TheisenMeder20010801 Nr. 1201 ZRG 119 (2001) 54

 

 

Meder, Stephan, Urteilen. Elemente von Kants reflektierender Urteilskraft in Savignys Lehre von der Entscheidungs- und Regelfindung (= Ius Commune Sonderheft 118 = Savignyana 4). Klostermann, Frankfurt am Main 1999. 287 S.

 

Vorzustellen ist eine bei Rückert entstandene Habilitationsschrift, die sich vor allem mit den Auffassungen Savignys zur Entscheidungsfindung befaßt. Der Verfasser stellt einerseits die philosophischen und historischen Grundlagen dar, die für Sayignys Überlegungen zum „Urteilen“ die Voraussetzungen bildeten, andererseits arbeitet er eine mögliche Weiterentwicklung und Modernität der Gedanken des Rechtswissenschaftlers heraus.

Meder teilt seine Arbeit in neun Kapitel ein, wobei er zu Beginn ausführlich die Vorstellungen des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Urteilsfindung in den Vordergrund stellt, um dann daraus Vergleichsmöglichkeiten zu den Gedanken Savignys ziehen zu können.

Zunächst zum Inhalt der Arbeit: Nach der Einführung behandelt der Autor das „Urteilen unter dem Gesetz“. Er geht davon aus, daß Savigny nur den Einzelfall betrachtete, bei dem ein Rückgriff auf eine allgemeine Norm nicht möglich ist. Nach Auffassung Meders unterscheidet sich diese Urteilsfindung stark von der Urteilsfindung, die auf der eines Gesetzes basiert. Ausgehend von der Fragestellung, ob Savignys „Konzeption der juristischen Entscheidungsfindung in unserer Zeit“ (6) noch aktuell ist, erläutert der Verfasser zu Beginn die Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Nach der Auffassung Meders gingen die Redaktoren bei der Abfassung des Bürgerlichen Gesetzbuchs davon aus, daß eine richterrechtliche Weiterbildung des Gesetzes nicht möglich sei. Diese Ansicht wurde jedoch schon kurze Zeit nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs durch die Rechtsprechung ad absurdum geführt. In diesem Zusammenhang hebt der Autor die Tatsache hervor, daß seit dem zweiten Weltkrieg[1] die Rechtsentwicklung durch Richterrecht und Kautelarjurisprudenz in besonderem Maße geprägt ist. Meder beschäftigt sich dann mit der Methodik Savignys. Der Autor interpretiert sie dahingehend, daß der Begründer der Historischen Rechtsschule nicht von einer umfassenden Gesetzgebung, also einer alles umfassenden Kodifikation ausgeht, sondern ein System der Vielfalt der Rechtsquellen propagiert. Um eine Auslegung und rechtliche Weiterentwicklung nicht als Willkür erscheinen zu lassen, bedarf es nach Savigny, so Meder, einer Begrenzung durch die Methodik. Anlehnung fand Savigny, was diese Vorgehensweise angeht, bei den Juristen des Römischen Reiches.

Im dritten Kapitel geht der Verfasser der Frage nach, wie es zu Savignys Konzept „einer logischen Struktur des Urteils“ (14) gekommen sei und wie Savigny sich deren Realisierung gedacht hat. Darunter sei, so der Autor, dann das Bemühen zu verstehen, das Recht im näher bezeichneten Einzelfall herauszuarbeiten. Im weiteren Zusammenhang sieht Meder nunmehr die Problematik dahingehend gegeben, daß Kant zu Recht - im Gegensatz zu der allein auf den Verstand bezogenen Urteilsfindung der Wolffschen Schule - neben der verstandesmäßigen Leistung auch „Talent und Witz“ für notwendig ansieht. Also Maßgaben, die außerhalb des verstandesmäßigen Handelns liegen (26).

