SellertSchmoeckel20001002
Nr. 10088 ZRG 119 (2002) 37
Schmoeckel, Mathias, Humanität und Staatsraison. Die
Abschaffung der Folter in Europa und die Entwicklung des gemeinen Strafprozess-
und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter (= Norm und Struktur 14). Böhlau,
Köln 2000. XI, 896 S.
Auch wenn
die Abschaffung der Folter nur im Untertitel dieser Münchner
Habilitationsschrift erscheint, geht es doch zentral um dieses Thema. Da der
Verfasser offenbar Bedenken hatte, daß der Leser in seinem voluminösen Werk die
Orientierung verlieren könnte, hat er seiner Untersuchung sowohl eine knappe,
die Hauptkapitel enthaltende „Inhaltsübersicht“ als auch ein detailliertes
„Inhaltsverzeichnis“ vorangestellt. Viel lag ihm auch daran, den Leser vorab
mit dem Gegenstand seiner Untersuchung und der Art seiner „Vorgehensweise“
vertraut zu machen. Man wird daher nicht nur in einer längeren „Vorbemerkung“,
die eine „Einführung in das Thema“ enthält, sondern auch in einer weiteren noch
längeren „Einführung“ (S. 19‑92), die mit dem Abschnitt „Präzisierungen
der Fragestellung“ endet, auf die vom Verfasser angesteuerten zentralen
Probleme der Arbeit vorbereitet. In gleicher Weise hat der Verfasser die
Ergebnisse seiner Arbeit in zwei Hauptkapiteln formuliert, nämlich in dem
Kapitel „Ergebnisse und Ausblick“ sowie in dem weniger aussagekräftigen und zum
Teil leider nicht gut formulierten Kapitel „Zusammenfassung der Ergebnisse“.
Diese etwas umständliche Strukturierung des Textes, der im übrigen eine Fülle
von Aufbauerklärungen und Wiederholungen enthält und nicht immer unmittelbar
auf den Untersuchungsgegenstand zentriert ist, hat den großen Umfang der Arbeit
ohne Zweifel mitverursacht. Gleichwohl handelt es sich um eine nicht nur
lesenswerte, sondern auch gut lesbare und ganz überwiegend auf zeitgenössische
Primärquellen gestützte Habilitationsschrift, die zwar auf das Ganze gesehen
viel Bekanntes rekapituliert, in vielen Einzelfragen aber zu durchaus
beachtlichen und neuen Erkenntnissen kommt.
Aber worum
geht es? Es geht hauptsächlich um das Problem, welche Ursachen für Friedrich
den Großen maßgebend gewesen sind, mit seinem Regierungsantritt und der
Kabinettsordre vom 3. 6. 1740 die Folter wesentlich einzuschränken, d. h., sie
nur noch bei schwerwiegenden Delikten wie Majestätsverletzung, Hoch‑ und
Landesverrat sowie „grossen Mordthaten, wo viele Menschen ums Leben gebracht“
zuzulassen. Um diese immer wieder aus sehr verschiedenen Perspektiven
aufgeworfene Frage ranken sich die oft tief in die Rechts‑ und
Kulturgeschichte zurückgreifenden und zum Teil weit ausholenden Ausführungen.
Wie nicht anders zu erwarten, kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, daß die
Einschränkung und schließlich die Abschaffung der Folter ihre Wurzeln in den
unterschiedlichsten Strömungen der Aufklärung hatten. Dementsprechend ließ sich
auch Friedrich der Große 1740 von seinen aufklärerisch‑humanen Ideen
leiten, die zugleich Ausdruck eines „neuen Staatsverständnisses“ waren,
„welches das Glück der Untertanen stärker beachten wollte“. Die Abschaffung der
Folter wird also als eine Entwicklung im Spannungsfeld von Humanität und
Staatsraison diskutiert. Letztlich schließt sich Verfasser einer schon von E.
Schmidt geäußerten Ansicht an, wonach Friedrich der Große mit der
Abschaffung der Folter dem elementaren Schrei des aufgeklärten Menschen nach
Humanität Gehör verschafft habe. Außerdem wurde, so der Verfasser, das
Folterverbot des preußischen Königs „zum Modell für ganz Kontinentaleuropa“.
