Schmidt-ReclaHirschinger20010917 Nr. 10496 ZRG 119 (2002) 72
Hirschinger, Frank, Zur Ausmerzung
freigegeben. Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz
(= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 16). Böhlau, Köln 2001. 277 S.
Es gibt Bücher, deren Erscheinen beim interessierten Leser den Reflex „Na endlich“ auslöst, selbst wenn sie ihm nicht angekündigt gewesen sind. Frank Hirschingers Werk „Zur Ausmerzung freigegeben: Halle und die Landesheilanstalt Altscherbitz 1933-1945“ – zugleich eine Hallenser historische Dissertation – ist solch ein Titel.
Der
Band füllt eine Forschungslücke: die Darstellung der Geschichte des
nationalsozialistischen Krankenmordprogramms[1]
zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen
Demokratischen Republik. Bislang sind die einschlägigen Archive in dortigen
Krankenanstalten und Gedenkstätten noch nicht umfassend ausgewertet worden. Das
Werk leistet also Erschließungsarbeit. Auch wenn der Verfasser sich regional
auf die ehemals sachsen-anhaltinische Landesheilanstalt Altscherbitz
(gelegen zwischen Leipzig und Halle/Saale, heute Sächsisches Fachkrankenhaus
für Neurologie und Psychiatrie) beschränkt, gelingt ihm im Ergebnis ein das
System der Krankenmorde erschöpfend schildernder Überblick, der nicht nur die
von Adolf Hitler auf dubiose Weise angeordnete und wieder unterbundene
institutionalisierte Mordaktion der Jahre 1940/41, sondern auch die zweite, oft
als „wilde Euthanasie“ bezeichnete Phase der Krankenmorde erfasst und insofern
über den bisherigen Forschungsstand hinausreicht. Das allein wäre schon der Würdigung
wert, wenn damit nicht zugleich sowohl ein von psychiatrie- als auch
strafrechtshistorischer Seite bestehendes Desiderat befriedigt würde.
Psychiatrisches
Interesse an der Erörterung dieser Vorgänge ergibt sich aus der bisher in der
klinischen Psychiatrie nicht eben ausgeprägten Neigung, sich mit der
Verstrickung der eigenen Fachkollegen in eine sowohl das ärztliche Berufsethos
als auch das Recht mit Füßen tretende Mordaktion auseinanderzusetzen.
Hirschinger widmet einen beträchtlichen Teil der
Einleitung dem erreichten Forschungsstand und der Quellenlage. Dabei wird
deutlich, dass die Psychiatrie selbst sich an der Erforschung der Krankenmorde
nur zögerlich und kaum umfassend beteiligt hat.[2]
Wesentliche Diskussionsanstöße kamen von Historikern und Journalisten. In den
90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind mehrere auch regionalhistorisch angelegte
Arbeiten, die den tatsächlichen Geschehnissen auch mit statistischen Methoden
auf den Grund zu gehen versuchen erschienen.[3]
In diese Reihe fügt sich nun als besonders gründlich ausgearbeiteter
Mosaikstein die Arbeit Hirschingers ein.
Das
strafrechtsgeschichtliche Interesse begründet sich weniger aus vielleicht
erhofften neuen, spektakulären Enthüllungen über von der bundesdeutschen Justiz
verschonte Tötungsärzte (obwohl Hirschinger hierzu
auch Erhellendes – auch über das Ministerium für Staatssicherheit und die
Justiz der ehemaligen DDR – bereithält), sondern vielmehr daraus, dass Licht
auf bislang kaum thematisierte Rechtsentwicklungen fällt, in deren Verlauf
ursprünglich im Täterinteresse liegende Schuldausschluss- bzw.
Strafmilderungsgründe unter der Herrschaft einer menschenverachtenden
Heilsideologie zu verhängnisvollen Todesfallen pervertiert sind.
Der
Autor beginnt den zweiten Teil des Werkes mit den ideologischen Grundlagen und
der Vorgeschichte der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ seit 1850 (S. 27-77).
