Schmidt-ReclaPriester20010917 Nr. 10073 ZRG 119 (2002) 88
Priester, Jens-Michael, Das
Ende des Züchtigungsrechts. Eine historische, dogmatische und straftheoretische
Untersuchung (= Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik 2). Nomos, Baden-Baden 1999. XX, 338 S.
Die Abhandlung ist ein Rückblick – so der Autor, denn das elterliche Züchtigungsrecht ist mit der Durchführung der 1997er Kindschaftsrechtsreform durch § 1631 Abs. 2 BGB i. d. F. des Kindschaftsrechtsreformgesetzes, das am 1. 7. 1998 in Kraft getreten ist (BGBl. 1997 I 2942) abgeschafft. Der dem hier zu besprechenden Werk zugrundeliegende Text des § 1631 Abs. 2 BGB lautete: „Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“ Mit der Schrift des Münsteraner Strafrechtstheoretikers Jens-Michael Priester wird demnach eine Debatte beendet, ein Streitobjekt beerdigt. Dass dies den Kern des Problems nicht trifft, wird dem aufmerksamen Leser spätestens im dritten Teil, im eigentlichen Schwerpunkt der vorliegenden Schrift deutlich. Zwei Grundthesen liegen dem Werk zugrunde, ausgesprochen werden sie in der Schlussbetrachtung: „Erstens sollte das Strafrecht so sparsam wie möglich eingesetzt werden, und Strafbarkeitsausdehnungen sollten tunlichst vermieden werden. Zweitens sollten Eltern ihre Kinder nicht schlagen (S. 315).“ Wer wollte dem nicht zustimmen?
Mit diesen Sätzen
ist der Bogen gespannt, in dem die straftheoretischen Erörterungen Priesters
ihren Platz finden. Das Problem, dem sich der Autor in großer Gründlichkeit
unterworfen hat, ist die Frage, ob und wie sich die Neukriminalisierung des
Schlagens von Kindern aus erzieherischen Gründen, die durch die Formulierung
von § 1631 Abs. 2 BGB durch die 1997er Reform eingetreten ist, legitimieren lässt.
Bis es soweit ist, stellt der Autor aber zunächst sozialwissenschaftliche
Erkenntnisse, den Gang der Gesetzgebung und die verschiedenen Streitstände in
Rechtsprechung und Literatur vor.
Vorweg ein Wort
für den Rechtshistoriker. Die Schrift ist eine rein dogmatische Abhandlung zum
zur Zeit ihrer Abfassung geltenden Strafrecht. Historische Darlegungen beschränken
sich auf die Darstellung der deutschen Gesetzgebungsgeschichte im 20.
Jahrhundert bis 1997 und auf die Erörterung der nach der 1997er Kindschaftsrechtsreform
so wohl nicht mehr vertretbaren Theorien in Rechtsprechung und
strafrechtsdogmatischer Literatur zum Züchtigungsrecht als strafrechtlichem
Rechtfertigungsgrund. Insofern wird sich bei wohlwollender Betrachtung sagen
lassen, dass es sich hierbei um allerneueste (innere) Rechtsgeschichte handelt,
die ihre Etikettierung als „Rechtsgeschichte“ dem Federstrich des Gesetzgebers
verdankt, der mit der 1997er Änderung des § 1631 Abs. 2 BGB Bibliotheken zum
Züchtigungsrecht makuliert hat.
Einer gewissen
Komik/Tragik entbehrt es freilich nicht, dass der Gesetzgeber – seit 1998 nicht
gerade faul – mit einem weiteren Federstrich auch die gesamte Schrift Priesters
ihrerseits sicherlich ungewollt zur Rechtsgeschichte befördert hat: Am 3. 11.
