VecStahlschmidt20010109
Nr. 10230 ZRG 119 (2002) 46
Stahlschmidt,
Jens Wilhelm, Policey und Fürstenstaat. Die gothaische Policeygesetzgebung unter
Herzog Ernst dem Frommen im Spiegel der verfassungsrechtlichen und policeywissenschaftlichen
Anschauungen Veit Ludwig von Seckendorffs. Diss. jur. Bochum 1999
(Selbstverlag), Bochum 1999. 196 S.
Jens
Wilhelm Stahlschmidts Bochumer juristische Dissertation von 1999 ist über weite
Strecken eine detaillierte Exegese. Der Verfasser hat einerseits als
staatstheoretisches Werk Veit Ludwig von Seckendoffs „Teutschen Fürstenstaat“
(erste Auflage 1656) konsultiert, und er verfolgt andererseits die gothaische
Policeygesetzgebung unter Herzog Ernst dem Frommen vor allem in den fünfziger
und sechziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts. Beides gilt seit jeher in
der Forschung als typisch für die kleinstaatlichen Verhältnisse Deutschlands
nach dem Dreißigjährigen Krieg. Daraus ist eine in ihren Grundzügen solide
Arbeit entstanden, die gerade in ihrer Kombination von sinnvoll beschränkter
Fragestellung, Quellennähe im Detail und akademischer Qualifikationsarbeit
überzeugt.
Die
Gliederung des Buches orientiert sich über weite Strecken am Aufbau des
„Teutschen Fürstenstaats“: Wie Seckendorff selbst mit der Begründung der Landesherrschaft
ansetzt, dann in ihre Rechtsgrundlagen einführt und schließlich vor allem über
die Materien der „guten Policey“ im Einzelnen schreibt, so reproduziert auch
Stahlschmidt diese historische Ordnung der Materien in seiner Gliederung und
referiert dem Leser nacheinander die diversen, von ihm untersuchten Aspekte in
einem betont nüchternem Duktus. Erleichtert wird Stahlschmidts Zusammenschau
durch eine ganze Reihe von systematisierenden Einzelstudien, die sich der
Verwaltungslehre des siebzehnten Jahrhunderts als auch der Person Veit Ludwig
von Seckendorffs selbst widmen. Auf ihnen aufbauend erweist sich Stahlschmidts
Darstellung als handwerklich gelungen, auch wenn man sich bei der Policey die Berücksichtigung neuerer Forschungen gewünscht hätte. Denn die
politischen und rechtlichen Ordnungsvorstellungen, die sich historisch mit dem
Begriff verknüpft haben, sind gerade in den letzten Jahren verstärkt untersucht
worden. Hiervon hätte Stahlschmidt profitieren können und zugleich seinen Blick
für die Durchsicht der Archivalien und gedruckten Schriften zur Policey schärfen können. So aber bleiben manche Aussagen etwas allgemein
gehalten und lassen eine Einordnung der aus den Quellen gewonnenen Ergebnisse
in größere, aktuell diskutierte Zusammenhänge vermissen.
Stahlschmidts
zentrale Frage ist, in welchen Punkten die Gothaische Landesordnung (1653) und
der nur drei Jahre später erschienene „Teutsche Fürstenstaat“ inhaltlich übereinstimmen
und wo sie voneinander abweichen (S. 4, 53). Immerhin gehörte Seckendorff dem
Ratskollegium an, das zur Regierungszeit Ernsts die Landesordnung ausgearbeitet
hatte (S. 4); unmittelbare Zeugnisse über Seckendorffs Tätigkeit lassen sich in
den Archiven jedoch nicht finden. Die Beratungen und Vorarbeiten des Geheimen
Rats zum Erlaß der Landesordnung sind nur sehr fragmentarisch, die Protokolle
des Geheimen Rats wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem gothaischen
Archiv entfernt (S. 6). Daher muß Stahlschmidt eine vollinhaltliche Analyse
vornehmen, um sich seiner zentralen Frage annähern zu können.
Die
Landesordnung von 1656 kodifizierte neue Materien und ein neues Verständnis von
den Staatsaufgaben gegenüber der weimarischen Landesordnung von 1589, an der
man sich bis dahin orientiert hatte (S. 12). Einen mindestens ebenso
innovativen Schritt vollzog auch der „Fürstenstaat“ auf seine Weise, und er
wurde nicht von ungefähr das erfolgreichste Verwaltungslehrbuch der nächsten
hundert Jahre. Allerdings existieren nicht nur zwölf, wie Stahlschmidt schreibt
(S. 15), sondern mindestens vierzehn Auflagen. Auch hätte man sich ein
intensiveres Eingehen des Autors auf andere gedruckte Schriften Seckendorffs
vorstellen können. Ungedruckte Schriften sind leider ganz unberücksichtigt
geblieben. Die Briefsammlungen zum „Christenstaat“ (1685) etwa zu erschließen,
die im Altenburg-Thüringischen Hauptstaatsarchiv Weimar, Außenstelle Altenburg
liegen, wird einem künftigen Bearbeiter vorbehalten bleiben. Hier könnten
durchaus interessante Rückblicke des älteren Seckendorff auf sein Frühwerk zu vermuten
sein.