In seinen weiteren Ausführungen erläutert der Verfasser Kants Ausführungen zur bestimmenden Urteilskraft. Er stellt vor allem Kants Weiterentwicklung zu seiner früheren Philosophie dar, die Meder der von Wolff gegenüberstellt: Während Wolff das Finden eines Urteils als eine formallogische Handlung ansah und aus dieser Vorstellung dann wie selbstverständlich die Gesetzgebung als Rechtsquelle im Vordergrund stehen sah, wertete Kant das Urteil als selbständiges Erkenntnis. Wolff sprach dem Richter die Auslegung des Gesetzes ab. Sie obliege nur dem Gesetzgeber, der seinen Willen durch das Gesetz bekannt gibt, was vor allem für Zweifelsfälle gelte. Ähnlich argumentierte auch Nettelbladt, der in seiner Theorie davon ausgehe, daß allgemeine Sätze von großer Bedeutung seien. Dabei möchte Meder eine extreme Differenz zwischen Theorie und Praxis feststellen. Im Gegensatz zu Wolff und Nettelbladt deautomatisiert Savigny die richterliche Entscheidungsfindung. Meder gibt in seiner Bewertung der Kritik Savignys an, daß das gesamte Werk Savignys von der Kritik an einer „fabrikmäßigen“ Findung von Urteilen durchdrungen sei (43). Savigny lege nämlich dar, daß die Rechtsfortbildung durch den Juristen nach einer streng wissenschaftlichen Methode überwiege. Nach seinen Darlegungen sei die Interpretation nicht die Sache des Gesetzgebers, sondern des Juristen und Richters. Damit wende sich Savigny gegen das Kommentierungsverbot im preußischen Allgemeinen Landrecht und dessen Versuch eine materielle Vollständigkeit anzustreben: Durch eine einfache Anwendung kann dann Recht gefunden werden.[2] So ist nach Meder das Allgemeine Landrecht einer der ausschlaggebenden Faktoren, aufgrund dessen Existenz Savigny sein Gegenmodell entwickelte. Savigny geht von der Frage aus, wie Lücken in den damaligen Gesetzbüchern ausgefüllt werden können. Als Vorbild nimmt er die römischen Juristen, die ähnlich wie er einen individuellen Ansatz vertreten. Daher ist nicht vom Allgemeinen, sondern vom Besonderen auszugehen, das als Ausgangspunkt für die Erkenntnis bewertet wird. Meder weist ausdrücklich darauf hin, daß Savigny schon 1799 unmittelbarer Erfahrung und Anschauung den Vorrang gegenüber einem Verfahren eingeräumt hat, das das Urteil aus gesetzten Normen ableitet[3]. In diesem Zusammenhang ist auf Savignys Heimat in der zu Hessen-Kassel gehörenden Grafschaft Hanau und auf sein Studium in Marburg hinzuweisen. Das hessische Territorium kannte nur eine Einzelfallgesetzgebung und eine Prozeßordnung. Kodifikationen gab es keine, so daß der Richter aus dem Besonderen heraus genötigt war, sein Urteil zu finden. Daher ist es verständlich, daß Savigny aus seiner persönlichen Erfahrung heraus zu der Feststellung kommt, eine Regel sei oftmals nicht dazu geeignet, den Einzelfall zu lösen: Entweder passe die Regel nicht mit dem Einzelfall zusammen, oder sie sei so allgemein, daß der Einzelfall verloren gehe (62). In seiner Folgerung geht Savigny von einem Mißlingen einer systematische Bearbeitung der Jurisprudenz aus.

Meder geht in seinen weiteren Ausführungen der rechtsphilosophischen Beeinflussung Savignys nach. In einer Auseinandersetzung mit Herberger (62f.) kommt der Autor zu dem Ergebnis, Savigny habe nicht unter dem Einfluß der Ideen Kants gestanden. Der Verfasser weist nach, daß Savigny bereits 1802 das Naturrecht Kants ablehnte. Im Gegensatz zu Kant vertritt er die Auffassung, es müsse eine strikte Trennung zwischen Recht und Gesetz geben, wobei eine engere Verzahnung zwischen Theorie und Praxis angestrebt wird, wie schon zuvor bei Leibniz und Möser. Während Leibniz sich darüber Gedanken macht, wie ein Jurist den Kreis des Rechts erweitern kann, schlägt Möser vor, planmäßig Rechtsfälle zu sammeln, um neue Pandekten anzulegen. Meder weist nach, daß Savigny Möser als sein Vorbild betrachtete (74). Jedoch geht Savigny weiter, da nur die Darstellung des Besonderen seiner Meinung nach nicht ausreiche, um ein Urteil zu finden. Nach Savigny kommt es nämlich darauf an, daß das Besondere mit dem Allgemeinen in Beziehung steht, da einer Ansammlung wirklicher Fälle der exemplarische Charakter fehle. Ausgangspunkt bleibe aber immer der Einzelfall. In diesem Zusammenhang wird zudem auf Lessings Lehre von der Fabel verwiesen, die ebenfalls neben dem Besonderen auch allgemeine Voraussetzungen habe.

