RanieriRechtskultur20010129 Nr. 10324 ZRG 119 (2002) 54

 

 

Rechtskultur, Rechtswissenschaft, Rechtsberufe im 19. Jahrhundert. Professionalisierung und Verrechtlichung in Deutschland und Italien, hg. v. Dipper, Christof (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 35). Duncker & Humblot, Berlin 2000. 167 S., Tab., Abb.

 

Im Dezember 1993 trafen sich in den Räumen der Werner-Reimers-Stiftung in Bad Homburg 15 deutsche und italienische Historiker und Rechtshistoriker zu einem wissenschaftlichen Kolloquium zu den historiographischen Problemen der Modernisierung und Professionalisierung der juristischen Eliten in der jüngeren und jüngsten Geschichte beider Länder. Die Akten werden hier nunmehr publiziert. Der vorliegende Band enthält allerdings nur einen Teil der damals vorgetragenen Diskussionsbeiträge: Von der damaligen deutsch-italienischen Ausrichtung der Arbeitstagung gibt der Sammelband insoweit nur zu einem geringen Teil Zeugnis, weil nur der Beitrag eines italienischen Historikers veröffentlicht werden konnte. Die Problematik der Modernisierung und Professionalisierung der juristischen Berufe spricht in der Tat eines der zentralen Themen der Herausbildung des modernen Verwaltungs- und Rechtsstaates in der europäischen Geschichte der Neuzeit an. Die Literatur auf diesem Gebiet ist inzwischen beträchtlich. Manche grundlegenden Beiträge sind in der Zwischenzeit gerade von einigen der Teilnehmer an der damaligen Tagung vorgelegt worden. Die hier abgedruckten Aufsätze beschränken sich deshalb zum Teil auf die damals vorgetragene Vortragsfassung mit einigen wenigen bibliographischen Nachweisen. In Anbetracht der inzwischen erschienenen Literatur - auch seitens einiger Autoren des Sammelbandes - wirkt derselbe sieben Jahre nach der Tagung ein bißchen veraltet. Bereits 1993 war die Problematik der Professionalisierung juristischer Berufe in der rechtshistorischen Forschung keinesfalls unbekannt. Der Herausgeber schreibt in seinem Vorwort (S. 5-6): „Einsichten oder vielleicht bescheidener: holzschnittartige Skizzen wie diese finden sich in keiner historischen Überblicksdarstellung, aber auch in Werken, in denen Juristen ihre eigene Tätigkeit beschreiben und historisch reflektieren, sucht man solche Thesen vergebens. Man wird deshalb von einem Defizit an Beschreibung dessen sprechen dürfen, das einen Vorgang betrifft, der fraglos zur Signatur unserer Moderne zählt: eben der Verrechtlichung.“ Eine solche Wiedergabe des damaligen, umso mehr des heutigen Forschungsstandes, scheint dem Rezensenten etwas allzu einseitig ausgefallen zu sein. Der Rezensent selbst hat sich in den 80er Jahren gerade mit den Problemen der Verrechtlichung und Professionalisierung von juristischen Berufen ausgiebig befaßt (siehe etwa F. Ranieri, Vom Stand zum Beruf. Die Professionalisierung des Juristenstandes als Forschungsaufgabe der europäischen Rechtsgeschichte der Neuzeit, in: Ius Commune 1985, S. 83-105; hier weitere umfassende Hinweise zum damaligen Forschungsstand).