2000 ist durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Familie (BGBl. 2000 I
1479) eine erneute Neufassung des § 1631 Abs 2 BGB in
Kraft getreten. Der Text, der durch das Gesetz mit dem martialischen Namen
neugefasst wurde, geht abermals einen Schritt weiter als noch die Darstellung
Priesters: „Kinder haben einen Anspruch auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche
Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind
unzulässig.“
Dem ersten Teil
(„Grundlagen“) ist trotz aller Bemühungen Priesters anzumerken, dass sich der
Jurist hier auf fremdem Gebiet bewegt. Dieser Abschnitt der Abhandlung enthält
im wesentlichen sozialwissenschaftliches Material darüber, ob und wie sich
Züchtigungsstrafen als erzieherisch notwendig begründen lassen und wie sie sich
auswirken. So interessant und eingängig auch weite Passagen dieses Abschnittes
sind, deutlich wird doch, dass der Anspruch, die einschlägigen pädagogischen
und psychologischen Erkenntnisse auszubreiten, nur teilweise eingelöst wird.
Die verwendete Literatur ist mitunter angejahrt, ein
starker Fokus liegt auf angloamerikanischen Erklärungsmodellen. Hinzu kommt,
dass empirische Untersuchungen dazu, ob sich die erzieherische Körperstrafe
begründen lässt und ob sie verhaltenssteuernd wirken kann oder nicht, nicht
vorliegen (vgl. S. 32f.) und sich wohl auch nicht durchführen lassen.
Andererseits ist
der Autor hier stellenweise sehr plastisch, vor allem dann, wenn er psychologische
Termini in umgangssprachliche Wendungen übersetzt. Anhand von neueren Untersuchungen
zu den Auswirkungen körperlicher Züchtigung auf das Kind einerseits und den züchtigenden
Erzieher andererseits hält Priester dann fest, dass das Züchtigungsrecht mit
erzieherischen Notwendigkeiten weder je begründet werden konnte noch auch könne
(S. 43) und dass in Familien, in denen Züchtigungen zum gängigen Erziehungsstil
gehören, auch gehäuft Misshandlungen vorkämen (S. 50). Viel später im Text
meint er dann auch – leider ohne entsprechenden Nachweis – das Züchtigungsrecht
sei die (Mit-)Ursache des sozialen Problems Kindesmisshandlung (S. 289).
Der zweite Teil
(„Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts“) beginnt mit einer grob
gezeichneten Darstellung der Gesetzgebungsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert
bis 1979 und geht dann breiter auf Rechtsprechung und Lehre zum elterlichen
Züchtigungsrecht ein. Als Einstieg dient dabei folgende Definition: Das
elterliche Züchtigungsrecht sei die Befugnis der Sorgerechtsinhaber, einem
Kinde oder Jugendlichen aus Anlass eines vorwerfbaren Fehlverhaltens durch angemessenes
Schlagen die für einen Lernprozess erforderlichen Schmerzen zuzufügen mit dem
Ziel, das Kind von weiterem Fehlverhalten abzuhalten (S. 64). Mit diesem
Ausgangspunkt ist die folgende Darstellung einjustiert: Priester schildert
nicht allein die unterschiedlichen Ebenen der Debatte. Vielmehr werden
Meinungen und Argumente, die sich für das Züchtigungsrecht ausgesprochen
haben, stets und immer wieder kritisiert, kaum dass sie vorgestellt wurden. Der
Rezensent will hierbei nicht missverstanden werden: er teilt die Meinung des
Autors. Allerdings hätte es der Darstellung sicher gut getan, wenn sie mit
etwas weniger Eifer vorgenommen worden wäre. Der Autor vermisst zu Recht bei
Rechtsprechung und Lehre dogmatische Präzisierungen der Kriterien von Angemessenheit
und Erforderlichkeit der Züchtigungshandlung, er konstatiert, dass eine
inhaltliche Auffüllung des Ausschlußkriteriums
„erziehungsschädliche Einwirkungen“ immer gefehlt habe und zeigt auf, wie
brüchig das subjektive Rechtfertigungselement des „Erziehungswillens“ aus
psychologischer Sicht bei körperlichen Züchtigungen war und ist: „mangelnde
Selbstbeherrschung kann sich nicht kühl pädagogisch maskieren“ (S. 72).
