WaibelRössler20010109 Nr. 10262 ZRG 119 (2002) 81

 

 

Rössler, Ruth-Kristin, Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945-1956 (= Ius Commune Sonderheft 136). Klostermann, Frankfurt am Main 2000. XII, 316 S.

 

Die Frage nach gesellschaftspolitischer Kontinuität oder radikalem Neuanfang stellte sich nach dem Untergang des Dritten Reiches überall in Deutschland. Sie betraf auch das Rechts- und Justizwesen. War man sich in der Ablehnung nationalsozialistischer „Rechts“strukturen jedoch vollkommen einig, blieb die mögliche Anknüpfung an die Zeit vor 1933 heftig umstritten. Während die bürgerlich-liberalen (Rechts-)Traditionen der Weimarer Republik in den westlichen Zonen auf grundsätzliche Zustimmung trafen, versuchte man in der sowjetischen Besatzungszone - das Bild einer Richterkontinuität vor Augen, die nach verbreiteter Ansicht einen verhängnisvollen Beitrag zur Machtentfaltung des Nationalsozialismus beigesteuert hatte - einen vollkommenen Neuanfang. Mit diesem neuen Weg, insbesondere der Entwicklung und Umsetzung der Personalpolitik in der ostdeutschen Justiz, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit von Ruth-Kristin Rössler. Sie steht damit in einer Reihe von Abhandlungen, die in den letzten Jahren zum Aufbau des Justizwesens in der sowjetischen Besatzungszone und der jungen Deutschen Demokratischen Republik erschienen sind. Die Untersuchung, die sich wohl selbst als historisch-sozialwissenschaftliche Strukturanalyse der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik versteht (S.3), stellt darüber hinaus Fragen nach Aufbau und Entwicklung staatlicher Machtmechanismen und Machtstrukturen sowie nach dem Anteil persönlicher und parteipolitischer Interessen und Verantwortung. Dabei kann sie sich auf die Auswertung von Dokumenten- und Aktenmaterial aus ostdeutschen Archiven stützen, die der Forschung seit 1989/1990 zugänglich sind.

Die Arbeit ist in zwei Themenbereiche unterteilt, denen ein umfangreicher Dokumentenapparat zur Seite gestellt wird. Einem größerer ersten Teil, der sich mit der „Demokratisierung der Justiz“ in den Jahren 1945 bis 1948 beschäftigt (S. 11-129), folgt ein kürzerer Abschnitt über den „Aufbau einer sozialistischen Justiz“ in den fünfziger Jahren (S. 131-180). Die Kapitel folgen einem weitgehend gleichen Schema: Der Darstellung einschlägiger Rechtsgrundlagen folgt die Schilderung personeller Entwicklungen innerhalb der Justiz(-verwaltung). Im Anschluss daran beschreibt die Autorin die hinter den Personalentscheidungen stehenden politischen Steuerungsprozesse und kommt dabei jeweils auf die Rolle der sowjetischen Kontrollinstanzen und der SED zu sprechen. Die einzelnen Abschnitte werden - beschränkt auf den strafrechtlichen Bereich - mit Ausführungen zum Einfluss des Elitenwechsels auf die konkrete Rechtsanwendung abgerundet. In den Textteil eingeflochten sind zahlreiche Tabellen und Zahlenangaben zur personellen Zusammensetzung der Justiz in der SBZ/DDR. Hinweise im Text auf den im Anschluss abgedruckten Dokumententeil schärfen den (Ein-)Blick in die komplexen Zusammenhänge der besprochenen Epoche.

Mit ihrer Gliederung gibt die Autorin bereits den entscheidenden Hinweis auf die zwei unterschiedlichen Phasen, die der Personalpolitik innerhalb der Justiz der SBZ/DDR zugrunde liegen. Dabei lässt sich 1948 ein deutlicher Bruch in der Entwicklung des Justizwesens erkennen. Galten die Jahre zuvor der Demokratisierung, Entnazifizierung und Entmilitarisierung der ostdeutschen Justiz, wurde 1948 eine Entwicklung in Gang gesetzt, an deren Ende die Zentralisierung, Politisierung und Sowjetisierung der ostdeutschen Justiz stand. Der vorliegenden Arbeit gelingt es eindrucksvoll, die zu dieser Entwicklung führenden Determinanten herauszuarbeiten. Anhand vieler Beispiele und Einzelschicksale wird deutlich, dass der beschrittene Weg nicht in gerader Linie, sondern äußerst kurvenreich und holprig verlief. So ließ sich 1945 noch nicht erkennen, welche Richtung die Justizpolitik in der sowjetischen Besatzungszone später einschlagen sollte. Dem Primat einer gemeinsamen alliierten Viermächtepolitik verpflichtet, hatte sich auch die Umgestaltung der (gesamt-)deutschen Rechtspflege zunächst an den Gesetzen, Proklamationen und Direktiven des alliierten Kontrollrats auszurichten. Während jedoch in den westlichen Besatzungszonen schon früh eine Politik der „Persilschein-Ausstellung“ die Rückkehr zu bürgerlich-liberalen Rechtstraditionen und die breite Übernahme des bisherigen, mehr oder weniger belasteten Justizpersonals in Aussicht stellte, waren mit dem SMAD-Befehl Nr. 49 bereits im September 1945 die Weichen für eine wesentlich rigorosere Entnazifizierung der ostdeutschen Rechtspflege gestellt (S. 21). Eine einheitliche justizpolitische Linie war damit aber noch nicht präjudiziert, wie die kontrovers geführten Sachdiskussionen und Kompetenzstreitigkeiten innerhalb der noch intakten Länderjustizverwaltungen (S.26 f., 59-79), der deutschen (zentralen) Justizverwaltung (DJV) (S.28 f., 37-59) sowie im deutsch/sowjetischen Verhältnis (S. 87-97, 147-151) belegen. In der Sache umstritten waren vor allem die auf Initiative der SMAD im Dezember 1945 ins Leben gerufenen Volksrichterkurse, mit deren Hilfe man die akute Personalknappheit beheben wollte, die aufgrund der drastischen „Säuberung der Justiz“ innerhalb der sowjetischen Besatzungszone entstanden war.