Die Beiträge werden in drei Abschnitte gegliedert. In einem ersten Teil (S. 13-49) werden zwei Übersichtsaufsätze des Herausgebers selbst (Christof Dipper, Stationen der Verrechtlichung und Professionalisierung in Deutschland und Italien, S.13ff.) und des Trierer Historikers Lutz Raphael (Rechtskultur, Verrechtlichung, Professionalisierung. Anmerkungen zum 19. Jahrhundert aus kulturanthropologischer Perspektive, S. 29ff.) vorangestellt. Besonders lesenswert sind die Ausführungen Dippers über die unterschiedlichen Verläufe der Professionalisierung juristischer Berufe in den deutschen Territorien und in den italienischen präunitarischen Staaten des 19. Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle spielt in der italienischen Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts die italienische Anwaltschaft: sie beherrschte nämlich nicht nur die damalige rechtspolitische Diskussion, sondern vor allem auch die politische Entwicklung zur Vereinigung des italienischen Königreichs. Zutreffend wird deshalb von Dipper festgestellt: „Die national orientierten Juristen, d. h. die Advokaten, repräsentieren die Moderne, während das Recht, obgleich seit 1865 für das gesamte Königreich kodifiziert, ebenso wie die Bildungsinstitutionen erst noch modernisiert, nämlich an die gewandelten Bedürfnisse der Nation angepaßt, werden mußte. ‚Auf politischer Grundlage einer Wissenschaft der Modernisierung‘ - so könnte man im Hinblick auf Italien das auf Deutschland gemünzte Zitat verändern. Mit anderen Worten: Das Recht sollte zur ‚scienza nazionale‘ werden“ (so S. 21-22). Der Beitrag von Raphael beleuchtet das Rahmenthema aus erfahrungsgeschichtlicher Sicht. Er zeigt, wie sehr das im 19. Jahrhundert geschaffene Bürgerliche Recht den Vorstellungen, Normen und Interessenlagen der bildungsbürgerlichen Minderheit entsprach, und mit welchen Distanzierungstechniken diese Minderheit mit Hilfe nicht zuletzt des Gedankens des Rechtsstaates die Macht weitgehend in ihre Hand brachte. In einem zweiten Abschnitt (S. 51ff.) wird die Problematik der Professionalisierung vor allem in Bezug auf die Berufe von Richtern und Anwälten beleuchtet. Marcel Erkens, Die französische Friedensgerichtsbarkeit 1789-1814 unter besonderer Berücksichtigung der vier rheinischen Departements (S. 51ff.), und Ute Schneider, Vom Notabelnamt zur Amtsprofession. Herkunft, Karrieren und Rechtsalltag rheinischer Friedensrichter im 19. Jahrhundert (S. 63ff.), beschäftigen sich mit der Ausgestaltung und Modernisierung der Friedensgerichte in den Rheinprovinzen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Besonders interessant sind hier die politischen Auseinandersetzungen in Verbindung mit der Rezeption dieses Rechtsinstituts aus dem französischen Prozeßrecht. Der Beitrag Ute Schneiders zeichnet sich auch durch die umfassende Dokumentation aus den rheinischen Archiven aus. Marcel Erkens faßt in seinem Beitrag seine inzwischen erschienene Dissertation „Die französische Friedensgerichtsbarkeit 1789-1814 unter besonderer Berücksichtigung der vier rheinischen Departements“, 1994, zusammen. Der Beitrag behält deshalb die ursprüngliche Vortragsform bei und verzichtet vollständig auf sonstige Dokumentationsnachweise. Auch die im zweiten Abschnitt weiter veröffentlichten Beiträge haben in der Zwischenzeit nach der Tagung Konkretisierung in zwei gewichtigen Publikationen gefunden. Der Beitrag Thomas Ormonds, Die Richter im Kaiserreich. Entwicklungstendenzen im Zeitalter der Professionalisierung und Verrechtlichung (S. 87ff.), faßt die inzwischen veröffentlichte gewichtige Dissertation des Verfassers zusammen (siehe Thomas Ormond, Richterwürde und Regierungstreue. Dienstrecht, politische Betätigung und Disziplinierung der Richter in Preußen, Baden und Hessen 1866-1918, 1994). Dasselbe gilt für den Beitrag Hannes Siegrists, Verrechtlichung und Professionalisierung. Die Rechtsanwaltschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert (S.101ff.). Auch dieser Beitrag faßt die wesentlichen Ergebnisse über die europäische Rechtsanwaltschaft im 19. und im frühen 20. Jahrhundert zusammen, die inzwischen in der grundlegenden Habilitationsschrift des Verfassers publiziert worden sind (siehe Hannes Siegrist, Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz [18.