Stöber, Rudolf, Deutsche
Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar (= Uni Papers 8). UVK Medien, Konstanz 2000. 370 S.
Die Bedeutung kontrafaktischer Argumente hat
durch die neuere Kulturgeschichte Auftrieb bekommen; die damit einhergehende
Verabschiedung linearer Geschichtserzählungen sensibilisierte für die Frage
nach der „Ungeschehene[n] Geschichte“.[1] Die
Erkenntnis der Unmöglichkeit, auf Rankes Frage „wie es eigentlich gewesen“[2] zu
antworten, hat das alte heuristische Instrument kontrafaktischer
Überlegungen zu neuem Leben erweckt. Rudolf Stöber
nutzt in seiner Einführung drei solcher Überlegungen als pädagogisches Mittel.
Was wäre passiert, fragt er, wenn der Buchdruck entweder später, nicht von
Gutenberg oder überhaupt nicht erfunden worden wäre?
Stöbers unkonventionelle Herangehensweise
zeigt sein pädagogisches Engagement. Seine Einführung ist aus einer Reihe von
Lehrveranstaltungen hervorgegangen und nun im Druck mit vielen nützlichen Hilfsmitteln
wie einem Sach- und Personenverzeichnis und einem umfangreichen Glossar
versehen. Diese pädagogische Ausrichtung verleiht Stöbers
Buch sein eigenes Recht zwischen den vielen Schriften zur Medien- und
Kommunikationsgeschichte, die die dichte Abfolge von
Gutenberg-Jahr und Jahrtausendwende hervorgebracht hat. Ebenso wie Jürgen Wilkes nahezu zeitgleich erschienene „Grundzüge der
Medien- und Kommunikationsgeschichte“[3] endet
Stöbers Buch mit dem Ende der Weimarer
Republik: mit dem Schriftleitergesetz von 1933. Erst in einem Ausblick wagt er
vorsichtige Blicke auf spätere Entwicklungen.
Stöbers Einführung nimmt regelmäßig Bezug auf die rechtlichen Bedingungen publizistischen Handelns: die territorialen Druckerprivilegien des Alten Reichs behandelt er ebenso wie die Zensurbestimmungen. Stöber zeichnet sodann die Entwicklung der Pressefreiheit[4] von den vormärzlichen Forderungen bis zu ihrer einfachgesetzlichen Inkorporierung in § 1 des Reichspressegesetzes von 1874 nach; einer Gewährleistung, die bereits vier Jahre später durch das Sozialistengesetz durchbrochen wurde. Auf die verfassungsrechtliche Absicherung der Meinungsäußerungsfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 118 Absatz 1 Satz 1 WRV) und das dortige Zensurverbot (Absatz 2 Satz 1 desselben Artikels) geht Stöber jedoch nicht ein, ebensowenig wie auf die Einschränkbarkeit dieses Artikels „zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen“ (Art. 118 Abs. 2 Satz 2 WRV). Er verbleibt auf der einfachgesetzlichen Ebene und beschreibt im Anschluß an die Einschränkungen der Pressefreiheit im Ersten Weltkrieg direkt die Auseinandersetzungen von 1923/24 um das – gescheiterte – Journalistengesetz, dessen maßgeblicher Inhalt (eine soziale Besserstellung der Journalisten) in den Reichstarifvertrag von 1926 Eingang fand [140f.]. Stöber verfolgt daraufhin die Bemühungen um die Änderung des – seit 1874 formell in Kraft gebliebenen - Reichspressegesetzes bis 1933. Das Republikschutzgesetz von 1930, das die Grundlage für Zensurmaßnahmen bildete, erwähnt Stöber nicht.
Stöber versucht, sich möglichst umfassend
seinem Thema zu nähern. Neben rechtlichen behandelt er auch ökonomische,
technikgeschichtliche, sozialgeschichtliche und parteiengeschichtliche Aspekte.