In den nächsten beiden Kapitel möchte der Autor den Leser mit vorbereitenden Studien auf seine vergleichende Betrachtung von Kants Lehre vom reflektierenden Verhalten der Urteilskraft und Savignys Methode der juristischen Entscheidungsfindung einstimmen. Dabei erörtert Meder die Vorgehensweise Savignys und dessen Interesse bezüglich dem Verhältnis der historischen Betrachtungsweise und der Praxis. Ausgangspunkt ist auch dabei wiederum der Einzelfall. Nach Savignys Auffassung muß ein Urteil darüber gefällt werden, welche Teile der Vergangenheit noch brauchbar sind und Anwendung finden. Meder geht in seiner weiteren Darstellung auf verschiedene Entwürfe ein, in denen ein Schema entwickelt wird, worin die Antike modernen Werken gegenübergestellt wird.

Im vierten Kapitel zeigt Meder die aus der Lehre Kants hervorgegangene Definition auf, die das Urteil als ein Zusammenspiel zwischen Geschmack und Klugheit bezeichnet. Die Darlegungen Meders in diesem Kapitel sollen ein Versuch sein, den geistesgeschichtlichen Hintergrund zu skizzieren, vor dem Kant seine Theorie von der reflektierenden Urteilskraft entwickelt hat. Dabei weist Meder Parallelen zu Vico nach, der auf die römischen Juristen zurückgreift: Vor allem in der Bildung von Fiktionen sei der wahre Reichtum der römischen Jurisprudenz zu erkennen (113). Auf die Ausführungen Vicos hat Kant bei seinen Überlegungen zurückgegriffen (115ff.). Dabei geht es vor allem um die Vorstellung, daß die vernunftmäßige Erkenntnis nicht überschätzt werden darf. Der Autor weist nach, daß Kant damit die seit dem 16. Jahrhundert herrschende Anschauung, die ohne Hinterfragung die Antike als unübertreffliches Muster mit normativem Charakter ansieht, überwinden will. Dabei richtet sich Kant unter anderem nach der Lehre vom Geschmack des in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Leipzig wirkenden Literaturwissenschaftlers Gottsched. Auf Gottsched greift dann auch Savigny zurück, um die Trennung von Wissenschaft und Kunst hinsichtlich der Jurisprudenz zu beenden. Eine Trennung zwischen Wissenschaft und Kunst, die im Werk Savignys nach Meder bis 1814 festzustellen ist, entfällt nach diesem Zeitpunkt. So stellt Savigny bei den historischen Reflexionen immer die Bedeutung für die Gegenwart her. Daher sieht er gerade Kunst und Volk als historisch einmalig an.

Meder geht in seinem sechsten Kapitel der Frage nach dem „Urteilen ohne Gesetz“ nach. Die logische Struktur des Urteils sei zunächst in der Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem zu verstehen (132). In den folgenden Ausführungen zeigt Meder die Verbindungslinien von Savignys Lehre von der Urteilsfindung zu dessen romantischen Vorstellungen (142f.). Nach der Auffassung des Autors ist das besonders auf die Beschäftigung Savignys mit der christlichen Mystik zurückzuführen, wobei die kontemplative Erkenntnis im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang könnte vielleicht eine weitere Untersuchung zum Marburger Freundeskreis Savignys und die aus ihm folgende gegenseitige Beeinflussung weitere Aufschlüsse geben.

Während nach Kant die reflektierende Urteilskraft ein Bindeglied bei der Überwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis darstellt, ist Savignys Konzeption der Entscheidungsfindung nach Meder von einem Wissenschaftsideal geprägt, welches in enger Verbindung zur humanistischen Tradition steht (159). Dabei geht es darum, einen Ausgleich zwischen vernunftbetonter Entscheidung einerseits und dem subjektiven Empfinden andererseits beim Urteilen herzustellen (164).

Meder gelingt in seinen weiteren Darlegungen der Nachweis, daß Kant und Savigny sich in grundlegenden Ansichten unterschieden (192). Savignys Lehre von der juristischen Entscheidungsfindung ist gegenüber der Theorie Kants historisch konzipiert. Dabei bildet immer wieder die Frage nach der Maßgeblichkeit des antiken Denkens die Grundlage. Savigny geht es aber um die Rechtswissenschaft: Die Beschäftigung mit antiken Mustern soll zu eigenem, selbständigem Urteilen befähigen. So geht er davon aus, daß das antike römische Recht nicht nur durch natürliche, sondern auch durch künstliche und technische Elemente geprägt sei (216ff). Daher sollen nicht die Resultate der Römer als Vorbild genommen werden, sondern deren Methode.

Nach Meder zieht sich bei Savigny vor allem die „Idee des Lebendigen“ durch das Gesamtwerk. Nicht der Rückgriff auf die Antike steht im Vordergrund und das Zugänglichmachen der quellenmäßigen Grundlage, um mit deren Hilfe Rechtsfälle lösen zu können, sondern das Nutzen der Methode der Urteilsfindung im klassischen römischen Recht. Daher geht es Savigny nicht um die Rekonstruktion des römischen Rechts in seiner Ursprünglichkeit, sondern um das Nachvollziehen der Entscheidungsfindung.

