SchildtPröve20010917 Nr.
10388 ZRG 119 (2002) 51
Pröve, Ralf, Stadtgemeindlicher Republikanismus und
die „Macht des Volkes“. Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder
politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für
Geschichte 159. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000. 580 S., 8
Abb. 25 Tab. Besprochen von Bernd
Schildt. ZRG 119 (2002) 51. 10388 2001-03-16 auf Einladung bestellt,
Schildt angefragt?, 2001 Buch erhalten Zusage Schildts bis 15. 09. 2001 erhalten,
versandt, 2001-09-17 Besprechung erhalten
Bei
der hier vorzustellenden Publikation handelt es sich um die Berliner
Habilitationsschrift des Autors von 1998. Pröve versteht unter zivilen
Ordnungsformationen hierarchisch und komplex strukturierte Vereinigungen
kooperativer oder assoziativer Art, deren Funktion in der Erhaltung der
öffentlichen Ordnung sowie ganz allgemein dem Schutz der Stadt und ihrer Institutionen
und Einrichtungen diente. Zivil sind diese Ordnungsformationen – deren Mitglieder
durchaus bewaffnet sind – insoweit, als es sich um dezidiert nichtmilitärische
Einrichtungen handelt, deren Wirkungskreis zudem strikt auf den kommunalen
Sektor beschränkt ist.
Der
vom Verfasser gewählte Forschungsbegriff erfaßt das etwa 100 Jahre währende
Phänomen der Existenz von Bürgerwehren, Bürgergarden oder Kommunalgarden in der
Zeit des ausgehenden 18. bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts
(Sattelzeit). Pröves Zugriff auf das Thema erfolgt auf zwei unterschiedlichen
Betrachtungsebenen. Zum einen fragt er nach den ideengeschichtlichen Wurzeln
der Volksbewaffnung und deren Weiterentwicklung im Vormärz, zum anderen gilt
sein Interesse der Untersuchung der zivilen Ordnungsformationen in ausgewählten
Gebieten und damit, wenn man so will, dem Reflex der Idee von der
Volksbewaffnung in der Wirklichkeit. Dementsprechend erfolgte auch die
Quellenauswahl. Zum einen werden Denkschriften, Protestadressen, lexikalisches
Material und Tageszeitungen sowie normatives Material beigezogen, zum anderen
werden aus der Sicht der zweiten Betrachtungsebene empirisch-archivalische
Quellen in Gestalt des Schriftverkehrs zwischen den „civilen“ Ordnungsformationen
und dem Magistrat bzw. vorgesetzten Behörden sowie Material, die das Innenleben
der Formationen selbst reflektieren, verwandt. Mit zeitlich unterschiedlichen
Gewichtungen wählt der Verfasser zum einen die preußische Provinz Brandenburg
und das Kurfürstentum Hessen und zum anderen das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin
und die beiden kleinen Schwarzburger Fürstentümer als „hermeneutische
Kontrollen“ aus.
Diese beiden
unterschiedlichen Sichtweisen spiegeln sich in groben Zügen auch in der Gliederung
der Arbeit wieder. Sie besteht aus zwei Teilen mit sechs Kapiteln, wobei im
ersten Teil im Wesentlichen die ideengeschichtlichen Wurzeln des Phänomens
„civiler“ Ordnungsformationen nachgegangen wird, während in den vier Kapiteln
des zweiten Teils deren Reflexion in der Wirklichkeit ausgewählter Territorien
untersucht wird.
Im ersten Kapitel:
Doppelrevolution und Dauerkrise: die ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen
und geistesgeschichtlichen Umbrüche der Sattelzeit (S. 43-119), werden die
allgemeinen politischen und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für das
eigentliche Thema mit Blick auf das gewählte Untersuchungsgebiet umrissen. Vor
dem Hintergrund der sich allmählich auflösenden ständischen Ordnung und der
parallel dazu erfolgenden Formierung der neuen, bürgerlichen Gesellschaft
beschreibt der Verfasser die Städtelandschaft der von ihm untersuchten
Territorien, insbesondere ihre Wirtschaftsstruktur und ihre
verfassungsrechtliche Anbindung an den verfallenden Obrigkeitsstaat.
Vor dem Hintergrund des
komplizierten Verhältnisses von Stadtgemeinde und Staat geht der Verfasser im
zweiten Kapitel: Volksbewaffnung und gemeindliche Selbstverwaltung (S.
120-224), den komplizierten Zusammenhängen zwischen der Forderung nach
Volksbewaffnung und den verschiedenen Gesellschaftskonzepten insbesondere dem
jeweiligen Staatsverständnis nach. Der Verfasser macht in diesem Zusammenhang
insbesondere auch die historischen Wurzeln kommunalen Selbstverständnisses
deutlich.
