Miersch, Matthias, Der sogenannte
refere legislatif. Eine Untersuchung zum Verhältnis Gesetzgeber, Gesetz und
Richteramt seit dem 18. Jahrhundert (= Fundamenta juridica 36). Nomos, Baden-Baden
2000. 323 S.
Die von Miersch
vorgelegte Dissertation behandelt den refere legislatif, die richterliche
Vorlage- und Anfragepflicht an den Gesetzgeber bei Auslegungszweifel, vom frühen 18. bis
in das 20. Jahrhundert. Dabei läßt sich der Verfasser von den Zusammenhängen
dieser besonderen Erscheinungsform der Kabinettsjustiz mit den
unterschiedlichen Konzeptionen von Souveränität, Staat, Recht, Gesetz und
Richtertum leiten. Die Unterordnung der Richter unter das Auslegungsmonopol des
Gesetzgebers ist abhängig von den staatsrechtlichen Überzeugungen zur
richterlichen Unabhängigkeit, zum Gesetzesbegriff als Machtbefehl oder
allgemeiner Regel eines souveränen Volksgesetzgebers, zum Konstitutionalismus
oder Parlamentarismus.
Nach bisherigem
Forschungsstand fehlte für die deutschen Territorialstaaten, abgesehen von
Österreich und Preußen, eine Untersuchung der Entwicklung des refere legislatif vor
dem Hintergrund der jeweiligen Verfassungssysteme im allgemeinen und der
Beziehung zwischen Justiz und Gesetzgeber im besonderen. Dieser anspruchsvollen
rechtshistorischen Forschungsaufgabe hat sich Miersch gestellt. In dem auf die
Einleitung folgenden zweiten Teil (25-114) wird die äußere Geschichte des
refere legislatif für Frankreich, Österreich, Preußen, Hessen-Kassel, Sachsen,
Braunschweig-Wolfenbüttel
und Kurhannover dargestellt. In einem dritten Teil (115-220) werden die
territorialstaatlichen Entwicklungen vor den verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Hintergründen verglichen. Der
vierte Teil (221-252) untersucht das Faktorenfeld des refere legislatif
zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung, Exekutive
und Gesetz für die konstitutionellen Verfassungen bis zur Paulskirchenverfassung,
für das sächsische Bürgerliche Gesetzbuch von 1865, für das Gerichts
verfassungsgesetz von 1877, für die Diskussionen im Rahmen des ersten Entwurfes
des BGB seit 1887, aber auch für die
Justizsituation während der NS-Zeit. Der fünfte Teil (253-294) analysiert die Wochenmeldungen in der ehemaligen DDR als
Form des refere legislatif im 20.
Jahrhundert. Ein Ausblick auf das heutige Verfassungssystem des Grundgesetzes
schließt die Arbeit ab (295-304).
Die
quellenreiche Analyse der äußeren Geschichte des refere legislatif für Frankreich,
Österreich, Preußen, Hessen-Kassel, Sachsen, Braunschweig-Wolfenbüttel und
Kurhannover überzeugt. Kleinere Mängel, wie die mangelnde Auswertung der französischen Standardwerke zur
französischen Rechtsgeschichte (z. B. OlivierMartin,
Fran~ois, Histoire du droit fran~ais des origines ä la Revolution, Paris 1948,
Neudruck Paris 1995; Viollet, Paul, Histoire des institutions politiques et
administratives de la France en 4 tomes, Nachdruck der Ausgabe Paris 1890-1912
Aalen 1966), fallen dabei kaum ins
Gewicht.
Der Vergleich der
territorialstaatlichen Entwicklungen vor den verfassungsrechtlichen und
-politischen Hintergründen stellt methodisch hohe Anforderungen, da die
vergleichende rechtshistorische Fragestellung mit einem doppelten
hermeneutischen Zirkel belastet ist. Zum einen steht die rechtshistorische
Forschung als eine sprachgeschichtliche, auf Quellenfunde gestützte Wissenschaft
vor dem Dilemma, daß die Quelle unabhängig von Nachgeschichte und Gegenwart
entstanden ist, ihre vergangene Begriffs- und Bedeutungswelt aber nur in der
gegenwärtigen rekonstruiert werden kann. Zum anderen sind Rechtsbegriffe wie Gesetz
oder Richter auch in zeitgleichen
Quellen nicht ohne weiteres austauschbar, da ihre besondere, der nationalen Rechtsentwicklung eigene Bedeutung erst
durch Auslegung zu ermitteln ist. Miersch
bewältigt diese methodische Herausforderung gekonnt, indem er als tertia comparationis die wichtigsten Faktoren für Entstehung und Aufhebung des refere legislatif herausarbeitet: Gesetz, Justiz und
Richtertum, Gewaltenverteilung zwischen Exekutive und Parlament bzw.