Diese in vielerlei Hinsicht ambivalente Justiz- und Personalpolitik fand im Grunde 1948 ihren Abschluss, auch wenn - wie die Arbeit im einzelnen aufzeigt - die Entwicklung weiterhin nicht widerspruchsfrei verlief (vgl. nur S. 167ff.). Mit dem Stand der Personalentwicklung innerhalb des Justizbereichs hatten sich zu diesem Zeitpunkt aber alle involvierten Institutionen - die (noch bis 1952 bestehenden) ostdeutschen Länder, die DJV, die politischen Parteien, die Rechtsabteilung der SMAD sowie Moskau - unzufrieden gezeigt (S. 97). In dieser Phase, die durch den heraufziehenden Kalten Krieg, die Vertiefung der innerdeutschen und alliierten Gräben sowie der gesellschaftsweiten Etablierung der SED geprägt wurde, fiel auch der Startschuss für die Zentralisierung, Politisierung und Sowjetisierung der ostdeutschen Rechtspflege. Der mancherorts noch immer geführte Schmusekurs mit den Idealen des bürgerlich-liberalen Rechtsstaats Weimarer Prägung wich nun der schrittweisen Anpassung an das sowjetische Vorbild. Die „demokratische“ Zentralisierung des Rechtswesens spiegelte sich in der Neufassung des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung und erfasste neben den Gerichten auch die Staatsanwälte und die Rechtsanwälte (S. 131ff.). Wurden zentralistische Bestrebungen zuvor noch mit der Notwendigkeit einer Rechtsvereinheitlichung begründet, stand nun die „einheitliche und selbständige Lenkung der Justiz im Sinne einer neuen sozialistischen Orientierung“ im Vordergrund (S. 132). Daneben waren politische Verfahren, Schauprozesse und die direkte Einflussnahme des Politbüros auf die Urteilsvorschläge des Obersten Gerichtes (156ff., 165ff., 172ff.) Ausdruck einer Politisierung der Justiz, die damit ein zweites Mal innerhalb weniger Jahre ihre Unschuld und ihre Unabhängigkeit verlor. Das sich bahnbrechende dogmatisch-marxistische Justizverständnis sah die vorrangige Aufgabe des Rechts in der Durchsetzung des „realen Sozialismus“. Der ostdeutsche Richter, dessen „Recht“ auf „politische Betätigung“ im Gerichtsverfassungsgesetz von 1952 verankert wurde, konnte in diesem Umfeld seine Stellung als Organ der Rechtspflege nicht behaupten. Als „Interessenvertreter seines Staates“ wurde er vielmehr zur strikten Parteilichkeit verpflichtet. Sein Urteil verlor die Qualität eines Rechtssatzes und mutierte zur reinen „politische Tat“ (S. 132, 167, 172). Im Rahmen der fortschreitenden Politisierung und Funktionalisierung des Rechts blieben Fragen der Personal- und Kaderpolitik sowie die politische Schulung von Richtern und Staatsanwälten sodann bis 1989 auf der politischen Tagesordnung. Auf Tauwetterperioden, die sich 1953 und 1956 abzeichneten, folgte regelmäßig Nachtfrost (Werkentin, Zwischen Tauwetter und Nachfrost, in: Deutschland-Archiv 16), so dass kurze Phasen einer politischen Erneuerung letztlich ohne nachhaltige Auswirkungen blieben (S. 150f.).

Der Arbeit Rösslers stellt einen interessanten Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der sowjetischen Besatzungszone und der ersten Jahre der Deutschen Demokratischen dar. Auch wenn sich der Leser an der einen oder anderen Stelle die engere Einbettung des behandelten Themas in den gesamtpolitischen Zusammenhang jener ereignisreichen Jahre gewünscht hätte, vermittelt die Untersuchung ein differenziertes und sorgfältig recherchiertes Bild. Ihr besonderes Verdienst mag darin liegen, aufgezeigt zu haben, dass die Entwicklung zu einer weitgehend politischen und instrumentalisierten ostdeutschen Justiz nicht geradlinig verlief, sondern bis in die fünfziger Jahre hinein von zunächst heftigem, später zaghaftem Widerspruch begleitet wurde. In diesem Sinne plädiert die Autorin zu Recht für eine „offene“ Geschichtsbetrachtung und gegen eine pauschale Aburteilung der nach 1945 in der SBZ/DDR erfolgten Entwicklung (S. 5, 183). Auch die von ihr selbst beschworene interdisziplinäre Gratwanderung (zwischen den Disziplinen der Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft) ist der Autorin geglückt.

 

Tübingen                                                                                                        Dieter Waibel