Im dritten Kapitel:
Städteordnung und Befreiungskrieg: brandenburgische Ordnungsformationen
zwischen Reform und Reaktion (S. 225-293), werden die „civilen“ Ordnungsformationen
in Brandenburg in der Umbruchzeit analysiert. Dabei wird deutlich, daß sich das
Stadtbürgertum durchaus der Möglichkeiten „civiler“ Ordnungsformationen für die
Entwicklung städtischen Selbstbewußtseins und Selbstbehauptungswillens bewußt gewesen
ist. Die besondere Situation der Entstehung dieser Formationen während des
Befreiungskrieges brachte es zunächst mit sich, daß der preußische
Territorialstaat der Verbindung von kommunaler Selbstverwaltung mit „civilen“
Ordnungsformationen zunächst eher aufgeschlossen gegenüber stand. Sehr bald
wurde allerdings deutlich, daß nach dem Erfolg im Befreiungskrieg dieselben
„civilen" Ordnungsformationen eher unerwünscht wurden und – aus ihrem
kommunalen Selbstverständnis gelöst – in die militärischen Strukturen des
preußischen Territorialstaats integriert worden sind.
Im vierten Kapitel:
Verfassung und Bürgermacht: kurhessische Bürgergarden in den 1830er und 1840er
Jahren (S. 294-369), analysiert der Verfasser das Problem „civiler“ Ordnungsformationen
Kurhessens vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzungen der Pariser
Julirevolution von 1830. Dort erlangte die Bürgergarde sogar Verfassungsrang.
Allerdings zeigte sich in der Folgezeit bald ein zunehmend nachlassendes
Interesse sowohl seitens der Regierung als auch der betroffenen Bürger in den
Städten und Dörfern. Anders verlief die Entwicklung in Brandenburg, wo die Regierung
die Neugründung „civiler“ Ordnungsformationen ablehnte und dafür ein aus
Besitzbürgern gebildetes Schutzwachensystem unter behördlicher Kontrolle favorisierte.
Dem dritten Schub bei der
Verwirklichung der Idee von der Volksbewaffnung ist das fünfte Kapitel: Glanz
und jäher Absturz: die Revolution von 1848/49 und die Rolle der Bürgerwehren
(S. 370-437), gewidmet. Die Ereignisse im Umfeld der Revolution von 1848/49
weist der Verfasser sowohl als Höhe- aber auch als Wendepunkt der Volksbewaffnungsidee
nach. In die Analyse einbezogen sind neben den brandenburgischen und den kurhessischen
Territorien als „hermeneutischer Kontrollposten“ – wie der Autor anmerkt – das
Territorium des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin sowie der beiden
schwarzburgischen Fürstentümer. Mit dem Sieg der Reaktion über die Revolution
war auch das Schicksal „civiler“ Ordnungsformationen besiegelt. Die bis in die
60er/70er Jahre hinein zum Teil formal noch bestehenden Formationen waren nach
ihrer Entwaffnung als kommunale Machtfaktoren de facto ausgeschaltet.
Schließlich wendet der
Verfasser sich im sechsten Kapitel: Geselligkeit, Kommerz und Ordnungsstiftung:
Schützengilden als „civiles“ Bindeglied von Tradition und Moderne (S. 438-470),
den Schützengilden zu, die nur sehr bedingt als „civile“ Ordnungsformationen,
wie Bürgerwehren oder Kommunalgarden, einzuordnen sind. Das liegt zum einen an
ihrer sehr viel stärkeren Verwurzelung in ständischen Traditionen und zum
anderen in ihrem letztlich – was den Zugang zu ihnen betrifft – weithin
exklusiven Charakter begründet. Tendenziell verlor sich die ohnehin geringere
Verwurzelung der Schützengilden in kommunalem Denken in den 50er/60er Jahren
immer mehr, sie tendierten zunehmend hin zu geselligen Zirkeln ohne
nennenswerte politische Interessen.
Resümierend bleibt
festzuhalten, daß der Verfasser den engen Zusammenhang von Volksbewaffnung und
Frühliberalismus sowie der damit verbundenen Formierung der bürgerlichen
Gesellschaft insgesamt herausgearbeitet hat. Gerade die unterschiedlichen Formen
der „civilen“ Ordnungsformationen haben ganz entscheidend das politische Gewicht
der Stadtgemeinden im Rahmen der vorgegebenen und sich neu strukturierenden
staatlicher Institutionen geprägt. Mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49
war auch das Ende der Idee von der Volksbewaffnung eingeleitet. Ob indes das
Scheitern dieser Idee letztlich von grundlegender Bedeutung für die spätere
Militarisierung von Staat und Gesellschaft, insbesondere in Preußen, gewesen
ist, wie der Verfasser andeutet, bedarf wohl noch weiterer Überlegungen.
Bochum Bernd
Schildt