Öffentlichen Recht die Rechtspraxis zur Eigentumsgarantie und zur Staatshaftung
vereinigt. Dem Einfluß des Grundgesetzes auf die zivilprozessuale
Rechtsprechung räumt Schumann breiten Raum ein, wobei er dem
Bundesverfassungsgericht die Meinungsführerschaft bei der
Grundrechtsorientierung des Zivilprozesses zuschreibt. In der Tat haben die vom
Bundesverfassungsgericht entwickelten Rechtspositionen (effektiver
Rechtsschutz, vorhersehbares Verfahren, fairer Prozeß und zivilprozessualer
Rechtsschutzanspruch) dem modernen Zivilprozeß das Gepräge gegeben, wozu noch
die Vorstellungen des „sozialen Zivilprozesses“ und das Recht auf Gehör treten.
Eigentlich wäre die Neuorientierung aufgrund des Grundgesetzes Sache des
Bundesgerichtshofes gewesen, was Schumann hervorhebt. Weitere Beiträge
gelten Einzelfragen des Zivilprozesses, mit denen sich der Bundesgerichtshof in
den 50 Jahren seiner Rechtsprechung kontinuierlich befaßt hat (Rechtsweg, Klage
und Beteiligung Dritter, Prozeßverlauf, Urteil und Rechtskraft), ferner der
Zwangsvollstreckung und dem einstweiligen Rechtsschutz sowie dem
Insolvenzrecht. In seiner Abhandlung über Rechtsvergleichendes zur
Schiedsgerichtsbarkeit stellt Schlosser zentrale Aspekte der
Bundesgerichtshofs-Rechtsprechung wie das rechtliche Gehör und die Integrität
der Verfahrensstrukturen in einen vergleichenden Zusammenhang mit den
Schiedgerichtsverfahren anderer Staaten, wobei er dem Bundesgerichtshof
vorbildliche Pionierarbeit attestiert. Ähnlich beurteilt Papier die
Bundesgerichtshofs-Judikatur zu Art. 14 GG, die er als „äußerst aktiv und
innovativ“ bezeichnet. Ossenbühl würdigt insbesondere den
richterrechtlich entwickelten Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff und die
Rechtsprechung zum enteignenden Eingriff, der gleichfalls eine Frucht
richterlicher Schöpfung ist. Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes, dem Prütting
einen Beitrag widmet, wird mit der Frage konfrontiert, weshalb er die Anpassung
des anwaltlichen Berufsrechts an das Verfassungsrecht nicht leisten konnte. Prütting
rühmt andererseits, daß der Bundesgerichtshof nach 1987 die neue Rechtslage
schnell und konsequent in die Praxis umgesetzt habe.
Dem
abschließenden vierten, dem Straf- und Strafprozeßrecht gewidmete Band geben
gehaltvolle Abhandlungen vornehmlich zu dogmatischen Fragen das Gepräge.
Darüber hinausgehend läßt Frisch dem Strafzumessungsrecht in der
Bundesgerichtshofs-Judikatur eine kritisch-konstruktive Würdigung angedeihen.
Mit der Bindung der Strafe an die Schuld des Täters wird der Praxis eine
Leitlinie erheblicher Bandbreite gegeben. Frisch vermißt jedoch nach der
Abkehr von Vergeltungs- und Sühnegedanken das eigentlich tragende Strafkonzept,
wozu weder die Idee des Schuldausgleichs noch die General- oder
Spezialprävention taugen. Die Lösung sieht er ebenso zweckrational wie
symbolisch in der Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Rechtszustands.
Beim Täter-Opfer-Ausgleich, mit dem sich Schöch eingehend befaßt,
bedauert dieser nicht nur, daß der Bundesgerichtshof keine einheitliche Linie
gefunden hat, sondern versucht auch, systemwidrige und teleologisch nicht
gerechtfertigte Anwendungsbarrieren des § 46a StGB zu überwinden.
Von
besonderer Aktualität sind die Beiträge, die sich mit der strafrechtlichen
Aufarbeitung des Unrechts in der sowjetischen Besatzungszone und in der
Deutschen Demokratischen Republik, also mit „Systemkriminalität“ und
„staatsverstärkter Kriminalität“ befassen. Rogall und Hassemer setzen
sich dabei insbesondere mit der Radbruchschen Formel und dem Standpunkt
auseinander, den der Bundesgerichtshof zum Rückwirkungsverbot einnimmt. Dessen
Auffassung, daß das Rückwirkungsverbot grundsätzlich auch den Systemkriminellen
zugute komme, aber dann entfalle, wenn schwere Menschenrechtsverletzungen
begangen seien, stimmen beide zu. Zur Bundesgerichtshofs-Judikatur zur
Rechtsbeugung durch Richter der Deutschen Demokratischen Republik läßt Rogall
immerhin eine gewisse Skepsis erkennen, meint aber, sie sei „wenigstens
vertretbar“. In der Literatur wird das vielfach anders gesehen (vgl. Spendel
NJW 1996, 809ff), wie auch grundsätzliche Bedenken dagegen anzumelden sind, daß
das zum Schutz des Bürgers gegen staatliche Macht eingeführte
Rückwirkungsverbot nun Diktatoren und ihren Funktionären zur Seite steht, wenn
sie kriminelles Unrecht tun, von dessen Verfolgung sie sich selbst kraft ihrer
Machtvollkommenheit freigestellt haben.
In
den Beiträgen zum Besonderen Teil des Strafrechts dominieren
wirtschaftsstrafrechtliche Probleme. Es finden sich aber auch Beiträge zu
anderen aktuellen Problemen, etwa zur Abwägung zwischen Kunstfreiheit und
Pornographie (F. C. Schroeder). Weniges hat die Strafrechtspraxis so
irritiert wie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den
Sitzblockaden. Tröndle spricht
zutreffend von Irrungen und Wirrungen, die den Bundesgerichtshof 1995 zum
Bemühen um Schadensbegrenzung veranlaßten. Seine Genugtuung, daß der
Bundesgerichtshof im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht in dieser Frage
keinen „zeitgeistbedingten Versuchungen“ erlag, ist berechtigt.
Den
Abschluß bilden Beiträge zum Strafprozeßrecht. Deutliche Worte findet hier Weigend
zur Absprachenpraxis, die das Strafverfahren revolutioniert hat, indem sie die
Anwendung der rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätze und den dadurch in feste
Formen gegossenen öffentlichen Wahrheitsfindungsprozeß durch konsensuale
Streitbeilegung ersetzt. Von den vom 4. Strafsenat des Bundesgerichtshof
aufgestellten Grundsätzen ausgehend erörtert er nach einem Überblick über die
bisherige Judikatur die vielen ungelöst gebliebenen Probleme und wirft die
Frage auf, ob es angesichts des Siegeszuges des Deal nicht ehrlicher wäre, die
Dispositionsmaxime einzuführen, wogegen es allerdings wiederum gravierende
Bedenken gibt. Dem strafrechtlichen Risiko der Strafverteidigung widmet Widmaier
seinen Beitrag. Seine Bilanz fällt für den Bundesgerichtshof positiv aus. Es
sei diesem, so schreibt er, gelungen, das strafrechtliche Risiko des
Strafverteidigers in rechtsstaatlicher Weise einzugrenzen.
Das
Werk beeindruckt nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch durch die
vorzügliche Ausstattung, die der Verlag C. H. Beck ihm gegeben hat.
Goslar Rudolf
Wassermann