Braucht
man, so könnte man fragen, um zu diesem mehr oder weniger schon bekannten, hier
allerdings vereinfacht wiedergegebenen Ergebnis zu kommen, wirklich nahezu 600
Druckseiten mit mehreren hundert Fußnoten? Der Verfasser führt es uns vor,
indem er sich weder eng auf die Abschaffung der Folter noch auf die Epoche der
Aufklärung beschränkt, sondern zusätzlich, wie im Untertitel seiner
Habilitationsschrift angekündigt, „die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß-
und Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter“ untersucht. Denn das „Beweisrecht
könne nur im Zusammenhang mit dem es steuernden Verfahrensrecht betrachtet
werden“. Hier stutzt man allerdings, weil das Beweisrecht nicht, wie es die
Formulierung des Verfassers suggeriert, eine vom Strafprozeßrecht losgelöste
Einrichtung, sondern integraler Bestandteil dieses Verfahrensrechts ist. Wer
also das Beweisrecht ändert, ändert damit auch das Verfahrensrecht.
Demgegenüber braucht von einer Verfahrensänderung das Beweisrecht nicht
betroffen zu sein. Die etwas schiefe Betrachtung des Verhältnisses von Beweis
und Verfahren wirkt sich später, und darauf wird noch einzugehen sein, auf die
Diskussion der Probleme aus. Davon abgesehen will sich der Verfasser zu Recht
nicht auf eine dogmengeschichtliche Darstellung beschränken. Er möchte daher
seinen Untersuchungsgegenstand „nicht isoliert, sondern in seinen
wechselseitigen Bezügen der Gesamtheit der Sozialisations‑ und
Herrschaftsprozesse in einem bestimmten historisch‑soziologischen
Kontext“ behandeln. Zusätzlich sollen die Einflüsse religiöser,
wirtschaftlicher, philosophischer und „erkenntnistheoretischer Entwicklungen“
berücksichtigt werden. Auch sollen mentalgeschichtliche Gesichtpunkte eine
Rolle spielen. Denn insgesamt sei „Beweisgeschichte ... immer auch
Kulturgeschichte“. Um die Leistung Friedrichs des Großen wie überhaupt die
Abschaffung der Folter angemessen würdigen zu können, soll schließlich geklärt
werden, wann und aus welchen Gründen in anderen europäischen Staaten die Folter
verboten wurde.
Auf eine
Berücksichtigung der sich besonders in diesem anspruchsvollen und breiten
Untersuchsuchungsspektrum anbietenden juristischen Praxis verzichtet der
Verfasser allerdings weitgehend. Er will statt dessen „vorrangig das
europäische Schrifttum jener Zeit, also die theoretische Seite des Themas,
nicht aber umfangreiche unerschlossene Aktenbestände“ bearbeiten. Diese
Verkürzung sei jedenfalls insoweit gerechtfertigt, als das juristische
Schrifttum bis zum 18. Jahrhundert entgegen einer anderen Ansicht schon immer
auch die Praxis berücksichtigt habe.
Angesichts
des umfänglichen Werkes können in einer auf wenige Seiten beschränkten
Rezension nur einige bemerkenswerte Erkenntnisse und Ergebnisse der
Habilitationsschrift erörtert werden. In dem zweiten Hauptkapitel „Einführung“
wird gezeigt, daß Friedrich der Große vermutlich bereits als Kronprinz plante,
die Folter mit seinem Regierungsantritt einzuschränken, zumal schon sein Vater,
Friedrich Wilhelm I., die Folter in Hexenprozessen kritisiert hatte. Friedrich
selbst hielt die Folter „zum einen für ein grausames, zum anderen auch
zweifelhaftes Mittel, um die Wahrheit über Tatbeteiligung und Tathergang zu
ermitteln“. Daß er die Folter nicht völlig beseitigte, hing damit zusammen, daß
er einerseits nicht auf die generalpräventiven Wirkungen dieser Einrichtung
verzichten zu können glaubte und andererseits eine Gefährdung der Sicherheit
des Staates befürchtete. Insofern war die Kabinettsordre Friedrichs ein
gewagtes Experiment und wurde aus Sicherheitsgründen nicht publiziert. Erst
knapp zehn Jahre später, nachdem die befürchteten Folgen ausgeblieben waren, bekannte
sich Friedrich in seiner „Dissertation sur les raisons d’établir ou d'abroger
les loix“ offen zur Abschaffung der Folter. Die Strafrichter, soweit sie
weiterhin von der Notwendigkeit des Geständnisses überzeugt waren, wies er an,
dieses im Falle der Verweigerung einfach zu fingieren, wenn sich gegen einen
Inquisiten „so viele Umstände hervorthun, dass sie (die Richter) dadurch ihres
Verbrechens völlig überzeugt werden“. Damit konnte die vom Gesetz vorgesehene poena ordinaria und nicht nur die
mildere poena extraordinaria auch
ohne erfoltertes Geständnis verhängt werden.
