Winkler,
Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte. Band
1 Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer
Republik. Band 2 Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur
Wiedervereinigung. Beck, München 2000. 625 S., 742 S.
Rechtsgeschichte
ist als Teildisziplin der Geschichtswissenschaften zur Fixierung ihres
Gegenstandes einerseits auf engen Kontakt zur allgemeinen Geschichte
angewiesen. Andererseits braucht sie Kriterien der Differenz, um ihre
spezifischen Fragen stellen zu können. Von diesen beiden Punkten ist der erste
der schwierigere; denn die sog. Fakten der Geschichte können nicht ohne
weiteres dem rechtshistorischen Problem „vorgeschaltet“ werden. Sie sind
ihrerseits Produkte der nacherzählenden, verdichtenden und akzentuierenden,
kurz „konstruierenden“ Geschichtswissenschaft. So ist jede Generation von
Rechtshistorikern aufgefordert, die eigenen Arbeiten mit denen der Historiker
zu verzahnen. Das bedeutet ständige Vorauswahl und Bewertung. Besonders wichtig
sind dabei die für ein größeres Publikum geschriebenen, meinungsbildenden
Deutungen, weil sie die Ansichten ganzer Schülergenerationen und eines
gebildeten Laienpublikums zu prägen vermögen. Man erinnere sich an die Werke
von Treitschke, Lamprecht, Meinecke, Schnabel und Ritter, oder in der Gegenwart
an Nipperdey oder Wehler mit ihren mehrbändigen
Gesamtdarstellungen, deren Langzeiteinfluß kaum
abzuschätzen ist.
Zu diesen
Werken mit Langzeitwirkung wird auch Heinrich August Winklers „Deutsche
Geschichte“ gehören. Sie reicht vom Ende des Alten Reiches bis zur
Wiedervereinigung. Auf insgesamt fast 1400 Seiten, aufgeteilt auf zwei Bände,
bietet sie einen höchst informativen und reflektierten Text. Die bisherigen
Arbeiten Winklers, speziell die große Monographie über die Weimarer Republik,
sind darin aufgegangen. Winkler will kein Nachschlagewerk, kein Handbuch, keine
Materialschlacht mit tausenden von Fußnoten liefern,
sondern einen problemorientierten Durchgang mit einer Leitfrage. Im gut
gewählten Titel „Der lange Weg nach Westen“ ist sie angedeutet. Es geht um das
„schwierige Vaterland“ in den letzten beiden Jahrhunderten. Winkler sieht drei
Ausgangspunkte, an denen es sich von anderen unterscheidet. Einmal sein
mittelalterliches und neuzeitliches Erbe, einst ein „Reich“ gewesen zu sein.
Dann die fundamentale Spaltung der Konfessionen im 16. Jahrhundert. Drittens
der macht- und geopolitische Dualismus zwischen Preußen und Österreich. Diese
Ausgangspunkte sind anders als anderswo, aber zuletzt führt der Weg zur
westlichen, säkularisierten, rechtsstaatlichen und demokratischen
Industriegesellschaft. Ob dieser Weg ein „Sonderweg“ war, ist Definitionssache.
Letztlich bleibt von der umstrittenen Sonderwegsthese nur die Beobachtung einer
„besonderen Langsamkeit“ oder einer „Verspätung“ auf jenem Weg übrig.
Die
Gewichtverteilung des Buchs ist bewußt ungleich angelegt. Was weiter
zurückliegt, erscheint kleiner und wird knapper berichtet. Die tausendjährige
Geschichte des „Reichs“ ist nur Vorspiel, um voraussetzen zu können, was 1806
zusammenbrach und wie es weiterwirkte. Das 19. Jahrhundert wird stärker
komprimiert als das 20. Jahrhundert. Innerhalb des letzteren nehmen die
Jahrzehnte der Bundesrepublik wachsenden Raum ein, je mehr man sich der
Gegenwart nähert. Allein die Wiedervereinigung erhält etwa 150 Seiten. Der
Autor legt damit offen, daß ihn, jenseits einer Attitüde scheinbarer
Objektivität, die Frage nach dem aktuellen Stand der Dinge umtreibt. Wie ist,
so fragt er, dieses „monströse“ Konglomerat von hunderten von Herrschaften
unter einem sakralen Reichsdach eine Nation geworden, wie hat sie ihren
Pluralismus von Obrigkeiten unter dem Souveränitätsbegriff des Bundesstaats
vereinigt, und wie gelang es, diesen schließlich in eine parlamentarische
Demokratie zu verwandeln? Wie versteht sich die nationale Demokratie heute im
europäischen Verbund? Was ist ihre „Normalität“, wenn dicht unter der
Oberfläche weiterhin die Gewohnheiten des Obrigkeitsstaats und vor allem die
Traumata der NS-Verbrechen liegen? Winkler schreibt als überzeugter Demokrat
und als Verteidiger der Werte des Grundgesetzes. Für ihn ist die (auch durch
produktive Aneignung der Geschichte zu gewinnende) nationale Identität
Voraussetzung für die Einbindung Deutschlands in Europa und in eine
globalisierte Welt.