Meder bietet einen Durchgang durch die philosophische Entwicklung Savignys und seiner individuellen Begriffsbildung. Dabei geht es Savigny vor allem um die Reform der Jurisprudenz als Wissenschaft, also deren zeitgemäße Anwendung - nicht nur für die Theorie - sondern ebenfalls für die Praxis. Zusammenfassend schließt Meder, daß nicht nur bestimmende, sondern auch reflektierende Urteilskraft von einem Juristen verlangt wird. Demzufolge bezeichnet er Savignys methodische Konzeption als „individuelle Begriffsbildung“. Daraus zieht Meder mit Blick auf Wieackers Darstellung die Schlußfolgerung, daß die Historische Rechtsschule kein Produkt der Romantik gewesen ist.

Abschließend betrachtet Meder Hannah Arendts Konzept der politischen Urteilskraft. Er zeigt auf, wie Arendt mit „Kant über Kant“ hinausgehen möchte, also nicht mehr nur moralische oder juristische Urteil zu betrachten gedenkt. Meder sieht die Ausführungen Arendts als aktuelle Variante einer Traditionslinie, in der auch Savigny einzugliedern ist. Die Konzeption der individuellen Begriffsbildung steht im Vordergrund. Als Merkmal dieses Denkschemas bezeichnet Meder den Ausgang vom Besonderen, zu dem die Regel erst gefunden werden muß.

Die Arbeit Meders ist aufgrund der in der Besprechung skizzierten Ergebnisse zu begrüßen. Hervorzuheben ist das benutzerfreundliche Personen- und Sachverzeichnis, die durch ihre Ausführlichkeit einen schnellen Zugriff gewähren. Alles in allem liegt ein kenntnisreiches, trotz der schwierigen Materie gut lesbares Buch vor, das die Bedeutung von „Urteilen“ sachgerecht hervorhebt und damit gleichfalls die Thesen Savignys bestätigt. Dem Autor gelingt es anschaulich die Vorstellungen Savignys zur Entscheidungsfindung und deren rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Grundlagen auszuführen. Bedeutend ist dabei vor allem die schlüssig dargelegte These, daß eine Abhängigkeit Savignys von Kant nicht besteht. Anhand der Darlegung der Konzeption Kants von der Urteilsfindung und der Gegenüberstellung der Savignyschen Vorstellungen und deren Entwicklung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert werden die fundamentalen Unterschiede ersichtlich. Die Untersuchung bringt in dieser Hinsicht neben der Aktualität der Reflektionen über das Urteil einen bedeutenden Fortschritt für die Rechtsgeschichte. Damit liegt ein weiterer Baustein zum Verständnis Savignys und seiner Rechtslehre vor.

 

Leipzig                                                                                               Frank Theisen



[1] Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die richterrechtlich entwickelten Institute der Sicherungsübereignung sowie der culpa in contrahendo (c.i.c.) und der positiven Vertragsverletzung (pVV), die schon zur Zeit der Entstehung des BGB und kurz nach Inkrafttreten durch das Reichsgericht rechtsschöpferisch herausgearbeitet worden sind und wohl durch die Schuldrechtsreform in das BGB integriert werden.

[2] Siehe nur die Ausführungen in einen Brief A. von Arnims an F. C. von Savigny, in dem er die Vorteile des ALR erläutert und gegenüber dem hessischen Rechtswesen die Klarheit der preußischen Kodifikation rühmt: „Nur dem Landrecht danken wirs, daß bey uns das Rechtswesen nicht mehr wie in Hessen von den Bauern für eine geheimnißvolle Geisterbeschwörung und Glücksspielerei gehalten wird, [...]“. Ediert von H. Härtl (Hrsg.), Arnims Briefe an Savigny 1803-1831, 1982, Nr. 90, S. 108, Wiepersdorf , 29. Oktober 1814. Von Arnim diskutiert in dem Brief zuvor Savignys Buch „Vom Beruf“, Heidelberg 1814.

[3] Hier hat Savigny wohl auf die Urteilspraxis seiner hessen-kasselischen Heimat zurückgegriffen, die sich nur in geringem Maße auf neuere Kodifikationen und Gesetze stützte. Vergleiche F. Theisen, Zwischen Machtspruch und Unabhängigkeit. Kurhessische Rechtsprechung von 1821-1848, 1997, 49ff.