Stahlschmidt
wendet sich im dritten Hauptteil und Schwerpunkt seiner Arbeit den zentralen
Materien der „guten Policey“
zu: Kirchen- und Schulwesen, Gerichtswesen, Maßnahmen zur Peuplierung und vor
allem zur Ordnung der Wirtschaft (S. 66-177). Stahlschmidt hat dabei nicht nur
die Landesordnung konsultiert, sondern auch in den Thüringischen Archiven Gotha
und Altenburg nach weiteren Policeygesetzen gesucht. Insgesamt sind es ca. 150
gothaische Policeygesetze aus den Regierungsjahren Ernsts, die Stahlschmidt in
seine Untersuchung einbezieht (S. 6). Auf dem Feld der Medizinalpolicey
rekurriert er neben der Landesordnung auf fünf einzelne Ordnungen und Patente,
die sich auf Ärzte, Hebammen, Barbiere und Apotheker beziehen (S. 128), bei der
Regelung der Arbeitsordnung sind es sechs Ordnungen und Patente, die zwischen
1645 und 1656 das Recht der Tagelöhner und Dienstboten normieren (S. 152). Die
Inhalte der Gesetze wie auch der theoretischen Schriften werden ausgiebig
wiedergegeben, wobei die große Quellennähe Stahlschmidts den Nachteil hat, daß
der Verfasser bisweilen die Sprache der Quellen für seine eigene Darstellung
übernimmt.
Der
Vergleich mit Seckendorffs theoretischem Grundriß bringt im Ergebnis fast ausschließlich
Parallelen zutage: Ernestinische Gesetzgebungspraxis und Seckendorffs Gesetzgebungslehre
stimmen im Fürstenstaat Gotha fast nahtlos überein. Das Ordnungsprogramm des
„Fürstenstaats“ bildet sich in den Normen der gothaischen Praxis ab: Es gibt beispielsweise
große und für den Protestantismus charakteristische Bemühungen um ein konfessionialisiertes
Schulwesen und darüber hinaus auch um eine konfessionalisierte Bildung der
erwachsenen Untertanen (S. 77f). Zu diesem Zwecke entstehen glossierte
Bibelausgaben und religiöse Informationsschriften, deren Verbreitung von
Gesetzen flankiert wird, die die religiöse Unterweisung der Untertanen zum
Gegenstand haben. Auch an anderen Stellen, die die Prinzipien der Policey wie auch die konkreten
Regelungsgegenstände betreffen, dominieren die Gemeinsamkeiten. Was
Stahlschmidt an Differenzen zwischen Theorie und Praxis identifiziert (z. B.
die systematische Stellung der Rügegerichtsbarkeit im Zusammenspiel der
Herrschaftsrechte, S. 117-120), ist inhaltlich marginal und paßt am Ende auch
versammelt auf eine halbe Seite (S.178); zudem haben die Unterschiede keine
Konsequenzen.
Stahlschmidt
schießt im folgenden allerdings etwas über das Ziel hinaus, wenn er schreibt,
daß „Seckendorffs Fürstenstaat und die gothaische Landesordnung ein weitgehend
repräsentatives Bild über das zeitgenössische Verständnis von Policey und guter Ordnung“ wiedergeben würde (S. 179) oder wenn er
behauptet, die in seiner Untersuchung sichtbar gewordene protektionistische
Wirtschaftspolitik sei zeittypisch (S. 143). Denn er suggeriert, diese
fundamentalen Fragen selbst entscheiden zu können, was mitnichten der Fall ist:
Weder andere Territorien noch andere Theoretiker kommen nämlich in seiner
Untersuchung als Quellen vor. Die (inhaltlich zutreffende) Würdigung basiert
vielmehr auf früheren Forschungen. Auch Stahlschmidts wiederholter
Sprachgebrauch von der gothaischen „Staatspraxis“ (S. 178) bzw.
Regierungspraxis“ (S. 179, 180), die mit der Theorie im „Fürstenstaat“
übereinstimme, ist im Vergleich zum tatsächlichen Untersuchungsgegenstand etwas
überschießend. Denn Stahlschmidt hat nur die gothaische Normsetzung untersucht,
niemals aber ihren Vollzug oder faktische Wirkungen etc., die aber in der Rede
von der zeitgenössischen „Staatspraxis“ gewiß mitschwingen. Nicht überzeugend scheint schließlich der Umgang mit dem Begriff der
„Theokratie“ und seine Anwendung auf Seckendorffs Staatsvorstellungen (S. 66).
Hier wie auch bei der Darstellung des Verhältnisses von geistlicher und
weltlicher Ordnung (S. 73) hätte stärker differenziert werden müssen. Dies
sollen aber nur kleine Einschränkungen gegenüber einer ansonsten runden
Dissertation sein, die vor allem durch ihre detailgetreue Darstellung, ihre
Quellenarbeit und ihr planvolles Vorgehen überzeugt.
Frankfurt am Main Miloš Vec