Einen eigenen Akzent setzt er auf die Beschreibung der Entwicklung von
einzelnen Zeitungsteilen (Politischer Teil, Wirtschaftsteil, Feuilleton,
Lokalberichterstattung, Sportteil). In der Komplexität der Herangehensweise
liegt zugleich der größte Vorzug der Darstellung wie ihr größter Nachteil: Alle Aspekte können allenfalls touchiert werden. Für
diese Knappheit entschädigt Stöber den Leser
jedoch mit umfangreichen Nachweisen.
In einem letzten Teil nimmt Stöber eine Zusammenfassung und Abstraktion des
Geschehenen vor. Unter der Überschrift „Presse und sozialer Wandel“ faßt er drei Entwicklungslinien noch einmal thesenhaft zusammen: „Gewohnheiten, Normen, Werte“,
„Medienstrukturen in Vergangenheit und Gegenwart“ und „Medienrecht in Vergangenheit
und Gegenwart“ In dem medienrechtlichen Abschnitt behandelt er idealtypisch die
presserechtlichen Systeme zwischen 1445 und 1945 und skizziert das System der
Bundesrepublik Deutschland. Da ihm zur Darstellung dieses Teils nur sechs
Seiten zur Verfügung stehen, muß die Analyse auf die
Konstatierung der auffälligsten Phänomene beschränkt bleiben.
Auch bei der Beantwortung der kontrafaktischen Fragen des Buchdruck bleibt die
Darstellung ein wenig holzschnittartig. Um die Bedeutung des Buchdrucks für die
Umwälzung des Informations- und Kommunikationssystems zu veranschaulichen,
hätte es sich angeboten, neben den technischen auch die kognitiven
Voraussetzungen für eine Akzeptanz der technischen Substitution des
Abschreibevorgangs[5] in Betracht zu ziehen. Die
Erfindung einer Handgießmaschine, die den Buchdruck mit beweglichen Lettern
ermöglichte, lag nach Stöber angesichts der
technischen Kenntnisse der Goldschmiede, teilweise auch Münzer, aus
Südwestdeutschland, Oberitalien oder Nordfrankreich „in der Luft“ [263]. Die
entscheidende kontrafaktische Frage stellt Stöber jedoch gerade nicht: hätte sich der Buchdruck
auch durchgesetzt, wenn er früher erfunden worden wäre? Diese Frage hätte
weitere Fragen nach sich gezogen: Wie vollzog sich die Kommunikation im Spätmittelalter
und der frühen Neuzeit; inwieweit wurden etwa standardisierte Texte benutzt?
Warum bedurfte es eines beweglichen Lettersatzes? Wie hoch war der
Alphabetisierungsgrad? Welche Verbreitungsnetze bestanden für die Diffusion der
neuen Technologie?[6] Um zu sehen, „welche
Küken“ aus den „ungelegten Eiern“ der kontrafaktischen
Fragen geschlüpft wären,[7]
hätten diese auch von der anderen Seite noch ein wenig bebrütet werden können.
[1] ) Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn..., 2. verb. Auflage, Göttingen 1986.
[2] ) Leopold [von] Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Erster Band, Leipzig / Berlin 1824, VI.
[3] ) Jürgen Wilke, Grundzüge der Kommunikations- und Mediengeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien, 2000.
[4] ) Hierzu auch: Rudolf Stöber, Pressefreiheit und Verbandsinteresse. Die Rechtspolitik des „Reichsverbands der Deutschen Presse“ und des „Vereins Deutscher Zeitungs-Verleger“ während der Weimarer Republik (= Abhandlungen und Materialien zur Publizistik, Band 14), Berlin 1992. Zur Presseentwicklung selbst: Stöber, Die erfolgverführte Nation. Deutschlands öffentliche Stimmungen 1866 bis 1945, Stuttgart 1998.
[5] ) Hierzu: Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt / Main 1991, insbesondere 124ff.
[6] ) Zur Beantwortung dieser Fragen: Giesecke, wie Anm. 5.
[7] ) Demandt, wie Anm. 1, 64.