Die
außerordentlich dichte und glänzend formulierte Problemgeschichte soll und kann
hier nicht wiedergegeben werden. Winkler verbindet fast unmerklich die
Ereignisse mit den Gedanken der Protagonisten, seien sie nun auch Handelnde
oder reine Analytiker. Der Text fließt scheinbar leicht dahin, allerdings in
unterschiedlicher Geschwindigkeit. Manchmal wird er gestaut, breitet sich mit
Zitaten und Details aus, dann eilt er wieder im Stakkato zum politischen
Geschehen. Innen- und außenpolitische Perspektiven schieben sich ineinander, so
daß oft erst dadurch klar wird, wie die Akteure sich im Parallelogramm der
Kräfte verhielten. Im Bestreben, den Kern des Buchs nicht aus den Augen zu verlieren,
also die Frage der Formung der Nation und der Transformation der
Verfassungsformen, liegen die Akzente auf der politischen Geschichte. Diese
wird weit verstanden, und sie umschließt insbesondere auch Mentalitäts-, Ideen-
und Geistesgeschichte. Ökonomische und sozialgeschichtliche Daten klingen an,
stehen aber nicht im Mittelpunkt.
Winkler
führt den Leser vom Zusammenbruch des Alten Reichs in die Verfassungsbewegung
des 19. Jahrhunderts, er erörtert die soziale Frage, die Revolution von
1848/49, den Aufstieg Bismarcks, den Prozeß der Reichsgründung samt seinen
außenpolitischen Implikationen, die Entstehung der Parteien, den Kulturkampf,
die politische Wende von 1878 und die wilhelminische Ära mit ihren bekannten
Stichworten nach außen (Kolonien, Flottenfrage, „Panthersprung nach Agadir“, Daily-Telegraph) und innen (Dreiklassenwahlrecht,
Revisionismusdebatte der SPD, Alldeutsche,
Bülow-Block, Tendenzen der Parlamentarisierung). Was den Kriegsausbruch angeht,
so verteilt Winkler die Verantwortung in überzeugender Weise. In Deutschland
und Österreich gab es zu viele „Falken“, und es gab zu viele andere, die sich
ein „Ende mit Schrecken“ herbeiredeten, ohne genau zu wissen, was sie taten.
Selbst die zaghafte und inkonsequente SPD gehörte zu den Mitverantwortlichen.
In der ausgewogenen Darstellung von Winkler erscheint die Schuldfrage im
wesentlichen ausdiskutiert.
Ebenso
dicht ist die Bilderfolge, mit der die „vorbelastete Republik“ von Weimar auf
170 Seiten am Leser vorüberzieht. Der schwierigen Geburt des neu verfassten
Staates folgen die Krisen (der Kapp-Lüttwitz-Putsch, die Ermordung von Rathenau
und Erzberger, die Besetzung des Rheinlands, die Turbulenzen in Thüringen und
Sachsen, der Hitler-Putsch in Bayern, die Inflation) und die Zäsuren, die durch
die Wahl Hindenburgs, durch den Tod Stresemanns und das Ende des
Parlamentarismus gesetzt wurden. Auch hier bestimmen im wesentlichen die
politischen Ereignisse den Duktus der Erzählung, während Blicke auf Alltags-,
Sozial- und Wirtschafts- oder auf Kulturgeschichte seltener sind. Das ist gut
legitimierbar durch die Vorgabe, lediglich eine „Problemgeschichte“ schreiben
zu wollen, entlastet aber nicht von der Entscheidung, um welche Probleme es
gehen solle. Daß letztere in der krisengeschüttelten Republik eher bei den
dramatischen Ereignissen und ihrer Wechselwirkung mit den gewachsenen
Mentalitäten gesehen werden, liegt nicht nur am Autor, sondern erweist sich aus
den meisten denkbaren Perspektiven als das dominante Motiv.
