VormbaumStrafjustiz20010125 Nr. 10246 ZRG 119 (2002) 87
Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, hg. v. Marxen,
Klaus/Werle, Gerhard unter Mitarbeit von Müller, Jan und Schäfter,
Petra, Band 1 Wahlfälschung. De Gruyter, Berlin 2000. XLVIII, 528 S.
Die Herausgeber bezwecken mit ihrer Dokumentation nicht weniger, als „der Öffentlichkeit erstmals ein vollständiges Bild der strafrechtlichen Verfolgung von DDR-Unrecht (zu präsentieren)”. Bedenkt man, daß noch im Herbst 2000 - 55 Jahre nach dem Untergang des NS-Regimes - eine strafrechtliche Hauptverhandlung wegen siebenfachen Mordes an jüdischen Gefangenen eröffnet worden ist, so mag das Unternehmen nach der (historisch) kurzen Zeit von 10 Jahren seit der deutschen Einigung gewagt erscheinen - umso mehr, als der hier betrachtete erste Band der Dokumentation ja bereits das Ergebnis mehrjähriger Vorarbeiten ist.
Die Herausgeber bemühen sich, die angedeuteten Bedenken
zu zerstreuen - im Ergebnis, wie ich meine, mit Erfolg. Zum einen besaß die
strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht jene Dimensionen,
denen die Justiz nach 1945 sich gegenübersah - neben Holocaust, KZ-System und
massenhaften Kriegsverbrechen sanken tödliche Schüsse auf Flüchtende an der
Grenze, also das, was der DDR-Führung als das - juristisch - Schlimmste
vorzuwerfen ist, fast zur Nebensächlichkeit herab. Des weiteren war die
Bereitschaft zur Verfolgung von System-Unrecht im Falle der DDR erheblich
größer als damals. Hier spielte sicherlich der Wunsch eine Rolle, die Justiz
nicht ein zweites mal dem Vorwurf auszusetzen, an dieser Aufgabe gescheitert zu
sein; gewiß hat aber auch der Umstand, daß die Mehrzahl der Verfahren von
bundesdeutschen Staatsanwälten und Richtern gegen ehemalige DDR-Bürger, also
gegen die „Anderen” und nicht, wie nach 1945, gegen die „Eigenen” betrieben
wurde, diese Bereitschaft erhöht. Nicht zu unterschätzen ist schließlich, daß
die Justiz (sowohl die deutsche wie die alliierte) nach 1945 vor einer völlig
neuen Aufgabe stand, während 50 Jahre später gerade die damals gewonnenen
rechtlichen Kategorien herangezogen werden konnten. All dies hat zu einem
verhältnismäßig raschen Fortschreiten der strafrechtlichen Auseinandersetzung
mit der Systemvergangenheit der DDR geführt, die deshalb in manchen Bereichen
bereits als abgeschlossen gelten kann. Überdies beginnen die Herausgeber ihre
Edition mit eben diesen Bereichen, gewinnen also für die weniger schnell
abgearbeiteten und juristisch auch komplizierteren Bereiche weitere Zeit.
Schließlich kündigen sie an, daß ein Nachtragsband etwa noch vorhandene
Nachzügler-Verfahren sowie später entdeckte Verfahren berücksichtigen werde (S.
XXII).
Welche Funktion kann sie darüber hinaus für die
Geschichts- und Rechtswissenschaft ausüben? Die Einführung in die Gesamtedition
(S. XVff.) nennt „vor allem zwei übergreifende Perspektiven” (S. XV): sie zeige
zum einen die Strafverfolgungsaktivitäten der Justiz auf und gebe zum anderen
„zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen wieder”, wodurch mittelbar „auch
die DDR-Vergangenheit ... zum Gegenstand der Dokumentation” werde. Darüber
hinaus stehe die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit in einer „Linie
der Verfolgung staatlich initiierter Kriminalität” bis hin zu den Jugoslawien-
und Ruanda-Tribunalen - einer Entwicklung, die darauf ziele, „die faktische
Straflosigkeit der Kriminalität der Mächtigen zu beenden”. Diese „Ausdehnung
der Herrschaft des Rechts” verdiene höchste Aufmerksamkeit, und die
„uneingeschränkte und ungefilterte Wahrnehmung” für diesen Vorgang solle durch
die Dokumentation ermöglicht werden.
Kann man den Herausgebern in dieser Absicht ohne weiteres
zustimmen, so erscheint ihre Einschätzung des spezifisch zeitgeschichtlichen
Wertes doch ein wenig zu optimistisch. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß
„Justizdokumente zeitgeschichtlich bedeutsame Feststellungen” enthalten (S.