Eugenische Ideen sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur in Europa
immer wieder formuliert worden. Hirschinger erwähnt Darwin,
Gobineau, Chamberlain,
Haeckel und – für die deutsche forensische Psychiatrie besonders
wirkungsmächtig – Lombroso. Bis zum ersten
Weltkrieg sei freilich die Forderung, geistig oder körperlich Kranke entweder
an der Fortpflanzung zu hindern oder gar zu töten, kaum vertreten worden. Erst
danach habe die eugenische Bewegung in Deutschland an Einfluss gewonnen und
sich bald in zwei Flügel gespaltet (eine Münchener, anfangs pronordische,
später antisemitische Sektion, zu der auch der Psychiater Ernst Rüdin, ein Schüler des deutschen Psychiatriepapstes Emil
Kraepelin und Mitarbeiter am
Kaiser-Wilhelm-Institut für Psychiatrie, gehörte[4],
und eine Berliner antinordische Sektion, deren Vertreter nach 1933 aus ihren
Ämtern entfernt worden seien).
Schnell
wurde die Debatte hitzig. So befürwortete es z. B. der Reichsgesundheitsrat
schon 1920, dass „körperlich und geistig für die Ehe und die Zeugung gesunder
Kinder Untaugliche“ von der Eheschießung ferngehalten
würden. Besonders stark wirkte die ebenfalls 1920 publizierte Schrift „Die
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ des Freiburger Psychiaters Alfred
Hoche und des Leipziger Strafjuristen Karl Binding, der mit der
berühmt-berüchtigten Formulierung, er könne weder vom rechtlichen, noch vom
sozialen, noch vom sittlichen, noch vom religiösen Standpunkt aus ein
Tötungsverbot gegenüber Menschenleben erkennen, die so stark die Eigenschaft
des Rechtsgutes eingebüßt hätten, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie
für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren habe (vgl. Nachweis bei Hirschinger, S. 37f.), einen ersten, aber entscheidenden
juristischen Schritt auf der abschüssigen Bahn hin zum Mord an Zehntausenden
tat. Damit war das Tabu des absoluten Tötungsverbots gebrochen, obwohl Binding
insistierte, dass jede Brechung eines vorhandenen Lebenswillens auch der
kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen und eine Freigabe der
Tötung Geistesschwacher, die sich glücklich fühlten, abzulehnen sei. Der
Geschäftsführer des Reichsverbandes der Kriegspatenschaften Gerhard
Hoffmann war dann der erste, der 1927 offen zum Krankenmord aufrief.
Im
folgenden untersucht der Autor die Auswirkungen rassehygienischer Vorstellungen
auf die NSDAP und stellt Hitlers rassehygienische Reflexionen in „Mein
Kampf“ dar. Lässt sich darin mit Hirschingers Belegen
nur das Bestreben nachweisen, Kranke und erblich Belastete für zeugungsunfähig
zu erklären und „das dann auch durchzusetzen“, so heißt es bei dem späteren
Reichsbauernführer Richard Walther Darré 1930,
dass sich die Erbanlagen eines Volkes oder adligen Standes nur durch die
„Ausmerze“ der Minderwertigen langsam aber sicher von allen Schlacken
bereinigen und zu immer vollendeterer Einheitlichkeit und Vollkommenheit
bringen ließen. Ebenfalls 1930 hieß es in den „Nationalsozialistischen
Monatsheften“ unmissverständlich und uneingeschränkt: „Tod dem lebensunwerten
Leben!“ (Hirschinger, S. 39-42).
Ein
weiteres Kapitel ist den für Halle nachweisbaren eugenischen Maßnahmen[5]
und deren Protagonisten bis 1939 gewidmet. Besonderes Gewicht hat dabei
zwangsläufig der unmittelbare Vorläufer der Mordaktion – die
Zwangssterilisation aufgrund des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken
Nachwuchses vom 1. 1. 1934. Hirschinger zeichnet
resümierend den typischen Leidensweg eines 1921 geborenen Patienten, der vor
dem Erbgesundheitsgericht begann, über die Zwangssterilisation in der
Universitätsklinik Halle und die Einweisung in die Landesheilanstalt Altscherbitz führte und 1940 in der Gaskammer der Anstalt
Bernburg endete (S. 64f.).