Obwohl es
in Gesamteuropa (England, Aragon, Schweden, Glasgow, Genf oder Neapel), einen
wachsenden Widerstand gegen die Anwendung der Folter gab, konnten die
entsprechenden Entwicklungen ‑ beispielsweise wegen Systemverschiedenheit
des Prozeßrechts ‑ für Friedrich den Großen „keine richtigen Vorbilder“
sein. So fragt der Verfasser erneut nach den Motiven des preußischen Königs, um
allerdings unmittelbar darauf auf „das Anheben der Abschaffungsbewegung nach
1740“ zu sprechen zu kommen. Er nennt vor allem diejenigen Staaten, die wie
Dänemark, Braunschweig oder Kursachsen seit 1770 die Folter ganz abschafften
und erwähnt schließlich die französische Revolution von 1789, in deren Gefolge
viele andere europäische Staaten auf die Folter verzichteten.
Diese an
sich hoffnungsvolle Entwicklung wurde nun allerdings dadurch wieder getrübt,
daß gleichzeitig mit der Abschaffung der Folter die Lügen‑ und
Ungehorsamsstrafe eingeführt wurde, die, weil es für sie keine rechtlichen
Kautelen gab, einem Inquisiten oder Zeugen gefährlicher als die Folter werden
konnte.
Nun verläßt
der Verfasser recht unvermittelt zunächst einmal die bisher auf Preußen und
Friedrich den Großen konzentrierten Überlegungen und wendet sich in dem dritten
Großkapitel „Diskussionsstränge zur Abschaffung der Folter“ hauptsächlich der
wichtigen Frage zu, „woher die Idee stammt, die Folter abzulehnen“.
Zunächst einmal befaßt sich der Verfasser jedoch ganz allgemein mit dem Für und Wider gegen die Folter von der Antike bis „ins 18. Jahrhundert“. Hier werden viele interessante Argumente herausgearbeitet, darunter die einschlägigen Äußerungen bekannter Lehrer, Theologen, Juristen und Philosophen wie Cicero, Bischof Nicolaus I., Martin Luther, Jean Luis Vives, Friedrich von Spee, Michel de Montaigne, Johannes Grevius, Jacob Schaller, Augustin Nicolas, Martin Bernhardi (Pseudothomasius), Thomas Hobbes, John Locke und Pierre Bayle. Das alles geschieht, um zu klären, von welchen Autoren Friedrich der Große „in seiner Ablehnung der Folter beeinflußt gewesen sein könnte“. Der Verfasser kommt aber zu dem Ergebnis, daß Friedrich nicht durch die genannten Autoren, sondern durch anderes aufklärerisches Schrifttum beeinflußt worden ist. Allerdings sind es nicht, wie man bisher angenommen hatte, die leider erst später vom Verfasser als „Epigonen“ erörterten einschlägigen Auffassungen Voltaires, Montesquieus oder Beccarias, sondern es war vornehmlich der Einfluß des französischen Philosophen Pierre Bayles (1647‑1706), als dessen Schüler sich der König „en raison“ bezeichnete und der für ihn „hinsichtlich der staatsrechtlichen Konzeptionen sowie der Ablehnung der Folter eine wichtige Bezugsquelle war“.
Mit der
etwas konstruierten Überlegung, daß die „Umsetzung“ der „philosophischen
Position“ Friedrichs des Großen „in die juristische Praxis [...] möglicherweise
jedoch auch mit Veränderungen in Jurisprudenz und Justiz begründet“ werden
könne, leitet der Verfasser in das umfängliche Kapitel „Grundlagen des gemeinen
Beweisrechts“ über. Es soll nun hauptsächlich um die vorher schon mehrfach
angeschnittene und von J. Langbein bejahte Frage gehen, „ob ein Wandel
des Beweisrechts des Strafprozeßrechts die Aufhebung der Folter ermöglichte“.