XV); die weitere Annahme aber, diese Feststellungen seien „durch die hohen
Beweisanforderungen des Strafverfahrens abgesichert”, enthält allenfalls die
halbe Wahrheit. Ob die Wahrheitsmaßstäbe des Strafrichters denen des
Zeithistorikers kommensurabel sind oder auch nur sein können, ist zumindest
eine diskussionswürdige Frage. Immerhin sehen sich Justizpraktiker und
Historiker vor unterschiedliche Aufgaben gestellt. Staatsanwälte und Richter müssen
entscheiden, Historiker können abwarten oder Fragen bloß vorläufig beantworten;
jene fragen nach der Schuld des Angeklagten, diese setzen ihren professionellen
Ehrgeiz in die Multiperspektivität ihrer Untersuchungen. Die besonders hohen
Beweisanforderungen des Strafprozesses betreffen die zu Lasten des
Beschuldigten zu treffenden Feststellungen; der Grundsatz „in dubio pro reo”
ist für den Historiker eine irrelevante Kategorie. Dies sind nur einige
Probleme aus dem Fragenkreis „Geschichte vor Gericht”[1]. Freilich muß
sogleich hinzugefügt werden, daß in der Masse der Fälle diese Vorbehalte keine
praktische Wirkung entfalten dürften, pragmatisch betrachtet also die Aussage
der Herausgeber zutreffen wird.
Die Dokumentation, die in der Hauptsache aus gerichtlichen
Sachurteilen besteht (S. XVIII), ist nach Fallgruppen geordnet, die
gleichzeitig die Bandaufteilung bestimmen. Da von der rechtlichen Zuordnung der
Fälle u. a. auch die Verfolgungspraxis abhing, eröffnete sich damit den
Herausgebern die Möglichkeit, die Herausgabe der geplanten ca. 10 Bände nach
dem Stand der jeweiligen justiziellen Verarbeitung zu staffeln.
Da eine Volltextedition aller Verfahrensdokumente nicht
ernsthaft in Betracht kam, haben die Herausgeber eine Auswahl treffen müssen,
die für jeden Fallbereich besonders erläutert werden soll.
Der nunmehr vorliegende erste Band hat die
DDR-Wahlfälschungen zum Gegenstand - und damit einen Komplex, dessen
Bearbeitung inzwischen so gut wie vollkommen abgeschlossen ist. In der
Einleitung zu diesem Band (S. XXV-XLVIII) geben die Herausgeber einen
aufschlußreichen Überblick über die zeitgeschichtliche und juristische
Problematik. Der nüchterne und Wertungen, vor allem eigene rechtliche
Würdigungen vermeidende Stil dieser Einleitung verdient umso mehr hervorgehoben
zu werden, als bekannt ist, daß die beiden Herausgeber, von ganz
unterschiedlichen Ansatzpunkten ausgehend, eine im Ergebnis übereinstimmende
dezidierte - nämlich positive - Einstellung
zu diesen Verfahren haben. So verzichtet denn auch der Rezensent, der
eine davon abweichende Auffassung vertritt, diesen Streit hier neu zu beleben.
Der Leser findet in dieser Einleitung alle Rechtsprobleme, die dazu vertretenen
Auffassungen und die dazu erschienene Literatur aufgeführt.
Von den zahlreichen Verfahren haben die Herausgeber die
noch während der DDR-Zeit ergangenen Urteile vollzählig berücksichtigt. Unter
den nach dem 3. Oktober 1990 von der bundesdeutschen Justiz abgeschlossenen
Verfahren haben sie eine repräsentative Auswahl getroffen (S. XLIV), welche in
erster Linie regionale Aspekte, daneben vor allem die Aspekte „Erfassung aller
Fallvarianten”, „rechtliche Aussagen von besonderem Gewicht” „besondere
öffentliche Aufmerksamkeit” und „umfangreichere Feststellungen zum
politisch-historischen Umfeld der (Wahl-) Manipulationen” berücksichtigen.
Die Lektüre der Urteile zeigt, daß den Herausgebern mit
diesen Kriterien eine anschauliche und informative Auswahl gelungen ist.
Den weiteren Bänden, deren Themen rechtlich und politisch nicht ganz so heftig umstritten waren (und sind) wie die Wahlfälschungsverfahren, dafür aber Taten von größerem kriminellem Gewicht beinhalten, darf man gespannt entgegenblicken.
Hagen/Westf. Thomas
Vormbaum
[1] S.
zu diesem Thema neuerdings Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die
Suche nach Gerechtigkeit, hg. v. Frei, Norbert/Laak, Dirk van/Stolleis,
Michael. München 2000.