Anschließend wird
die Reformdiskussion thematisiert und der Leser fragt sich, ob es nicht
gefälliger gewesen wäre, diese Materie bereits anschließend an die
Gesetzgebungsgeschichte bis 1979 darzustellen. Breiteren Raum widmet der Autor
hier dem Problem, ob das durch viele, auch politische Lager hindurch gewünschte
Misshandlungsverbot nicht zwangsläufig das Eltern-Kind-Verhältnis pönalisiere und stellt die z. T. originellen
Lösungsversuche dar. Dabei registriert der Autor ein in der Tat bezeichnendes
Umschwenken der Argumentationslinien – es wurde nämlich nicht mehr für die
Züchtigung argumentiert, sondern nur noch gegen ihre Bestrafung (S. 81).
Schließlich blieb es bis zum Schluss des Gesetzgebungsverfahrens immer dabei,
dass durch die Änderung von § 1631 Abs. 2 BGB strafrechtliche Konsequenzen
nicht eintreten sollten, eine Tatsache, die der Autor ausgehend von der
strafrechtlichen Einordnung des Züchtigungsrechts als Rechtfertigungsgrund
zutreffend eine protestatio facto contraria nennt. Misshandlungen sind, so wird auf S.
103 resümiert, zivilrechtlich unzulässig. Damit lebe automatisch die Strafbarkeit
auf, die bisher mit dem Hinweis auf das Züchtigungsrecht als zivilrechtlicher
Rechtfertigungsgrund abgelehnt wurde.
Zum 1999 noch
künftigen Recht, das mittlerweile wie angesprochen Wirklichkeit geworden ist,
findet sich bei Priester kein Anhaltspunkt, obwohl bei Einrechnung einer
gewissen Vorlaufzeit für das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung ein
kurzer Hinweis eventuell hätte erwartet werden können. Der Spielraum zum
interpretatorischen Strafbarkeitsausschluss ist damit noch bedeutend enger
geworden: Nachdem das Kindschaftsrechtsreformgesetz den Rechtfertigungsgrund
des elterlichen Züchtigungsrechts beseitigt hat, hat das Gesetz zur Ächtung der
Gewalt in der Erziehung auch der Tatbestandslösung den Todesstoß versetzt.[1] Nun
steht jedenfalls nicht mehr zu befürchten, dass die Rechtsprechung den von
Priester (S. 115ff.) noch aufgezeigten
Interpretationsspielraum beim Misshandlungsbegriff in § 223 StGB nutzen wird,
um gegenzusteuern. Die dogmatischen Verrenkungen, die jetzt nötig sind, um z.
B. bei dem Befehl „Schularbeiten vor Spielen“ die Strafbarkeit aus § 239 StGB
zu umgehen, darzustellen, ist hier nicht der Ort. Erwähnt sei lediglich, dass
der Aktionismus des Gesetzgebers gegen die erzieherisch motivierte Prügelei
jedoch zu echten juristischen Preziosen geführt hat, so zur Novität der
„strafrechtlich tolerierten Schlägerei“.[2]
Ungeachtet dieser
erneuten Änderung der Rechtslage behalten die folgenden Überlegungen des Autors
ihre Gültigkeit, weil sie auf einer viel höheren Abstraktionsstufe angesiedelt
sind und nicht die Frage betreffen, ob nach Abschaffung der
Rechtfertigungslösung noch die Tatbestandslösung versucht werden kann. Im
dritten Teil („Abschaffung des Züchtigungsrechts und Straftheorie“, S. 141-308)
widmet sich der Autor dem oben bereits angesprochenen Problem der
Legitimierbarkeit von Neukriminalisierungen. Umfassende straftheoretische Erörterungen,
die Priester innerhalb der gängigen Kategorien (nichtpräventive und präventive
Straftheorien, die je wieder in teleologische und deontologische
Theorien unterteilt werden können) anstellt, bilden die Basis des
Lösungsversuches. Dies ist, wir wollen es nicht verschweigen, auch in Priesters
Darstellung hartes, sehr hartes Brot. Dankbar registriert man eingängige
Merkposten, so wie die berühmte Naucke-Formel
von der „ölfleckartigen Ausbreitung von Strafnormen“, die den
Freiheitsspielraum des einzelnen immer weiter einenge und so zu einer
systemgefährdenden Überkriminalisierung führe (S. 209). Doch der Reihe nach.