Der Verfasser will deswegen nach einem „Überblick über charakteristische
Elemente des gemeinen Beweisrechts die einzelnen Beweismittel in ihrer
rechtlichen Bedeutung im Ius Commune“ untersuchen, weil es wichtig sei, zu
verstehen, „warum das gemeine Recht zum Mittel der Folter griff“. Mit diesem
Ansatz holt der Verfasser sehr weit aus und zentriert seine Überlegungen nicht
immer auf das Geständnis. Das hängt damit zusammen, daß sein auf Langbein
gestützter Ausgangspunkt für die beabsichtigte Diskussion ziemlich unscharf
ist. Denn, und das wird leider vom Verfasser gelegentlich nicht genügend
beachtet, das Beweismittel ist nicht die Folter, sondern das Geständnis. Wenn
also von einer Veränderung des Beweisrechts oder des Verfahrensrechts im
Zusammenhang mit der Abschaffung der Folter die Rede ist, so kann es prozessual
einzig und allein auf das Geständnis als integrierter Bestandteil des gemeinen
Strafprozesses ankommen. Die Bedeutung der Folter hängt also zunächst einmal
entscheidend damit zusammen, welchen Stellenwert das Geständnis im gemeinen
Strafprozeß hatte. War es unverzichtbar und wenn ja, warum? Welche anderen
Beweismöglichkeiten gab es, wenn das Geständnis nicht als conditio sine qua für eine Verurteilung gehalten wurde? Welche
prozessuale Bedeutung kam ferner einem freiwillig, d. h. ohne Folter abgegeben
Geständnis zu? Wurde beispielsweise das Geständnis für unverzichtbar gehalten,
weil es zugleich als „Beichte“ galt, so lagen die Gründe für eine Aufhebung
bzw. Beibehaltung der Folter vorwiegend im religiösen Bereich. Andere Ursachen
dürften eine Rolle gespielt haben, wenn das Geständnis lediglich dazu diente,
wie der Verfasser an anderer Stelle bemerkt, „den Verbrecher mit der
Gesellschaft zu versöhnen“. Und wieder andere Gründe mußten ausschlaggebend
sein, wenn es nicht allein um das Geständnis der Tat, sondern um die Ermittlung
von Mittätern oder die Aussage von Zeugen ging. Und schließlich mußte die Frage
eine Rolle spielen, was mit dem Geständnis bewiesen werden sollte. Solange man
das Geständnis für die regina probationum
hielt und sich keine Gedanken um den Kern der materiellen Wahrheit machte,
kam ein Verzicht kaum in Betracht. In diesem Zusammenhang spricht der Verfasser
allerdings gelegentlich unreflektiert teils von dem Beweis der Schuld, teils
aber auch von dem Beweis des strafrechtlichen Sachverhalts und bemerkt offenbar
nicht, daß zwischen dem einen und anderen juristische Welten liegen können.
Zudem wird zwar wiederholt der Beweis im Zivilprozeßrecht von demjenigen im
Strafprozeßrecht unterschieden. Daß aber der Beweis in den beiden Prozeßarten
ganz unterschiedliche Funktionen haben kann (Inquisitionsmaxime versus
Parteimaxime), wird im Zusammenhang mit der Frage nach der materiellen Wahrheit
nicht herausgearbeitet. So hätte man die Frage stellen sollen, weshalb es beispielsweise
im gemeinrechtlichen Zivilprozeß am Reichskammergericht und am Reichshofrat die
Einrichtung eines durch Folter erzielten Geständnisses nicht gegeben hat.
Im übrigen
erörtert der Verfasser zahlreiche der soeben angeschnittenen Fragen, allerdings
nicht immer zentriert auf das Hauptproblem der Abschaffung der Folter.
Dementsprechend geht er bei der Erörterung der Beweismittel mehr oder weniger
enumerativ vor und beschäftigt sich mit der „Perfektion des Geständnisses“, der
„Kategorie der „probationes plenae“,
den „probationes semiplenae et plenae“,
den „indicia“, den „praesumtiones“ und schließlich mit dem
„Reinigungseid“. Das war in dieser Breite nicht erforderlich, um die am Schluß
richtig gestellte Frage zu beantworten, „warum die Richter danach trachteten,
ein Geständnis zu erringen“, nämlich, weil sich der Inquisit mit dem Geständnis
selbst das Urteil sprach, weil durch ein Geständnis der Sachverhalt als
„notorisch bekannt“ galt, weil mit dem Geständnis alle Verfahrensfehler ‑
auch rückwirkend ‑ geheilt waren und folglich keine Appellation mehr in
Betracht kam, weil das Geständnis Beichte war und schließlich, weil es den
Verbrecher mit der Gesellschaft aussöhnte.