Für
den (Straf-)Rechtshistoriker bedeutsam ist der Hinweis (S. 51) auf die für die
20er und 30er Jahre durchaus symptomatischen kriminalbiologischen Ansichten des
Psychiaters und leitenden Arztes der Hallischen
Strafvollzugsanstalt Ernst Siefert, der zwar
die These Lombrosos vom delinquente nato abgelehnt, aber gemeint habe, der
„Gewohnheitsverbrecher“ litte an einer krankhaften Minderwertigkeit, welche
meistens angeboren sei. Diese These nämlich musste bei der Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit beinahe zwangsläufig mindestens zur Dekulpierung,
die seit 1934 gem. § 51 Abs. 2 RStGB möglich war,
wenn nicht gar zur Exkulpierung nach § 51 Abs. 1 RStGB
führen. Seit 1934 wurde § 51 RStGB von den Maßregeln
zur Besserung und Sicherung nach §§ 42a-42n RStGB flankiert, was nach § 42b f. RStGB
zur Unterbringung des de- oder exkulpierten Täters in einer Heil- und
Pflegeanstalt führen konnte und in den meisten Fällen auch geführt hat. So
wurden Straftäter, die vom psychiatrischen Sachverständigen für zurechnungsunfähig
oder vermindert zurechnungsfähig erklärt (und der Strafe enthoben wurden), zu
Insassen der psychiatrischen Heilanstalten und so zu potenziellen Opfern der
Mordaktion 1940/41. Interessieren muss die Frage, ob diese theoretische Version
sich verwirklicht hat.
Die
abschließenden Erörterungen zur Organisation der Mordaktion skizzieren die
1939er Vorbereitungen in der Kanzlei des Führers, die sogenannte
„Kindereuthanasie“ und die Planung des Krankenmordes durch Karl Brandt
und Philipp Bouhler (S. 75-77). Mit dem
berüchtigten, auf den 1. September 1939 rückdatierten Ermächtigungsschreiben Hitlers,
in dem Brandt und Bouhler ermächtigt
wurden, die „Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass
nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres
Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden“ könne, wird zum dritten Teil
der Arbeit (S. 79-207), dem Mord selbst übergeleitet. Rechtliche oder sittliche
Bedenken hatte keiner. Der Führer war Herr über Leben und Tod, auch wenn er von
unheilbaren Krankheiten und von Gewährung des Gnadentodes sprach. Er ließ den
„gesunden Volkskörper reinigen“. Sein Befehl auf privatem Briefpapier war die
einzige, heute noch greifbare Grundlage für die anlaufende Mordaktion, in der
keineswegs nur unheilbaren Kranken der „Gnadentod gewährt“ wurde.
Im
dritten Teil des Buches schildert Hirschinger
akribisch den genauen Ablauf der von der Berliner Tiergartenstraße 4 („T 4“)
aus geleiteten Selektions-, Transport- und Vergasungsaktion. Die
Landesheilanstalt Altscherbitz fungierte als
Sammelstelle, in der die dort und in anderen, kleineren Anstalten bzw. in der
Universitätsnervenklinik Halle mittels der berüchtigten Meldebögen
von T 4-Gutachtern selektierten Patienten zu Sammeltransporten nach Brandenburg
bzw. Bernburg erfasst, gesammelt, zwischenverpflegt und abtransportiert wurden.
Die erstmalige Auswertung der Altscherbitzer Akten
liefert genaue Opferzahlen[6],
Namen und Lebensläufe sowohl der Opfer als auch der Täter und lässt keinen
Zweifel daran, dass die Mitarbeiter der Anstalt zu jedem Zeitpunkt wussten,
worum es sich bei den Selektierungen und Abtransporten handelte.[7]
Wie Schlachtvieh wurden die arg- und wehrlosen Kranken in den grauen GEKRAT-Bussen abtransportiert, in Brandenburg und Bernburg
mit Gas vergiftet und verbrannt.