Zur Legitimierung
der Abschaffung des Züchtigungsrechts ungeeignet ist nach Priester heute
jedenfalls die reine (nichtpräventiv-deontologische)
Vergeltungstheorie. Insofern bezieht der Autor entgegen der modernen
neoklassischen Abkehr von präventiv-teleologischen Straftheorien (als
Schlagwort mag das Losungswort „Zurück“ oder „Vorwärts zu Kant!“ dienen) eindeutig
und ablehnend Stellung: „Die reine Vergeltungstheorie, die durch den Zwang
gekennzeichnet ist, eine unrechts- oder schuldangemessene Strafe ohne Rücksicht
auf irgendwelche Folgen zu verhängen, ist nicht legitimierbar (S. 167).“
Immerhin: zwei wesentliche Appelle der kantischen Strafanlass- und
Strafzumessungstheorie will der Autor als Merkposten für eine moderne,
freiheitliche Straftheorie angeschrieben sehen: die Theorie Kants könne als
Appell erstens zur Konzentration auf einen Kernbereich strafwürdigen Verhaltens
und zweitens für den Vorrang der Tatbestandseinschränkung vor der
Rechtsfolgenaufweichung dienen (S. 238).
Im Ansatz
positiver bewertet werden demgegenüber die präventiven Theorien, die heute mehr
und mehr angefochten werden. Dem Vorwurf, das Präventionsdenken neige im
Einsatz der Mittel dazu, uferlos zu werden, wird mit dem Hinweis darauf
entgegengetreten, dass das rechtsstaatliche ultima-ratio-Prinzip
sich aus jeder utilitaristischen (also teleologischen) Theorie zwanglos
ableiten lasse, nicht jedoch aus dem Vergeltungs- (also deontologischen)
Prinzip (S. 180). Freilich macht der Autor bei den präventiven Theorien eine
wichtige Einschränkung: Roxins Thesen
zur positiven Generalprävention werden eindeutig abgelehnt (z. B. S. 186). Der
gängigen Kritik am Präventionsgedanken, insbesondere dem spezialpräventiven Programm,
die sich mit der bereits erwähnten Formel von Naucke
auf einen griffigen Nenner bringen lässt, kann und will sich Priester jedoch
nicht verschließen. Dabei hat er die ausdrückliche Zustimmung des Rezensenten,
wenn er konstatiert, dass die „geringen praktischen Erfolge“ (so sie denn
überhaupt quantifizierbar sind) weniger mit einer theoretischen Schwäche des
Grundmodells als mit der Halbherzigkeit seiner Durchführung erklärbar seien.
Wer in den berühmten Ruf „nothing works“
einstimmen will, der sollte zuvor sicher sein, wirklich alles versucht zu
haben.[3] Es
verdient Würdigung, wenn Priester insistiert, dass der unkontrollierte Umgang
mit dem Präventionsgedanken („Tendenz zur unbegrenzten Prävention“ zu Lasten
der Rechtsstaatlichkeit[4])
nicht dadurch bekämpft werden sollte, dass jedes Präventionsdenken überhaupt
aus dem Strafrecht verbannt werde, sondern dadurch, dass Prinzipien der Strafgesetzgebung
formuliert würden, die den legitimen Kern der Prävention scharf umrissen.[5] Weiteren
schwerwiegenden dogmatischen Einwänden gegen die präventiven Theorien („Tendenz
zum strafpolitischen Pragmatismus“, „Tendenz zur Privatisierung staatlicher
Strafmacht“, „Aufgabe des Legalitätsprinzips“, „Tendenz zum plea
bargaining“) hält Priester entgegen, dass diese
Tendenzen auch schon aus der Perspektive eines der Freiheit und der Menschenwürde
verpflichteten, schuldorientierten Präventionsstrafrechts selbst kritikwürdig
seien, ebenso sehr aber andererseits auch die Flucht in die Scheinaktivität des
nur noch symbolischen Strafrechts, die mit dem kantischen Vergeltungsstrafrecht
auch deshalb so gut harmoniere, weil bei ihm der symbolische Unrechtsausgleich
im Zentrum stehe (S. 217). Ob diese letzte Äußerung der Gegenposition gerecht
wird, steht dahin.
