RüthersDemokratischesdenken20010328
Nr. 10326 ZRG 119 (2002) 61
Demokratisches
Denken in der Weimarer Republik, hg. v. Gusy, Christoph (=
Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat 16). Nomos, Baden-Baden 2000. 681
S.
Über
antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik ist, angestoßen durch K.
Sontheimers Buch dazu von 1962[1],
viel geschrieben und geredet worden; soviel, dass es zeitweilig scheinen
konnte, als habe es demokratisches Denken in den vierzehn Jahren der ersten
Republik kaum gegeben.
Vom
22.-24. März 2000 fand im Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld
eine Tagung zum demokratischen Denken in der Weimarer Republik statt. Der hier
anzuzeigende Sammelband gibt überwiegend die dort gehaltenen Vorträge wieder.
Das Thema wurde unter vielfältigen Aspekten und mit unterschiedlichen
Vorverständnissen und Perspektiven behandelt. Nach einer Einführung in das
Thema („Entstehungsbedingungen und Vorfragen“) von Ch. Gusy werden in einem
ersten Abschnitt („Vorbedingungen“) die Ausgangslagen einzelner Lebensbereiche
analysiert: das Phänomen der „Massendemokratie“ (M. Llanque), das demokratische
Denken in der Weimarer Geschichtswissenschaft (A. Wirsching), in der
Philosophie (U. Steinvorth), in der Verfassungsdiskussion der
Nationalversammlung (J.-D. Kühne) und bei Thomas Mann (R. Mehring) erörtert.
Der
zweite Abschnitt behandelt die Weimarer Ansätze zu einer modernen
Demokratieauffassung und ist auf das Denken und die Rolle einzelner
staatsrechtlicher Professoren gerichtet, nämlich Richard Thoma (C.
Schönberger), Gustav Radbruch (R. Poscher), Hans Kelsen und Hugo Preuß (D.
Lehnert), Hermann Heller (D. Schefold), Rudolf Smend (R. Lhotta) sowie Gerhart
Leibholz (M. Wiegandt).
Im
dritten Abschnitt werden als „Hauptprobleme demokratischen Denkens“ in Weimar
erörtert: „Staatstheorie und Demokratiebegriff“ (O. Lepsius), „Das
parlamentarische Gesetz als Entscheidungsform“ (C. Möllers), „Nationale
Demokratie und Parteienstaat“ ( U. F. H. Rühl), „Die
Weimarer Staatsrechtslehre im Verfassungsnotstand“ 1932/33“ (St. Korioth). H.
Buchstein behandelt im vierten Abschnitt „Die sozialistische Alternative“ unter
dem Titel „Von Max Adler zu Ernst Fraenkel“. Dazu wäre im Hinblick auf den
fanatischen Kampf der marxistisch-leninistischen Gruppen gegen die Weimarer Demokratie
manches mehr zu sagen gewesen. Das demokratische Denken in Weimar lässt sich
wohl nur im Zusammenhang der antidemokratischen „großen Koalition“ aus
Nationalsozialisten und Kommunisten zutreffend darstellen und verstehen. Dieser
Aspekt fehlt in dem Buch fast völlig. Der fünfte Abschnitt „Zusammenfassung und
Ausblick“ konzentriert sich auf den Richtungsstreit in der
Staatsrechtswissenschaft von Weimar (H. Boldt), auf „Fragen an das
‚demokratische Denken’ in der Weimarer Republik“ (Ch. Gusy) sowie ein „kurzes
Fazit“ zum Thema (C. Schöneberger) und einen Diskussionsbericht (G. Nitz).
Die
einzelnen Beiträge sind nach Umfang und Qualität recht unterschiedlich. Sie
stehen nach Inhalt und Methode oft unverbunden nebeneinander. Es fällt schwer,
ein einheitliches Konzept der in dem Band dokumentierten Veranstaltung zu
erkennen. Vielleicht spielt auch der Zeitfaktor eine Rolle: Die dokumentierte
Tagung fand im März 2000 statt. Im Oktober 2000 wurde der Band in den Druck
gegeben. Die heiße Nadel, mit der hier genäht wurde, und die Vorläufigkeit der
erzielten Ergebnisse zeigen sich beispielhaft an den zusammenfassenden
Beiträgen von Boldt (S. 608ff.), Gusy (S. 635ff.), Schönberger (S. 664ff.) und
Nitz (S. 670ff.).
Insgesamt
vermittelt der voluminöse Sammelband, dem leider, wohl auch aus Zeitgründen,
jegliche Register fehlen, gleichwohl einen interessanten Überblick über das
staatstheoretische Denken in der Weimarer Zeit. Die Autoren sind - mit wenigen
Ausnahmen – auf das Staatsrecht, die allgemeine Staatslehre und die
Staatsphilosophie fixiert. Der Hauptakzent liegt überwiegend, wie oft bei
juristischen Erörterungen, auf der Ziselierung von begrifflichen
Unterscheidungen. Die außenpolitischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und
innenpolitischen Rahmenbedingungen tauchen, soweit überhaupt, nur am Rande und
schemenhaft auf.
Könnte
es sein, dass, wer das „demokratische Denken“ in der Weimarer Zeit verstehen
will, von außerjuristischen Fakten ausgehen muss? Etwa von der unverdauten
militärischen Niederlage und der Revolution von 1918, welche die Republik von
Anfang für nicht wenige als einen auf „Unrecht“ gegründeten Staat erscheinen
ließ? Oder von der Depossedierung weiter Teile des Bürgertums in der Inflation
von 1923, die das Kaiserreich verursacht hatte, die aber der jungen Republik
angelastet wurde? Oder von dem Friedensdiktat der Siegermächte in Versailles?
Oder der Weltwirtschaftskrise mit ihrem Millionenheer unversorgter hungernder
Arbeitsloser und ihrer Familien? Oder von den regelmäßigen Straßenschlachten,
Schießereien mit zahlreichen Toten, die der permanente Bürgerkrieg bewaffneter
Privatarmeen der radikalen demokratie-feindlichen Parteien (SA und
Rotfrontkämpferbund) nach 1928 wöchentlich auf Deutschlands Straßen
verursachte? In der Endphase war die demokratische Republik nicht mehr in der
Lage, die Urbedürfnisse der Menschen nach sozialer und nach innerer Sicherheit
zu erfüllen.
Die
Schwäche des demokratischen Denkens in Weimar hatte vielfältige Ursachen. Die
Vielfalt und Gegensätzlichkeit der demokratie- und staatstheoretischen Ansätze
spielten dabei nur eine relative, eher nachrangige Rolle. „Die Wirtschaft ist
unser Schicksal!“ hat der ermordete Walter Rathenau mit Hellsicht für ein
ganzes Jahrhundert vorausgesagt. Der Satz hat sich für die Weimarer Republik
wie 70 Jahre später für die Sowjetunion und den Ostblock als zutreffend
erwiesen. Das „demokratische Denken in der Weimarer Republik“ lässt sich wohl
nur in einer breit angelegten interdisziplinären Untersuchung erfassen, die
weit über die Staatstheorie hinausreicht.
Konstanz Bernd
Rüthers