SchildtBlickle20010917 Nr. 10177 ZRG 119
(2002) 02
Blickle, Peter, Kommunalismus. Skizzen einer
gesellschaftlichen Organisationsform. Band 1 Oberdeutschland, Band 2 Europa.
Oldenbourg, München 2000. XII, 196 S., X, 422 S.
Die beiden vorliegenden Bände ziehen die
Summe einer zwanzigjährigen Entwicklung und Interpretation des von dem Berner
Historiker Peter Blickle entwickelten Kommunalismuskonzepts. Im ersten Band
stellt Blickle in einer begriffsgeschichtlichen Einleitung – wie entsteht ein
Begriff – einige grundsätzliche methodologische Überlegungen (wohl nicht
zufällig) am Beispiel des Feudalismusbegriffs an. Offenbar versteht er den von
ihm entwickelten Ordnungsbegriff Kommunalismus – mindestens auch – als
Gegenbegriff zum Feudalismus.
Im ersten Kapitel – Institutionen –
werden verfassungsrechtliche Grundprobleme behandelt. Der Verfasser fragt in
diesem Zusammenhang anhand von vier konkreten Fallbeispielen aus dem oberdeutschen
Raum nach der Verfaßtheit des Alltags. Kommunalismus ist für Blickle zunächst
Ausdrucksform für Institutionen und Formen der Organisation des alltäglichen
Lebens in Stadt und Land; wobei die Unterschiede zwischen den beiden von der
traditionellen Forschung zumeist scharf geschiedenen Sphären als eher
gradueller denn prinzipieller Natur erscheinen. Von zentraler Bedeutung für die
kommunalen Verfassungsstrukturen in Stadt und Land sind zum einen die
Gemeindeversammlungen und Gerichte, aber auch Vierer und Amman in den Dörfern
und die dementsprechenden Institutionen Rat und Bürgermeister in den Städten.
Der so verfaßte Alltag in Stadt und Dorf basiert auf einer nicht von der
Herrschaft herrührenden Organisationsform – der Gemeinde. Damit sind auch die
Antipoden kommunaler Verfassungsstrukturen benannt: Herrschaft und Gemeinde.
Dieses Begriffspaar erinnert stark an die in der Rechtsgeschichte gängige
Formel von Herrschaft und Genossenschaft (Gierke), einer Traditionslinie
der sich Blickle – wenn auch eingeschränkt – durchaus bewußt ist (vgl. Bd. 2,
S. 353–356). In diesem Spannungsfeld bewegt sich der verfaßte Alltag sowohl in
der Stadt als auch im Dorf.
Im zweiten Kapitel – Gesellschaft –
betont Blickle wiederum explizit die prinzipielle Vergleichbarkeit ländlicher
und städtischer Organisationsformen aus allgemeiner gesellschaftstheoretischer
Sicht. Bürger und Bauern werden auch soziologisch als Einheit verstanden. Das
zeigt sich nicht zuletzt darin, daß sowohl die städtischen als auch die
ländlichen Kommunen entscheidend geprägt wurden durch „das kollektive Regiment
der Hausväter“ (S. 76).
Dem Werte- und Normensystem ist das
dritte Kapitel gewidmet. Dabei macht Blickle als Zentralbegriffe sowohl für das
Dorf als auch für die Stadt aus: gemeinen Nutzen, Hausnotdurft, Friede.
Letzteren sieht er in engem Zusammenhang mit Gerechtigkeit, wobei hier der
Eindruck entsteht, als wären die Begriffe Recht und Gerechtigkeit identisch.
Recht und Gerechtigkeit können hingegen nur in einem sehr grundsätzlichen und
allgemeinen Sinn miteinander identifiziert werden. Zu Recht wird der innere
Zusammenhang von Frieden, gemeinem Nutzen und Hausnotdurft betont, die in ihrer
Reflexion auf Freiheit, Eigentum und Gerechtigkeit von Blickle als Normsystem
im Kommunalismus verstanden werden. Gemeiner Nutzen, Hausnotdurft und Frieden
entspringen der bäuerlich-bürgerlichen Welt und stehen in gewisser Weise im
Gegensatz zu Herrennutz, Repräsentations- und Luxusbedürfnis sowie Fehde als
signifikanten Wesensmerkmalen herrschaftlicher Provenienz. Daß Blickle auf den
zeitgenössischen Pleonasmus zwischen Frieden und Recht nicht weiter eingeht,
mag damit zusammenhängen, daß er die Begriffe Gerechtigkeit (für ihn offenbar
identisch mit Recht) und Freiheit in ihrer Verkoppelung und bezogen auf Friedenssicherung
thematisiert.