Schließlich
zeichnet der Autor dann auf S. 229f. das obligatorische düstere Bild des Scheiterns
aller wesentlichen Straftheorien, nicht ohne ihm schließlich nach einer
Überprüfung der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und
Bundesverfassungsgericht zur Straftheorie und nach der Auswertung von Joel
Feinbergs „The moral
limits of the criminal law“, Oxford 1984, eine eigene, liberale Strafanlasstheorie
entgegenzustellen, die durch folgende acht Grundsätze (S. 252f.) gekennzeichnet
ist:
1. Strafrecht dürfe nur solche Verhaltensweisen unter Strafe
stellen, die den Kernbereich der menschlichen Freiheit und Integrität
verletzen. Es dürfe nicht in den Gewissensbereich hineinregieren.
2. Bei der Gesamtabwägung zwischen der Schutzbedürftigkeit der
Rechtsposition und der Schwere des Eingriffs durch die Strafdrohung müsse
sichergestellt sein, dass der Zuwachs an Rechtsgüterschutz die Beeinträchtigung
der Grundrechte des Normadressaten deutlich überwiege.
3. Es müsse eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass durch die Kriminalisierung eine Verhaltensänderung bzw. Verhaltensstabilisierung auch erreicht werde.
4. Es dürften keine weniger einschneidenden, aber gleichwirksamen
Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung gegeben sein. Strafe dürfe kein
Ersatz für Finanz- oder Sozialpolitik sein.
5. Die Nebenfolgen einer Kriminalisierung müssten immer mit in die
Gesamtabwägung einbezogen werden.
6. Alle Entkriminalisierungsversuche müssten zu etwas Besserem als
Strafrecht führen.
7. Tatbestandsausschluss bzw. -einschränkung sei im Zweifel immer
der nachträglichen Korrektur durch Strafzumessungsregeln oder durch Diversion
vorzuziehen.
8. Bei gleichwirksamen Strafen sei die mildere Strafe, bei
unterschiedlichen Strafarten die mildere Strafart vorzuziehen.
Jeder dieser acht
Grundsätze lässt sich auf mindestens eine der vorher erörterten und wegen ihrer
sonstigen Schwächen abgelehnten Theorien oder die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zurückführen. Jeder dieser acht Sätze ist
konsensfähig, Strafjuristen würden vielleicht sogar weiter gehen und sagen,
jeder dieser acht Sätze ist wahr. Nur sei die Frage gestattet: Was hält diese
einzelnen konsensfähigen Sätze untereinander zusammen, lassen sie sich aus
einem grundlegenden Ordnungsprinzip ableiten? Aus einem liberalistischen
Prinzip, das sich angesichts der Tatsache, dass das wesentliche an einem sektoriellen Recht wie dem Strafrecht nicht wie beim Käse
der Käse, sondern die Löcher sein sollten, darin ausdrückt, dass jeder dieser
acht Sätze der Garantie der Löcher, sprich der Freiheit dienen soll? Priester
offeriert „vertragstheoretische Grundlagen“ liberaler Strafrechtstheorie (S. 246ff.). Der Grundgedanke sei einfach: das Strafrecht sei
nur insoweit legitim, als ihm ein rationaler Aktor in
voller Kenntnis seiner reflektierten Interessen zustimmen könnte (S. 247).