Dabei
zeigt sich, dass zu den ersten Altscherbitzer
Opfern, die am 1. Juni und am 30. Juli 1940 nach Brandenburg deportiert und
dort ermordet wurden, auch nach § 42 b RStGB in der
Anstalt untergebrachte zurechnungsunfähige bzw. vermindert zurechnungsfähige
Straftäter gehörten (Hirschinger, S. 91f.). Damit
hatte sich die obige Hypothese realisiert. Folgende kurze Bemerkung sei
gestattet.
Die
von Ärzten aus dem Bestreben ärztlicher Hinwendung initiierte, von den meisten
forensisch tätigen Psychiatern getragene und vielen Juristen unterstützte
Forderung nach einem Strafmilderungsgrund für Straftäter, deren Fähigkeit, das
Unerlaubte ihrer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, deutlich
vermindert war,[8] hatte
zuletzt 1925 und 1927 zu Reformentwürfen des Reichsjustizministeriums geführt.
Mit dem 1934 in Kraft getretenen Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher[9]
hatten sie in § 51 Abs. 2 RStGB Gestalt angenommen.
Niemand hatte 1933/34 daran Anstoß genommen, dass die verminderte
Zurechnungsfähigkeit von Maßregeln der Besserung und Sicherung flankiert wurde.
Konnten Psychiater und Juristen 1933/34 ahnen, dass damit den derart in
psychiatrischen Anstalten untergebrachten Tätern das Todesurteil gesprochen
war? Wie soll das Saldo der Rechtsgeschichte über das
Gewohnheitsverbrechergesetz lauten? Trägt schon § 51 Abs. 2 RStGB
das Kainsmal staatlich verordneten Unrechts? Oder ist die Vorschrift noch
richtiges Recht, vorbereitet im demokratischen Gesetzgebungsprozess der
Weimarer Republik, das von den Nationalsozialisten nur in Kraft gesetzt wurde?
Kann, sollte oder muss § 51 Abs. 2 RStGB isoliert von
§ 42 b RStGB und isoliert von Hitlers
Ermächtigungsschreiben an Brandt und Bouhler
und isoliert von den Meldebögen der T 4[10]
betrachtet werden? Diese Frage wird überwiegend und zu Recht bejahend beantwortet.
Nirgendwo sonst aber im modernen deutschen Strafrecht zeigt sich deutlicher als
hier, wie verhängnisvoll die Zweigleisigkeit des Sanktionenprogramms
wirken kann.
Eines
jedenfalls verdeutlicht die Arbeit Hirschingers sehr
klar: Psychiater und Juristen waren es nicht, die das Ende der Vergasungen
herbeiführten, sondern die Predigt des Münsteraner Bischofs Clemens Graf von
Galen am 3. August 1941, mit der er die Öffentlichkeit über die Morde
informierte und die im inneren Zirkel der Macht (zwischen Hitler, Bormann
und Goebbels) Verwirrung verursacht hatte, sowie die vereinzelten
öffentlichen Proteste vor Anstalten und schließlich die Verunsicherung der
Bevölkerung durch eigenartig gehäufte Todesanzeigen in Tageszeitungen[11]
(Hirschinger, S. 131-134). Hitler hat
wahrscheinlich am 24. August 1941 Brandt den mündlichen (!) Befehl
erteilt, die Vergasungen „abzustoppen“.
Die
weiteren Abschnitte des dritten Teils sind der zweiten Phase der
Krankenmordaktion (der sogenannten „wilden Euthanasie“[12]),
der Wiederaufnahme der Deportationen in Tötungsanstalten 1942-45, in denen die
Kranken durch Hunger, Medikamente und vereinzelt auch körperliche Gewalt
gezielt getötet worden seien und einzelnen Sonderaktionen (Ermordung
behinderter Kinder, Aktion „14 f 13“, Selektionen in Strafanstalten) auch in
Konzentrationslagern und dem Schicksal jüdischer und ausländischer Patienten
gewidmet. Auch hierzu liefert die Arbeit erdrückendes archivarisches Material.