Dem Verhältnis von Gemeinde und Obrigkeit
wendet der Verfasser sich im vierten Kapitel unter der Überschrift Herrschaft
und Obrigkeit zu. Dabei wird deutlich, daß das Verhältnis der Gemeinde zur
Obrigkeit sowohl als ein Verhältnis von Gemeinsamkeit als auch Konfrontation
sein kann. Schließlich kann Gemeinde selbst als Obrigkeit auftreten. Gemeinde
und Herrschaft/Obrigkeit leben über Jahrhunderte in einem latenten Spannungsverhältnis;
insoweit ist es sicher zutreffend, zu sagen, daß Kommunalismus Herrschaft zwar
ertragen kann, sie allerdings nicht unbedingt begünstigt.
Im fünften Kapitel fragt Blickle
schließlich nach der Reflexion von Kommunalismus in der politischen Theorie.
Anhand dreier Beispiele wird versucht zu zeigen, inwieweit kommunale Verhältnisse
als politische Theorien dingfest zu machen sind; wobei allerdings das letzte Beispiel
anhand des fiktiven Prozesses um das Eigentum am Schatten eines Esels nach
Christoph Martin Wieland als einigermaßen spekulativ erscheint.
In Reflexion auf seine Einleitung: Wie
entsteht ein Begriff – versucht Blickle am Schluß eine Antwort (S. 175-179) –
wobei nicht überraschen kann wie sie lautet: Kommunalismus. Zunächst nur auf
Oberdeutschland bezogen – versteht Blickle unter Kommunalismus die funktional
und institutionell strukturierten Verbände von Stadt- und Landgemeinden, gekennzeichnet
durch eine Satzungskompetenz der Gemeinde bzw. der sie repräsentierenden
Organe. Dieses gemeindliche Satzungsrecht ist nicht herrschaftlich/obrigkeitlich
delegiert, sondern gewinnt seine Legitimität aus der sie wahrnehmenden Gemeinde
selbst. Das schließt Berührungen und Einflußnahmen mit herrschaftlicher
Autorität nicht aus.
Die Ursachen der Herausbildung des
Kommunalismus sieht der Verfasser in einem grundsätzlichen Wandel der
Arbeitsorganisation, der geprägt ist vom Übergang einer auf der früh- und
hochmittelalterlichen Villikationsverfassung basierenden Wirtschaftsstruktur zu
einer durch das Haus geprägten, individuell genossenschaftlichen
Wirtschaftsform. Damit einher geht eine Siedlungsverdichtung in Form von Stadt,
Markt und Dorf. Deren innere Organisationsstrukturen sind vom Willen der in
ihnen lebenden Bürger und Bauern bestimmt.
Prinzipiell sind sowohl die Stadt als
auch die Landgemeinde in sich gegliedert durch das Haus. Aus ihm erwachsen
politische Rechte und Pflichten von Bürgern und Bauern einschließlich der
Ämter. Demokratisch im modernen Sinn ist der Kommunalismus gewiß nicht gewesen.
Vielmehr ist dem Haus Herrschaft immanent.
Aus dem Zusammenleben in Stadt- und
Landgemeinden entsteht eine neue Werteordnung, die sich orientiert am gemeinen
Nutzen und Hausnotdurft sowie Frieden und Gerechtigkeit. Diese Werte beinhalten
insoweit innerhalb des bestehenden herrschaftlichen System Elemente persönlicher
Freiheit, einschließlich der Freiheit des Eigentums. Diese Freiheit zeigt sich
nicht zuletzt in gemeindlicher Satzungskompetenz, die allerdings im engen
Kontext zum traditionellen herrschaftlichen Gebots- und Verbotsrecht zu sehen
ist und insoweit tendenziell vom herrschaftlichen und später obrigkeitlichen Satzungsrecht
des frühneuzeitlichen Territorialstaates überlagert und zunehmend dominiert
wird.
Ausgehend von der Prämisse, daß das am Beispiel des politisch-konsistenten Raumes Oberdeutschland für die frühe Neuzeit entwickelte Kommunalismuskonzept sehr viel weiterreichende Bedeutung haben kann, versucht Blickle im zweiten Band skizzenhaft ein repräsentatives Bild kommunal geprägter Räume in Europa vorzustellen. Die Ergebnisse des ersten Bandes zusammenfassend definiert er sein Kommunalismuskonzept wie folgt:
1. Kommunalismus umschließt Stadtgemeinden und Landgemeinden als funktional
und institutionell im Prinzip analog aufgebaute Verbände, geprägt durch
Satzungskompetenz der Gemeinde bzw. ihrer repräsentativen Organe, Verwaltung im
Rahmen des von Satzungen gedeckten Kompetenzbereichs und Rechtsprechung im
Rahmen des gesatzten Rechts.