Ständevertretung. Überzeugend wird dargelegt, wie die Entscheidung in den
untersuchten Territorien für oder gegen einen refere legislatif vom
Gesetzesverständnis abhängt. Das Gesetz als Willensakt eines Monarchen begünstigt
die Ausprägung des refere legislatif, die Allgemeinheit des Gesetzes dagegen
schließt einen refere legislatif aus, der auf ein direktes Eingreifen des
Gesetzgebers im anhängigen Einzelfall
hinausläuft. Auch das Richterbild, d. h. das Vertrauen in die Richterschaft, ist ein geeigneter Indikator
für die Akzeptanz des refere legislatif.
Je tiefer das Mißtrauen gegenüber dem Richterstand, desto intensiver wird der refere legislatif befürwortet und desto
restriktiver ausgestaltet. Ebenso beeinflußt die Gewaltenverteilung zwischen Exekutive und Legislative die Ausprägung
des refere legislatif. Sind die
Machtverhältnisse im ständischen oder im konstitutionellen Dualismus geklärt,
ist der refere legislatif als Instrument zur Durchsetzung des landesherrlichen Absolutismus nicht gefragt.
Nicht gelungen dagegen erscheint die
Erklärung der Gründe für die Einführung des
refere legislatif anhand der Staatstheorien von Hobbes, Montesquieu und Rousseau
(153-158). Gerade in einer Untersuchung, die ihre Argumentation mit auf das Ansehen der Richterschaft stützt, dürfen Hobbes
und Locke nicht von ihrem common law-Hintergrund isoliert werden und ihre
politischen Theorien vom Machtkampf zwischen
common law-Richterschaft und Stuartmonarchie abstrahiert werden. Für Lockes
Unterscheidung der Legislative und Eõõxekutive ist nämlich der Widerstreit zwischen
common law und monarchischer Prärogative grundlegend, und das a priori besteheõnde übergesetzlichen Naturgesetz, das alle Staatsgewalt bindet, entspricht dem im common law verkörperten Primat des Rechts
(Locke, The second treatise of government, ed by P Laslett, 1963, Chap. XIV (Of
Prerogative), § 159, S. 392; § 168, S. 397 f.).
Zudem fehlt mangels Ausführungen zur
Rezeption der Staatsdenker die Verbindung zu den einzelstaatlichen Beratungen über
die Einführung des refere legislatif. Dies wäre angesichts der untersuchten
einzelstaatlichen Bestimmungen im 18. Jahrhundert um so dringlicher gewesen, da z. B. für
Locke bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine Rezeption feststellbar ist. So
taucht Lockes Treatise nicht in den einschlägigen juristischen Nachschlagewerken
des 18. Jahrhunderts auf: Weder Lipenius noch Struve erwähnen Locke in ihren
juristischen Bibliographien (B. Struve, Bibliotheca Iurs Selecta, 8. Aufl., 1756 ND 1970; M. Lipenius, Bibliotheca
Realis Juridica, Band 1 und II, 1757 Neudruck 1970). Nur Johann Friedrich
von Pfeiffer hat im fünften Band seines Nachschlagewerkes über zeitgenössische
Politik- und Staatswissenschaftler Lockes Treatise ausführlich besprochen (J.
F. von Pfeiffer, Berichtigungen berühmter
Staats-, Finanz-, Policei-, Cameral-, Commerz- und ökonomischer Schriften dieses Jahrhunderts, 1781-1784,
Bd. V). Auch in den Naturrechts-Lehrbüchern und
Naturrechts-Systemen des 18.
Jahrhunderts finden sich keine Spuren
von Lockes Second Treatise
: Christian Thomasius erwähnt die Lockesche
Abhandlung über die Regierung weder
in seinen Fundamenta Juris Naturae et Gentium (1705) noch in seiner Historia Juris
Naturalis (1719). Auch für
Christian Wolff läßt sich keine Locke-Rezeption nachweisen. Ebensowenig erwähnt Martinis Lehrbegriff des Naturrechts zum Gebrauch in den öffentlichen Vorlesungen in denk. u. k. Staaten (1799, Neudruck 1970) den Second Treatise.
Die Ausführungen zum 19. Jahrhundert überzeugen besonders durch den
Rückgriff auf Rückerts Modelle zur Verteilung der Rechtsfortbildungskompetenzen im 19. Jahrhundert
(Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, 63), die sich in den Gesetzesberatungen zum
Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuch und zum Bürgerlichen Gesetzbuch erkennen lassen. Die
Ergebnisse zur NS-Zeit belegen den Ausbau einer regimekonformen Rechtsprechung ohne
refere legislatif. Der Ausblick auf das heutige Verfassungsgefüge des
Grundgesetzes analysiert gekonnt das Spannungsverhältnis zwischen der demokratischen
Allzuständigkeit der Legislative und der jurisdiktionellen Kontrolle durch das
Bundesverfassungsgericht.
Das sorgfältig und klar verfaßte Buch gefällt durch Stringenz der
Gedankenführung. Die Argumentation beruht auf umfassenden Recherchen.
Insgesamt gelingt eine überzeugende Darstellung des Bezugs zwischen
richterlicher Gesetzesauslegung und staatsrechtlichen Fragestellungen des
18. bis in das 20. Jahrhundert.
Passau Ulrike Seif