Obwohl
damit bereits genügend wichtige Gründe vorlagen, das Geständnis im Ernstfalle auch
mit der Folter zu erlangen, beschäftigt sich der Verfasser weiter mit der Frage
der „Notwendigkeit“ der Folter „im Rahmen des Beweisrechts“. Es folgen nun
Ausführungen zum Thema „Folter und Inquisitionsprozeß“, ferner zu den Fragen,
welche Sanktionen einem Richter drohten, wenn er sich nicht an das Beweisrecht
hielt (Syndikatsprozeß), welchen Ermessensspielraum der Richter im Beweisrecht
hatte, wie das Geständnis abzuleisten war und wie die Folter im einzelnen
angewendet wurde. In seinen weiteren Überlegungen zur „Freiheit des Richters im
Ius commune“ (arbitrium indicis, probatio
arbitraria) nennt der Verfasser sodann fast nebenbei den wichtigen Aspekt,
der sich als Ausgangspunkt der einschlägigen Untersuchung gut geeignet hätte,
daß nämlich der Richter, „der sich frei, das heißt auch auf Grund von Indizien
von der Schuld (sic!) des Angeklagten überzeugen kann“, keine „Folter mehr“
benötigt.
Aber wie stand es mit dieser Freiheit? Hier kommt der Verfasser einerseits zu dem Ergebnis, daß das ;,Ziel des gelehrten Richters ... die Erkenntnis des wahren Sachverhalts“ blieb und zwar unter Beachtung „fester Beweisregeln“. Andererseits hätten aber „die Kompetenzen des Richters doch wesentlich weiter“ gereicht und „ihn zum maßgeblichen Akteur des Verfahrens werden“ lassen, so daß von der „Einleitung des Verfahrens über die Beweiswürdigung bis zur Bestimmung der Strafe ... sein Ermessen maßgeblich“ blieb. Die Frage, weshalb er dann nicht auch auf Geständnis und Folter verzichten konnte, wird damit allerdings nicht beantwortet.
Im
folgenden beschäftigt sich die Arbeit erneut mit der Frage, welche
Möglichkeiten der Richter im „Fall des unzureichenden Beweises“ hatte. Nun geht
es in zwei langen und für sich gesehen durchaus wertvollen Kapiteln um die
„Entwicklung der Verdachtsstrafe“ sowie die vor allem auch im Zivilprozeßrecht
eine Rolle spielende „absolutio ab
instantia“. Man vermag allerdings a priori nicht einzusehen, welche
zentrale Bedeutung diese Einrichtungen für die Abschaffung der Folter gehabt
haben könnten, es sei denn, es ließe sich nachweisen, daß die Richter besonders
wegen dieser Möglichkeiten auf Geständnis und Folter verzichteten oder sogar
dazu nach dem Ins Commune angehalten wurden. Das aber ist ganz offensichtlich
nicht der Fall, so daß auch der Verfasser schließlich zu dem Ergebnis kommt, es
müsse „ausgeschlossen werden, daß die Entwicklung der Verdachtsstrafe die
Aufhebung der Folter beeinflußt habe könnte“. Nichts anderes mußte von vorn
herein für die „absolutio ab instantia“ gelten.
Zielgerichteter
sind demgegenüber wieder die Überlegungen im Kapitel „Entstehen
naturrechtlicher Grundsätze“, wo sehr gut gezeigt wird, wie die ursprünglich
mit dem Geständnis verbundene Vorstellung von der „Selbstanklage“ zweifelhaft
und schließlich als unzulässig angesehen wird. Im übrigen blieb aber, obwohl im
18. Jahrhundert das herkömmliche Beweisrecht durchaus kontrovers diskutiert
wurde und obwohl man in der Theorie die Abschaffung der Tortur, sei es, weil
sie „als grausam angesehen oder die Unverletztheit menschlichen Körpers als
hohes Gut“ bewertet, sei es, weil sie aus Gründen des Strafzweckes für
untauglich gehalten wurde, der überlieferte Inquisitionsprozeß in seinen
Grundfesten bestehen. Damit trat auch kein grundlegender Wandel in der
praktischen Anwendung und juristischen Bewertung von Folter und Geständnis ein.
Deswegen sei die These Langbeins unhaltbar, zwischen 1500 uns 1800 seien
im Strafprozeß „wichtige Änderungen“ eingetreten, die den „Verzicht auf die
Folter ermöglicht hätten“. Insgesamt habe in Europa „die Entwicklung des Rechts
nicht zum Verbot der Folter“ geführt. Es hätte sich „lediglich auf der Ebene
der allgemeinen Gefühle und der Mentalität [...] eine breite Front gegen die
Folter gebildet“. Noch nicht einmal Friedrich dem Großen hätte ein „neues
Prozeßrecht vor Augen geschwebt, als er die Folter 1740 im wesentlichen aufhob.