Nun ist die
Vertragshypothese bei Strafrechtstheorien natürlich nichts ungewöhnliches, noch
nie dagewesenes. Selbst wenn dem Autor zugestanden
wird, dass dieser rationale Aktor kein weltfernes
Konstrukt sei, bleibt bei diesem Vorschlag der erkenntnistheoretische Verdacht,
dass der rationale Aktor natürlich dem vom Autor
favorisierten System vollumfänglich zustimmen wird. An dieser wesentlichen
Stelle der Abhandlung, wo es um die Grundierung eines eigenen Systems geht,
hätte der Leser gern mehr darüber erfahren, warum der rationale Aktor beispielsweise den Schutz seiner Rechtsgüter nicht um
jeden Preis fordere. Priester meint, der rationale Aktor
wisse, dass er nicht nur potenzielles Opfer, sondern auch potenzieller Täter
von Straftaten und nicht nur schuldloses Opfer von Straftätern, sondern auch
von Strafverfolgern sein könne, woraus sich die Forderung nach einem fairen
Prozess ganz zwanglos ergebe. Auf einer etwas höheren Abstraktionsstufe wird
vertreten, dass der rationale Aktor im
wohlverstandenen Eigeninteresse bestimmte strafrechtspolitische Grundpositionen
vertreten würde (S. 247). Dieser Satz enthält eine Voraussetzung, die Priester
explizit nicht mitliefert: warum vertritt der Aktor
strafrechtspolitische Grundpositionen? Was veranlasst ihn dazu, vom Staat
gerade die strafende Interaktion mit einem potenziellen Störer für wert erachteter
Interessen zu verlangen?
Schließlich und
endlich führt der Autor die beiden gedanklichen Schwerpunkte wieder zusammen,
indem er jedes der vorgestellten Axiome auf den Prüfstand der Abschaffung des
Züchtigungsrechts stellt. Dabei seien hier nur die Axiome eins und sieben
herausgegriffen. Priester kommt hinsichtlich des ersten Axioms zu einer
unproblematischen Anwendung, da Gesundheit und psychische Stabilität von
Kindern, wer wollte das bestreiten, zum Kernbereich der menschlichen Freiheit
und Integrität gehören (S. 256). Mit dieser Überlegung lässt sich die
Legitimationsfrage sogar umkehren: es sei legitimationsbedürftig,
tatbestandsmäßige Körperverletzungen straffrei zu stellen, Kinder also aus dem
Kreis der Normbenefiziare auszuschließen (S. 258). Theoretisch
ungeklärt bleibt freilich dabei, wie die Legitimationsfrage richtig zu stellen
ist: aus der Sicht des Normbenefiziars oder aus der
Sicht des Normadressaten? Dies wiederum zeigt, wie manipulierbar das konkrete
Strafrecht mitsamt seiner theoretischen Grundlegung ist.
Nicht ganz so glatt funktioniert die Anwendung von Axiom sieben auf das Züchtigungsrecht. Der Autor muss, um an diesem Axiom festhalten zu können, hinsichtlich des Züchtigungsrechts postulieren, dass ein strafrechtlicher Tatbestandsausschluss zwar sicher möglich, aber nicht wünschbar wäre: gegen ihn spreche, dass die erforderliche Delegitimierung der Züchtigungspraxis einen eindeutigen und unmissverständlichen Normbefehl voraussetze. Daher kämen keine Regelungen in Betracht, die auf der Tatbestands- und Unrechtsebene liegen, weil sie als Erlaubnistatbestände missdeutet werden könnten (S. 303). Es handelt sich hiermit um eine Durchbrechung des „liberalen Prinzips“. Der klare Normbefehl wiederum ist erforderlich, um eine erwünschte Verhaltensänderung herbeizuführen. Jetzt wird doch die Frage erlaubt sein, wer die Verhaltensänderung wünscht und, wenn dies der rationale Aktor Priesters sein sollte, welche Maßstäbe an seine Rationalität zu stellen sind. Ist es mit einer liberalen Strafrechtstheorie vereinbar, wenn der Gesetzgeber eine Verhaltensänderung, die auf geänderten Gewissensentscheidungen beruhen muss, gegen ein bislang gewohnheitsrechtlich anerkanntes Institut nicht nur „wünscht“, sondern auch durchsetzt?