2. Kommunalismus ist eine Hervorbringung des Standes der laboratores (gemeiner
Mann) aufgrund eines grundsätzlichen Wandels der Arbeitsorganisation von der
auf den Herrenhof (Villikation) orientierten zu einer an das Haus gebundenen
individuell-genossenschaftlichen Wirtschaftsweise einerseits, einer
Siedlungsverdichtung in Form von Stadt, Markt und Dorf andererseits. Nicht, daß
Stadt, Markt und Dorf nicht einen Herrenhof als Ausgangspunkt haben könnten,
doch beruht deren Binnenorganisation auf voluntaristischen Akten derjenigen,
die in den Städten, Märkten und Dörfern leben.
3. Der Binnenraum der Gemeinde wird durch Häuser gegliedert. An ihnen
hängen die politischen Rechte der Bürger und Bauern und auf ihnen lasten die
Pflichten. Gemeindliche Ämter werden deswegen ausschließlich von Hausvätern,
nicht von Tagelöhnern oder Knechten wahrgenommen.
4. Gemeindliches Zusammenleben, vermittelt durch Häuser und Arbeit,
stiftet Werte und Normen, die Bauern und Bürger verbinden. Zu ihnen gehören
gemeiner Nutzen, Hausnotdurft, Frieden, Gerechtigkeit sowie möglichst freie
Verfügbarkeit über die eigene Arbeitskraft und den Arbeitsertrag, was im
vorgegebenen herrschaftlichen System zu persönlicher Freiheit und Eigentum
tendiert.
5. Der Kommunalismus als Form der Organisation des Alltäglichen zeigt
eine Affinität zum Republikanismus als Staatsform.
6. In der politiktheoretischen Literatur [...] werden kommunale
Erfahrungen immer wieder verarbeitet und kritisch gegen jene Theorien gekehrt,
die einseitig zugunsten monarchischer und aristokratischer Herrschaft argumentieren.
Blickle gliedert in drei Teile. Zunächst
geht er im ersten Teil: Räume und Zeiten, der geographischen und zeitlichen
Verbreitung des Kommunalismus nach um sich anschließend im zweiten Teil: Formen
und Figurationen, institutionellen Problemen zuzuwenden. Im abschließenden dritten
Teil: Kommune und Staat – Praxis und Theorie, werden dann vornehmlich
gesellschaftstheoretische Probleme diskutiert.
Zum ersten Teil – Räume und Zeiten:
Getreu Blickles pragmatischen Ankündigung kein komplexes fotografisches Abbild
des Kommunalismus in Europa, sondern eine skizzenhafte Darstellung seiner
Verbreitung zu präsentieren, konzentrieren sich die Ausführungen auf Skandinavien,
den Mittelmeerraum – insbesondere Italien und Spanien aber auch der südliche
Teil Frankreichs – und die als Kernzone Europas bezeichneten Gebiete des
westfränkischen und ostfränkischen Reiches – also Frankreich und Deutschland.
Während die Paradigmen im ersten Band bezogen auf Oberdeutschland vornehmlich
aus eigenen archivalischen Kenntnissen schöpfen können, bedient Blickle sich im
zweiten Band zwangsläufig stärker der Referenzen anderer Autoren. Bilanzierend
wird festgestellt, daß der Kommunalismus Resultat zweier Transformationsprozesse
ist: nämlich erstens der
Organisation von Arbeit in den Häusern und zweitens des Zusammenrückens dieser Häuser zu relativ
geschlossenen Siedlungen – Dorf und Stadt genannt (2. Bd., S. 363).
Typisch für den Kommunalismus in Stadt
und Land sind die Komplexität von Rechten und Pflichten, administrativen und
gerichtlichen Institutionen sowie Normen und Werten. Blickle macht in Europa
drei unterschiedliche Typen des Kommunalismus aus, die sich weniger funktional
denn genetisch erklären. Während sich im mediterranen Bereich die Kommune
überwiegend aus dem ius statuendi
entwickelt ist im nordisch-skandinavischen Reich eher die Gerichtsweisung bestimmend. In den
Kernbereichen des ehemaligen ostfränkischen und westfränkischen Reiches – also
Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – verbinden sich
die beiden Elemente, was sich bisweilen auch institutionell niederschlägt. So
lassen sich in diesem Bereich als Spitzenämter sowohl der Bürgermeister bzw.
Bauermeister aus dem Satzungsrecht der Kommune als auch der Amman bzw.
Schultheiß aus gerichtlicher Herkunft nachweisen (2. Bd., S. 367). Unter dem
Stichwort Zentrum und Peripherie – Rußland und England – verdeutlicht Blickle
am Beispiel der genannten Länder, daß das von ihm entwickelte
Kommunalismuskonzept in Europa nicht ausnahmslos Verbreitung gefunden hat.