Der zweite
Band beginnt zunächst mit einer verdichteten Problemgeschichte des
Nationalsozialismus. Von der „Machtübergabe“ bis zur tiefen Zäsur der
Kapitulation von „Hitlerdeutschland“ enthält dieses Kapitel alle wesentlichen
Vorgänge, stets in der Beleuchtung der großen Politik und mit dem nicht zu
verdrängenden Hintergrundwissen des nahenden Untergangs: Ausschaltung der
Gegner, „Gleichschaltungen“ aller Art, Verdrängung, Entrechtung und schließlich
Ermordung der jüdischen Bevölkerung,
Aufrüstung und Expansion, bis hin zum Widerstand und den Deutungen des
singulären Geschehens aus der Perspektive distanzierter Beobachter (Meinecke,
Thomas Mann, Cassirer).
Dem
faktischen Untergang des Staates, dem eine rechtliche Fortbestandsthese trotzig
entgegengesetzt wurde, folgen die Westzonen und die Sowjetische Besatzungszone,
die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik, die feindlichen
Brüder in ihren schwierigen Abgrenzungen und Annäherungen. Wir erleben die
wechselseitigen Distanzierungen vom Erbe des Nationalsozialismus, die
Entstehung des Grundgesetzes und der ersten Verfassung der DDR, das
Wirtschaftswunder und das „kommunikative Beschweigen“ der Vergangenheit, die
Westbindung und die antikommunistische Aufladung des Europagedankens, die
Gründung von NATO und Warschauer Pakt, die Konsolidierung des
Wirtschaftswunders im Westen und das langsame Abflauen des Stalinismus im
Osten. Die Erschließung neuen Aktenmaterials und eine Fülle von Memoiren haben
diesen Stoff in den letzten Jahren angereichert und erlauben heute schon eine
durchgängig „historisierte“ Darstellung bis etwa in die Mitte der sechziger
Jahre.
Wer dann die Jahre ab 1960 bewußt miterlebt hat, wird die Kapitel über das langsame Ende der beiden Großen, Adenauer und de Gaulle, den Aufstieg Kennedys und Willy Brandts mit Spannung lesen und immer wieder produktive Reibungen zwischen der eigenen Erinnerung und dem Text des Historikers wahrnehmen. War Augstein nach der Spiegel-Affäre von 1962 wirklich ein Idol der jüngeren Generation? Wie bahnte sich die Große Koalition an, wie kam Lübkes zweite Amtszeit zustande, welche Stimmen meldeten sich zum Klimawandel zwischen den beiden deutschen Staaten, wie wirkten Notstandsdebatte und Vietnam-Krieg, wie begannen die Ostpolitik, die Studentenbewegung und der Abschied vom Lebensstil der fünfziger Jahre? Erinnert man sich noch an die intellektuellen Wirkungen von Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ und die „Die Unfähigkeit zu trauern“ der beiden Mitscherlich? In dieser Weise könnte man während der Kanzlerschaften von Brandt und Schmidt fortsetzen, könnte Stärken und Schwächen der Akteure nachdiskutieren, um sich dann wieder parallel die Entwicklungsschritte der DDR zu vergegenwärtigen. Nun wird das Buch immer detailfreudiger, die Menge der Notizzettel, der Akten und der Zeitungsausschnitte wächst und alles tritt noch einmal auf: Die Olympischen Spiele, der Wechsel von Brandt zu Schmidt und von diesem zu Kohl, die KSZE samt ihren Folgen im Ostblock, der mörderische und der hysterische „deutsche Herbst“ 1977, der NATO-Doppelbeschluß, das Debakel von F. J. Strauß in der Bundestagswahl 1980, die Entstehung der „Grünen“ und die Flick-Affäre, bei der die mit Schwarzgeld hantierende Politikergruppe zum ersten Mal von Gericht und Untersuchungsausschüssen ihre Vergeßlichkeit beschwor. Am Ende steht eine dann auf 150 Seiten die Wiedervereinigung, „Einheit in Freiheit“. Hier geht die Geschichtsschreibung notwendig in aktuelle Berichterstattung und Bewertung über. Für Winkler ist diese Republik im Westen angekommen. Sie ist der freiheitliche, demokratische Nationalstaat, von dem das 19. Jahrhundert nur träumen konnte, und den das frühe 20. Jahrhundert in weltgeschichtlich verhängnisvoller Weise verspielte. Für die neuere Rechts- und Verfassungsgeschichte einschließlich der Juristischen Zeitgeschichte wird dieses magistrale Werk künftig zu den „Grundlagen“ gehören.
Frankfurt
am Main Michael
Stolleis