Entgegen der
eigenen Intention meint Priester hier dann doch auf die nur zweitbeste Lösung
Diversion mit allen ihren Mängeln zurückgreifen zu müssen. Auch bei den
Diversionsmöglichkeiten freilich bleibt es dabei: punctum
saliens ist nicht, ob ein theoretisches Konzept mangelhaft oder ausgereift
ist, sondern die Frage, wie energisch und gutwillig es realisiert wird.
Priester jedenfalls plädiert für einen „gedämpften Optimismus“ (S. 307) bei
Schlichtungsverfahren und Hilfen bei Familienkonflikten, die, wenn sie
eingeleitet seien und Erfolg versprächen, zum Fortfall des öffentlichen
Interesses an der Strafverfolgung führen könnten (in § 153a StPO sollte als Nr.
5 die Formulierung des Nr. 235 Abs. 3 RiStBV
eingeführt werden).
Insgesamt ist die
Schrift ein mit Gewinn zu lesendes Werk. Die eigene Konstruktion des Verfassers
vermag freilich nicht alle durch die Lektüre aufgeworfenen Fragen zu
beantworten. Allerdings wird diesen Anspruch schwerlich überhaupt ein
straftheoretisches Werk einlösen können. Sicherlich das wichtigste an der
Strafrechtswissenschaft ist die stete Hinterfragung des Gegenstandes, der
Strafe. Hierzu liefert „Die Abschaffung des Züchtigungsrechts“ wichtige Impulse
in Zeiten neoklassischer Herzlosigkeit. Die kritischen Anmerkungen in dieser
Besprechung sind daher auch nur Fragen, zu denen der Gedankengang des Autors
den Rezensenten angeregt hat. Die Fragen ließen sich vermehren, so anregend ist
die mehrmalige, vertiefte Lektüre – nur ist die Rezension nicht der Ort für
eine ausführliche Diskussion. Schmerzlich vermisst wird freilich ein
Sachregister.
Leipzig Adrian
Schmidt-Recla
[1] So Andreas Hoyer, in: FamRZ
2001, S. 523.
[2] Auch dazu und zur Frage, wie sie sich umgehen lässt, Andreas Hoyer, in: FamRZ 2001, S. 524.
[3] Ich habe das an anderer Stelle und in anderem – aber wie ich meine vergleichbarem – Zusammenhang versucht mit den Worten zu umreißen, dass die ungeprüfte Übernahme der These von der Therapieresistenz (gemeint waren vermindert schuldfähige und/oder schuldunfähige Straftäter) die Tatsache verwische, dass der Mangel nicht nur beim Patienten, sondern auch beim Therapeuten oder den mit therapeutischen Aufgaben betrauten Institutionen liegen könne, wobei es mir lediglich darauf angekommen ist, auf die logische Möglichkeit hinzuweisen, nicht darauf, die Therapieresistenz generell zu bestreiten.
[4] Besonders abschreckende Beispiele werden hierfür gerne immer wieder aus den USA berichtet. Auch Priester liefert auf S. 288 f. die entsprechende Illustration zur Perversion des reinen Präventionsrechts, das auch außerhalb des Strafrechts wuchern kann.
[5] Letztlich sollte die Spannung zwischen Rechts- und Sozialstaatsprinzip (auch darauf lässt sich das Problem reduzieren), die ja auch dem Grundgesetz innewohnt, nicht als Nachteil, sondern als Chance begriffen werden. Beide Prinzipien müssen ständig miteinander austariert werden, das eine kann und muss zur andauernden Kontrolle des anderen genutzt werden.