¿Rechtsgeschichte(n)?
¿Histoire(s) du droit? ¿Storia/storie del diritto? ¿Legal Histori(es)?, hg. v.
Verein Junger RechtshistorikerInnen Zürich (Europäisches Forum Junger
Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker Zürich 28.-30. Mai 1999) (=
Rechtshistorische Reihe 220). Lang, Frankfurt am Main – Berlin – Bern – Brüssel
– New York – Oxford – Wien 2000. 392 S.
Nachdem
Hans Peter Haferkamp in
dieser Zeitschrift Bd. 114, S. 850-859 in seinem Kongreßbericht die auf dem
Forum 1999 in Zürich gehaltenen Vorträge inhaltlich bereits vor dem Druck
beschrieben hat, kann sich die Anzeige der Publikation auf einige übergreifende
Zusammenhänge beschränken. Der Band dokumentiert die internationale Aufgeschlossenheit
der heutigen Rechtsgeschichte in insgesamt 25 Beiträgen, von denen die meisten
erfrischend experimentell angelegt sind. Die Breite der angeschnittenen Themen
dürfte dem Fach auch im neuen Jahrhundert seine Lebendigkeit sichern und
garantieren. Auffallend ist zunächst die Vielfalt der biographischen Beiträge,
die von zwei Juristen des 15. Jahrhunderts (Otto Verwaart über den seinerzeit sehr erfolgreichen
Konsiliarjuristen Ludovicus Pontanus de Roma und Giacomo Pace über die Tätigkeit des späteren Hamburger Bürgermeisters Henricus
de Saxonia/Heinrich Burmeister als Rektor der Universität Padua 1463) bis zu
der ausgereiften umfangreichen Studie von Mathias Schmoeckel über
den nationalsozialistischen Ideologen Helmut Nicolai, der schon 1935 im Konkurrenzkampf
der Partei in Ungnade fiel, aber gleichwohl für die Herausbildung der in sich
uneinheitlichen nationalsozialistischen Ideologie (hier auf dem Gebiet des
Staats- und Verfassungsrechts) nicht ohne Interesse ist und bis zu der kürzeren
Studie über deutsche und österreichische Juristen jüdischer Herkunft in Genf
zwischen 1933 und 1945. Erwähnt seien weiterhin die Zeitschriftenanalysen, die
in letzter Zeit Gegenstand rechtshistorischer Forschung geworden sind, von Olga
Paz Torres über die juristischen Zeitschriften
Barcelonas aus der vorletzten Jahrhundertwende als Ausdruck der damaligen
Rechtskultur und von Lothar Becker über die Selbstangleichung der
deutschen Strafrechtswissenschaft im Frühjahr/Sommer 1933 im Spiegel ihrer
Zeitschrift des „Archivs des öffentlichen Rechts“. Dogmengeschichtliche Fragen
behandeln für das römische Recht Johannes Platschek unter dem das Interesse des Lesers erweckenden
Thema „Herrn Quietus Badereisen“, eine Exegese von D. 17.1.16 (zum
Auftragsrecht), Birgit Feldner
über die Eigentümlichkeiten der Behandlung der metus insbesondere im römischen
Zivilprozeß (Erpressung – eine Bagatelle?) sowie von Martin Immenhauser über die Rolle des
Verschuldensprinzips im Deliktsrecht des 19. Jahrhunderts („Culpa ist gar nicht
so allgemein eine causa obligationis“, nach einem Zitat aus Savigny, System des heutigen
Römischen Rechts, Bd. 3, S. 295). Der Verfasser weist im zweiten Teil seiner
Abhandlung für die Zeit der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs
nach, daß ein anderes allgemeines Haftungsprinzip als das Verschuldensprinzip
mit breiter Akzeptanz nicht zur Verfügung gestanden habe und auch am Ende des
19. Jahrhunderts nicht in Sicht gewesen sei. Der Verfasser hat mit seinem
Beitrag eine bereits vielfach behandelte Frage mit Recht erneut aufgegriffen.
Sie bedürfte jedoch auch unter Einbeziehung der Judikatur zur
Gefährdungshaftung (seit 1870 für die Eisenbahn, von 1900 bis 1908 für den
Tierhalter hinsichtlich der typischen Tiergefahr, vom Verfasser S. 300 nicht
deutlich herausgestellt, und für das Kraftfahrzeug seit Ende 1909) näherer
detaillierter Untersuchungen auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung für
das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert. Das Motto der Tagung
erläutert Martin Scherl,
der zwischen Geschichte(n) im Sinne einer narratio und Geschichte im Sinne des
modernen Wissenschaftsbegriffs des 18./19. Jahrhunderts, zu dessen wesentlicher
Ausprägung auch die Rechtsgeschichte, insbesondere die Historische Rechtsschule
des 19. Jahrhunderts gehörte. Die Isolierung, in welche die Rechtsgeschichte im
letzten Jahrhundert in vielen Bereichen geraten war, versucht die moderne
Rechtsgeschichte, auch soweit sie von Universitätsjuristen betrieben wird, wie
die Beiträge im Tagungsband zeigen, zu durchbrechen, indem sie zunehmend auch
die Fragestellungen der anderen historischen Forschungsdisziplinen z. B. der
Sozial-, Wirtschafts-, Politik- und Mentalitätsgeschichte und selbst, wie zwei
Tagungsbeiträge zeigen, auch der Literaturgeschichte aufgreift und
berücksichtigt. Andererseits sollte eine derart breit angelegte Rechtsgeschichte
darauf bedacht sein, daß sie dabei das rechtshistorische,
also das juristische Profil des Faches und damit seine Akzeptanz innerhalb der
rechtswissenschaftlichen Fakultäten nicht verliert. Auch unter diesem
Blickwinkel der Zukunft des Faches Rechtsgeschichte sind die Tagungsbeiträge,
die überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum kommen, aufschlußreich und
bedenkenswert.
Kiel Werner
Schubert