An diesen
Ergebnissen wird sichtbar, daß der Autor mit Langbein eine schiefe
Ausgangsfrage gestellt hat. Denn natürlich kann die „Entwicklung des Rechts“
nicht aus sich selbst heraus zum Verbot der Folter geführt haben, es sei denn
im Wege einer vom Verfasser nicht erwähnten richterlichen Rechtsfortbildung,
die allerdings ebenfalls Anstöße von Außen benötigt. Im übrigen sind es die
vielfach vom Verfasser geschilderten unterschiedlichsten Einflüsse, die den
Gesetzgeber zu einer Veränderung des Beweisrecht im Strafprozeß veranlaßt
haben. Das gilt in erster Linie für die Carolina, in der mit einer
fortschrittlichen Indizienlehre normativ das Beweisrecht insoweit wesentlich
verändert wurde, als nunmehr die Folter für ein Geständnis nur noch beim
Vorliegen bestimmter Indizien eingesetzt werden durfte (Art 6 CCC). Und es gilt
natürlich für die Kabinettsordre Friedrichs des Großen von 1740, die
schlagartig das Beweisrecht und damit auch den Inquisitionsprozeß in einem
entscheidenden Punkt veränderte.
Damit
bleibt natürlich die Frage bestehen, was den Gesetzgeber der Carolina und ‑
in vorliegendem Falle ‑ Friedrich den Großen motivierte, im Spannungsfeld
von Humanität und Staatsraison auf die Folter weitgehend zu verzichten. Diese
vom Verfasser schon mehrfach diskutierte Frage wird nun noch einmal im
drittletzten Kapitel der Arbeit „Über das Strafprozeßrecht hinausweisende
Faktoren“ aufgenommen. Dabei geht es aber nicht mehr um die bereits
festgestellten „unmittelbaren Ideengeber Friedrichs“, sondern ganz allgemein um
„historische Diskussionen.... die den Weg ... zur Abschaffung der Folter
säumten und Kraft zur Erneuerung spendeten“. Damit bringt der Verfasser in den
Abschnitten „Religiöse Toleranz des Staates“, „Wachsende Bedeutung der
körperlichen Integrität“, „Kontrolle der Judikative ohne Gewaltenteilung“ „Die
Frage nach der Wahrheit“, „Begründung der intime conviction“, „Der
calvinistische Monarch als Diener seines Staates“, „Pietismus und die
Wohlfahrtspflege“ und „Geheime Bedeutung der Freimaurer?“ die ganze Bandbreite
neuer Ideen des aufgeklärten Absolutismus zur Sprache, von denen mittelbar
teils deutliche, teils aber auch nur schwache Impulse zur Abschaffung der
Folter ausgegangen seien. So kommt er zu dem Ergebnis, daß im staatlichen
Bereich die „Entdeckung der Toleranz für Andersdenkende und der Verzicht auf
Gewalt zur Repression religiöser und gesellschaftlicher Devianz ... zur
Minderung der Aufgaben weltlicher Strafrechtspflege“ und damit zu einer
„Reduzierung der Einsatzmöglichkeit der Folter geführt“ habe. Auf
philosophischem Gebiet sei es vor allem die auf John Locke zurückgehende
Erkenntnis gewesen, „daß die Sicherheit eines Urteils nicht aufgrund äußerer
Anzeichen und Beweismittel zu gewinnen war, sondern letztlich auf der Abwägung
des menschlichen Verstandes beruhte“, die den Wert des Geständnisses in Frage
stellte. Weniger bedeutend seien die Einflüsse der „theologischen Lehren“
gewesen, obwohl auch hier, sei es vom Calvinismus, Pietismus oder der
Freimaurerei, Wirkungen für die Abschaffung der Folter „nicht ausgeschlossen
werden“ könnten.
Sieht man
einmal von den bisweilen etwas ungeschickten Strukturierungen der
Habilitationsschrift ab, so handelt es sich um ein überaus kenntnisreiches,
gründliches und gediegenes Werk. Über die engere Diskussion der Geständnis‑
und Folterproblematik hinaus ist diese Habilitationsschrift eine reichhaltige
Fundgrube und eine vorzügliche Grundlage zur weiteren Erschließung des
strafprozessualen Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter. Dies um so mehr, als
die einschlägigen Entwicklungen in England, Frankreich und anderen europäischen
Ländern einbezogen worden sind.
Göttingen Wolfgang
Sellert