Insbesondere das Entschuldigungsargument des kriegsbedingten Hungers verliert
danach jede Überzeugungskraft. Die von Hirschinger
für Altscherbitz ermittelte Gesamtopferzahl beläuft
sich auf 5.103 Personen (S. 219).
Der
vierte Teil behandelt die Entnazifizierung und Strafverfolgung der an den
Deportationen und Vergasungen im Untersuchungsgebiet beteiligten Täter und
Mitwisser. Es ist der kürzeste und auch derjenige Teil der Arbeit, bei dem es
sich sofort bemerkbar macht, wenn der Autor die Verlässlichkeit der
aufgespürten Archivmaterialien gegen die vorgefundenen Wertungen der Sekundärliteratur
eintauscht. In einem ersten Schritt wird festgestellt, dass die im
Gesundheitswesen der Stadt Halle beschäftigten Täter und Mitwisser der
Krankenmorde die Untersuchungen der ersten Nachkriegsjahre weitgehend
unbeschadet überstanden hätten und ihre Karrieren nahtlos oder mit geringer
Verzögerung hätten fortsetzen können (S. 216). An einer Aufklärung der Krankenmorde,
an denen Altscherbitzer Ärzte beteiligt waren, habe
die Besatzungsmacht wohl kein gesteigertes Interesse gehabt (S. 222). Jedoch
sei der Anstaltsdirektor Harald Krüger 1945 zu einem Polizeiverhör
vorgeladen worden und sei seitdem verschollen. Die Staatsanwaltschaften in Bernburg
und Dessau hätten nur nachlässig ermittelt. Zwar seien die Namen der leitenden
Ärzte in einer Liste beschuldigter Ärzte als Mitwisser verzeichnet gewesen –
gleichwohl sei keiner der Betroffenen von einem Gericht der sowjetischen Besatzungszone
oder der DDR abgeurteilt worden (S. 224).
Einen
besonderen Abschnitt (S. 225-236) widmet der Autor der Verfolgung derjenigen
Ärzte, die in den Vergasungsanstalten Brandenburg und Bernburg als Tötungsärzte
gewirkt hatten. Von vierzehn dieser Ärzte lebten bei Kriegsende noch neun.
Einer von ihnen, Otto Hebold, blieb nach 1945
in SBZ und DDR als Psychiater im Beruf, passte sich
den neuen politischen Verhältnissen an und wurde erst 1963 vom MfS der
ehemaligen DDR bearbeitet, nachdem sein Name in der Anklageschrift der
Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main gegen Werner Heyde
aufgetaucht war. Politisches Kalkül (Hirschinger, S.
227) bewog Stasi-Chef Erich Mielke, der Festnahme Hebolds
zuzustimmen. Das Bezirksgericht Cottbus verurteilte Hebold
1965 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft, die er
bis zu seinem Tode 1975 in Bautzen absaß. Er war der einzige Brandenburg/Bernburger Tötungsarzt, der von einem deutschen Gericht zu
einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Diese Reaktion von MfS und
DDR-Justiz auf Hebolds Verstrickung in die
Krankenmorde erschließt der Autor dankenswerter Weise aus Unterlagen des MfS.
Die
drei nach 1945 in der Bundesrepublik wohnenden Brandenburg/Bernburger
Tötungsärzte Aquilin Ullrich, Heinrich
Bunke und Kurt Borm
wurden 1961/62 erstmals verhaftet. Die Verfahren und die Verbüßung der
ausgeworfenen, in der Bundesrepublik vielfach als zu niedrig kritisierten
Freiheitsstrafen zogen sich bis 1990 hin. Die betreffenden Urteile des
Landgerichts Frankfurt am Main und des Bundesgerichtshofs sind mit den
Veröffentlichungen von Ernst Klee zur Euthanasie greifbar. Frei von der
Wertung seiner Vorlage ist Hirschinger hier sicher
nicht. Eine eigenständige Auswertung der veröffentlichten Urteile nimmt er
nicht vor. Das allein wird man ihm jedoch noch nicht vorwerfen können: der Wert
der Arbeit, der ohnehin auf anderem Gebiet liegt, wird dadurch nicht geschmälert.