Im zweiten Teil: Formen und Figurationen,
überträgt Blickle im Prinzip die im ersten Band für Oberdeutschland
vorgestellten Ergebnisse auf die europäische Ebene. Die behandelten Probleme
sind im wesentlichen die gleichen, wenn auch in mitunter abweichender
Gewichtung: Institutionen (Gemeindeversammlung, Räte und Gerichte, kommunale
Repräsentation), Friede und gemeiner Nutzen. Von zentraler Bedeutung ist dabei
die regelmäßig und in periodischen Abständen zusammentretende Gemeindeversammlung;
für Blickles Kommunalismuskonzept hat gerade die Periodizität dieser
Institution Verfassungsrang (2. Bd., S. 373f.).
Der Kommunalismus ermöglicht
Interessenausgleich und Konfliktlösungen, schafft kommunale Bündnisse im
städtischen und ländlichen Bereich und dient in gleicher Weise der regionalen
Friedenssicherung wie dem Widerstand gegenüber der Herrschaft. Das führt
Blickle zu seiner insoweit abschließenden Definition von Kommunalismus:
Kommunalismus
wäre demnach eine regional verbreitete Formation der willentlich geschaffenen
lokalräumlichen Organisation des Alltags durch das periodische Zusammentreten
der haushäblichen Gemeindebürger und deren Recht, die lokalen Normen zu
definieren und ihre Durchführung der ehrenamtlichen Wahrnehmung durch
Repräsentanten zu übertragen. Die Organisation des Alltags richtet sich vorrangig
auf zwei Ziele, die Schaffung und Sicherung von Frieden und gemeinem Nutzen.
Der moderne Staat, dessen Vorform in Gestalt von Königreichen und Fürstentümern
die Gemeinde durchaus duldet, gewinnt und zieht folglich zwei seiner definitorischen
und legitimatorischen Zwecke als Zuschreibungen aus dem Kommunalismus. (2. Bd.,
S. 374).
Im dritten Teil: Kommune und Staat – Praxis
und Theorie, beleuchtet der Verfasser das Verhältnis der verschiedenen Theorien
gesellschaftlichen Verhaltens und deren Umsetzung in der Praxis kommunaler
Gemeinden. Einbezogen werden in diesem Zusammenhang Theorien vom Spätmittelalter
bis ins 19. Jahrhundert.
Abschließend wendet Blickle sich betont
und bewußt verhalten den kommunalen Erbschaften im modernen Staat zu. Zu Recht
werden dabei besonders die fundamentalen Strukturelemente des Kommunalismus
betont: Frieden, gemeiner Nutzen, Freiheit und Gerechtigkeit. Der Sache nach
dem Kommunalismus ebenfalls immanent, wenngleich begrifflich mindestens in den
Hintergrund tretend, ist die Gleichheit im Sinne von Pflichtengleichheit.
Hierin und insoweit sieht Blickle im Kommunalismus einen Wegbereiter des modernen
Staates (2. Bd., S. 382), ohne damit einer Kontinuität vom Kommunalismus zum
Parlamentarismus das Wort zu reden. Für ihn ist Kommunalismus eine Form des gesellschaftlichen
Aggregatzustandes, der Clans politisch entmachtet hat (nur die europäische
Hocharistokratie behauptet diese Form weiter), die Familien aber noch nicht in
die Individualisierung entlassen hat. Häuser mit ihrer spezifischen Art des
Wirtschaftens, die auf Nachbarschaft angewiesen war, rückten zusammen und
organisierten demonstrativ (coniuratio) oder pragmatisch den Alltag.
Mit dem Ende des Ancien Regime war auch
des Ende des Kommunalismus verbunden. Die Bedingungen seiner Existenz waren
entfallen. Allerdings ist Blickles Fazit zuzustimmen, daß der Kommunalismus als
historische Kategorie durchaus in begrenztem Umfang impulsgebend für die
Moderne zu sein vermag (1. Bd., S. 179). In seiner Rigorosität und polemischen
Zuspitzung etwas überzogen wirkt hingegen das – der Sache nach grundsätzlich
wohl zutreffende – Urteil über den Zustand der Geschichtswissenschaft des 19.
und 20. Jahrhunderts, wie es mit Bezug auf die europäische Dimension seines
Kommunalismuskonzepts zusammenfassend im 2. Bd. formuliert ist:
Wieviel Anachronismus nistet in einer Geschichtswissenschaft,
die am Ende des 20. Jahrhunderts, nach einem trotz Rückschlägen über
200 Jahre fortschreitenden Prozeß der
Demokratisierung Europas, die Geschichte als eine solche der Staufer, Wittelsbacher, Habsburger und
Hohenzollern schreibt (S. 359).
Bochum Bernd
Schildt