SchottSchriftkultur20010411
Nr. 756 ZRG 119 (2002) 23
Schriftkultur
und Reichsverwaltung unter den Karolingern. Referate des Kolloquiums der
Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 17./18. Februar 1994 in
Bonn, hg. v. Schieffer, Rudolf (= Abhandlungen der
Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften). Westdeutscher Verlag,
Opladen 1996. 196 S.
Die geradezu explosionshaft aufkommende Schriftlichkeit im Karolingerreich nimmt immer wieder und in den letzten Jahrzehnten vermehrt die Aufmerksamkeit der Mediävistik in Anspruch, und es werden unter den verschiedensten Aspekten stets neue Anläufe gemacht, um das Phänomen als Ganzes und in seinen Implikationen zu erfassen. Immerhin hat sich unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen der Bücherbestand der Bibliotheken verzehnfacht, vom sonstigen Schriftgut ganz zu schweigen. Dass die Rechtsgeschichte dabei zentral betroffen ist, bedarf keiner Ausführungen, da die große Masse der Rechtsquellen oder rechtsrelevanten Quellen vor der ersten Jahrtausendwende der karolingischen Produktion oder Reproduktion entstammt. Mit Gewinn greift man daher auch zum vorliegenden Band, in dem die Referate eines im Vorfeld der Edition der Urkunden Ludwigs des Frommen (814-840) veranstalteten, thematisch jedoch weiter gezogenen Rahmens zusammengefasst sind. Die einzelnen Beiträge befassen sich sowohl mit den bildungs- und schriftgerichtlichen Grundlagen wie auch mit verschiedenen Feldern zeitgenössischer Schriftlichkeit und schließlich mit speziellen Aspekten der Diplomatik.
David Ganz geht in seiner Untersuchung „Temptabat et scribere: Vom Schreiben in der Karolingerzeit“ der schriftlichen Produktion, der Schriftreform, der Schreiberkompetenz, der Schreiberleistung und der Funktion der Schriftlichkeit wie auch des Schreibens selbst nach. Um nicht schrifttechnischer Einseitigkeit zu verfallen, sollte die Schlussbemerkung des Verfassers nicht gering veranschlagt werden, dass Schreiben nämlich auch „meditatio des abgeschriebenen Textes“ war. Allerdings ist die im übrigen beeindruckende Bestandsaufnahme nicht durchweg fehlerfrei. So wenn der Verfasser meint, dass man im Jahre 793 in St. Gallen 23 folia in zwei Tagen abgeschrieben habe. In Wirklichkeit stammt die betreffende Handschrift – es handelt sich um den St. Galler Codex 731 – nach einhelliger Meinung gar nicht aus dem St. Galler Scriptorium, und den Angaben des Schreibers zufolge will dieser sogar 107 Seiten in zwei Tagen geschrieben haben. Soviel Fleiß hat schon immer das ungläubige Staunen der Fachwelt hervorgerufen, und Ganz selbst schätzt die tägliche Produktion eines Schreibers realistisch auf 7 Seiten.
Der Thematik „Kapitularien und Schriftlichkeit“, der sich Hubert Mordek zuwendet, liegt zunächst die kontrovers diskutierte Frage im Wege, ob die Rechtsgeltung der Kapitularien auf dem mündlichen oder dem schriftlichen Akt beruhe. Mit Mordek sind wir der Ansicht, dass es sich bei dieser Streitfrage um eine anachronistische und daher unfruchtbare Annäherung an die historischen Befunde handelt und dass hier eine pragmatischere Einschätzung dem Sachverhalt angemessener ist. Mordeks These, dass Schriftlichkeit in einem Großreich je länger desto mehr zum wesentlichen Merkmal von Gesetzgebung wird, darf man uneingeschränkt beipflichten, zumal das römische Vorbild eine solche Sichtweise geradezu aufdrängt. Mordek unterstreicht in Fortsetzung früherer Arbeiten diese Aussage durch Verwendung von bisher in diesem Zusammenhang unbeachteten Bildquellen. Schließlich widerspricht er – wiederum überzeugend – der Ansicht von Rosamund Mc Kitterick, dass von der kaiserlichen Kanzlei eine amtlich sanktionierte Kapitulariensammlung ausgegangen sei. In der Tat lässt allein schon die demonstrierte heterogene Beschaffenheit der Sammelhandschriften eine solche These als wenig einleuchtend erscheinen.
Mit „Administration und Schriftlichkeit im Dienste der Reform“ befasst sich Josef Semmler. Der Verfasser zeigt auf, wie sich die engagierten Bemühungen Ludwigs des Frommen um eine Reform des monastischen Lebens bei der Durchsetzung und Beweisführung auf Schriftlichkeit abstützen, und dies in einer Weise wie sie unter den Nachfolgern nicht mehr erreicht wurde.
Um „Schriftlichkeit in der Verwaltung von Bistümern und Klöstern“ geht es im Beitrag Martina Stratmanns. Trotz fragmentarischer Überlieferung gelangt die Verfasserin zu einer „vorsichtig-optimistischen Einschätzung der Schriftlichkeit“ im kirchlichen Verwaltungsbereich. Das ausgebreitete Spektrum der Textsorten, das von unspektakulärer Alltagskorrespondenz bis zu Traktaten über Hofämter reicht, dürfte diese Würdigung stützen.
In einer umfangreicheren Studie untersucht Mark Mersiowsky „Regierungspraxis und Schriftlichkeit im Karolingerreich“ und konzentriert sich dabei auf das „Fallbeispiel der Mandate und Briefe“, einer Textgattung mit ineinanderfließenden Übergängen. Dabei werden die Aktionsfelder Herrscher und Hof, Hof und regionale Ebene, Rückmeldungen der regionalen Instanzen und Schriftverkehr zwischen den regionalen Amtsträgern näher in das Blickfeld genommen. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass Briefe und Mandate zwar als gängige Instrumente der Regierungs- und Verwaltungspraxis galten, jedoch nicht ausschließlich. Vielmehr griffen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ineinander. Die karolingische Verwaltung war alles andere als ein verschriftetes System: Persönliche Kontakte, Gesandtschaften, Boten und Briefe waren die Mittel, mit denen regiert und verwaltet wurde.
Der letzte Beitrag Peter Johaneks steht im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Editionsvorhaben und behandelt „Herrscherdiplom und Empfängerkreis. Die Kanzlei Ludwigs des Frommen in der Schriftlichkeit der Karolingerzeit“. Fazit der Ausführungen ist die Feststellung, dass die Rolle der herrscherlichen Kanzlei und deren Aktivität unter Ludwig dem Frommen hoch einzuschätzen ist. Auffällig ist insbesondere die Zunahme der Urkundenfertigung für Laien. Damit erweist sich die kaiserliche Kanzlei, „und gerade sie“ als der Motor einer Zunahme der schon im Beitrag von Ganz beschriebenen Schriftlichkeit.
Zürich Clausdieter Schott