Tabellarische Lebensläufe ausgewählter Tötungsärzte und umfassende Register, mit denen das Buch leicht zu erschließen ist, beenden das gründlich recherchierte und informationsreiche Werk, das sowohl bei der weiteren Erforschung der Psychiatriegeschichte als auch bei weiteren Überlegungen zu konkreten Fragen der Strafrechtsgeschichte der Weimarer Republik und des Dritten Reiches wertvolle Anhaltspunkte bietet. Der Böhlau-Verlag hat die Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts zudem ansprechend ausgestattet.
Leipzig Adrian
Schmidt-Recla
[1] Unklar ist, weshalb noch immer am eingeführten, euphemistischen Begriff der „Euthanasie“ festgehalten wird. Ein „Gnadentod“ setzt doch voraus, dass der zu Tötende leidet – und zwar nach außen erkennbar subjektiv leidet. Gerade dieses subjektive Leiden an einer bestimmten Krankheit dürfte vielen, wenn nicht den meisten ermordeten geistig auffälligen oder behinderten Menschen gefehlt haben. 1939 ging es jedoch nicht darum, Leidende zu erlösen, sondern aus dem „gesunden Volkskörper“ “entartete und minderwertige Elemente“ „auszumerzen“. Es trifft den Kern der Sache genauer, wenn von Krankenmord gesprochen wird.
[2] Nachzutragen wären etwa noch die Aufsätze von Joachim Ernst Meyer, in: Nervenarzt 1988, S. 85ff.; Friedemann Pfäfflin, in: Recht und Psychiatrie 1987, S. 134ff., Uwe Henrik Peters, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 1996, S. 327ff.
[3] Vgl. etwa die Monographien
von Dorothee Roer/
[4] Vgl. zu Rüdin Uwe Henrik Peters, in: Fortschr. Neurol. Psychiat. 1996, S. 327ff.
[5] Dazu gehörten der Aufbau einer Kartothek zur Erfassung von „Schwachsinnsfamilien“ und einer Eheberatungsstelle, die ausschließlich erbbiologisch-eugenische Ziele verfolgte und das breite Angebot rassehygienischer Lehrveranstaltungen an der Universität Halle.
[6] Von 1.873 in den Jahren 1940/41 aus Altscherbitz deportierten Patienten wurden 1.864 in Brandenburg bzw. Bernburg ermordet.
[7] Lediglich zwei Angestellte – zwei Pflegerinnen, kein einziger Arzt – der Altscherbitzer Anstalt kündigten nach Hirschinger 1940/41 den Dienst.
[8] Vgl. dazu Franz Lubbers, Die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit von Carpzow bis zur Gegenwart, Breslau 1938; Erardo C. Rautenberg, Verminderte Schuldfähigkeit. Ein besonderer, fakultativer Strafmilderungsgrund?, Heidelberg 1984; Adrian Schmidt-Recla, Theorien zur Schuldfähigkeit, Leipzig 2000, S. 82-87, 138f., 146, 158-160.
[9] Vgl. dazu die historische Dissertation von Christian Müller, Das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933. Kriminalpolitik als Rassenpolitik, Baden-Baden 1997.
[10] In denen aufgrund eines Erlasses des Reichsinnenministeriums eben auch nach § 42b RStGB untergebrachte kriminelle Geisteskranke erfasst und an die T 4 gemeldet werden mussten.
[11] Die Arbeit beschreibt auch die konspirative und hochgradig auf Unrechtsbewusstsein hinweisende Tätigkeit der sogenannten „Absteckabteilungen“ in den Vergasungsanstalten, die dafür sorgen sollten, dass die Todesbenachrichtigungen bei den Angehörigen möglichst zeitlich und regional gestreut eintrafen (S. 100-105).
[12] Hirschinger kann nach seinen Erhebungen zumindest nicht ausschließen, dass es sich tatsächlich um „wilde“ Euthanasie, also nicht von der T 4-Zentrale angeordnete Programme, gehandelt habe (S. 152). Vgl. aber dort auch Anm. 287.