-20. Jahrhundert], 2 Bände, 1996). In einem dritten Abschnitt werden einige historisch-statistische Beiträge veröffentlicht. Der erste stammt von dem leider inzwischen verstorbenen Bielefelder Rechtshistoriker Christian Wollschläger (Italiens gesellschaftlicher Bedarf an Ziviljustiz seit dem 19. Jahrhundert. Die These der Justizialisierung im Lichte der historischen Statistik, S. 127ff.). Wollschläger hatte bereits in den vergangenen Jahrzehnten umfassende historisch-statistische Untersuchungen über die Zivilprozeßstatistik deutscher Territorien vorgelegt (siehe etwa Zivilprozeßstatistik und Wirtschaftswachstum im Rheinland von 1822-1915, in: Klaus Luig u. a. (Hrsg.), Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition. Symposion zu Ehren von Franz Wieacker, 1980, S. 370-398). Hier werden die Daten in den italienischen statistischen Jahrbüchern analysiert. Die Ergebnisse bestätigen allerdings die Entwicklungstendenzen, die Wollschläger für die deutschen Territorien ermittelt hatte, nicht ohne weiteres. Insbesondere die Zivilprozeßfrequenz in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg scheint sogar zurückzugehen. Wollschläger (S. 141) formuliert Bedenken über die Gründe einer solchen Entwicklung. „Das größere Volumen an Rechtsbeziehungen, das durch höhere Produktion entstand, wurde also ohne vermehrtes Eingreifen der Justiz verarbeitet“ (S.141). Der wahre tiefere Grund für diese Entwicklung liegt nach Ansicht des Rezensenten vor allem darin, daß die Reform des italienischen Zivilprozeßrechts in den Jahren 1940/41 seinerzeit gescheitert ist. Auch die in der Nachkriegszeit in Italien immer wieder durchgeführten Novellierungen des Codice di procedura civile haben die praktische Funktionsunfähigkeit der Justiz nicht bewältigen können. Für die italienische Gerichtspraxis ist die Flucht der Parteien von den Zivilgerichten und das exponentielle Wachstum von privaten Schiedsgerichten deshalb seit Jahrzehnten besonders typisch. Auch der letzte Beitrag in diesem Abschnitt, derjenige des italienischen Historikers am europäischen Universitätsinstitut in Florenz Raffaele Romanelli (Die Familie in der italienischen Zivilgesetzgebung. Von der Ideologie des Gesetzbuchs zur Gerichtspraxis, S. 145ff.) basiert auf der Auswertung einiger italienischer statistischer Daten. Es geht hier vor allem um familienrechtliche Prozesse im Ehe- und Scheidungsrecht und in der familienrechtlichen freiwilligen Gerichtsbarkeit. Die vorgelegten statistisch-historischen Daten bleiben allerdings sehr spärlich, so daß der Beitrag - wenigstens nach dem Eindruck des Rezensenten - sich weitestgehend auf spekulative Einsichten des Verfassers stützt. Umfassendere historisch-statistische Auswertungen und ein weit breiteres Quellenmaterial wären in der Tat erforderlich gewesen, um die Thesen des Verfassers zu stützen.

Insgesamt enthält der Sammelband einige lesenswerte Beiträge. Eine zentrale Rolle in der Professionalisierungs- und Verrechtlichungsdiskussion wird der Band allerdings wohl nicht mehr spielen, zumal inzwischen gewichtige, z. T. grundlegende Beiträge von einigen der hier beteiligten Autoren publiziert wurden. Schmerzlich bleibt insbesondere das Fehlen der italienischen Vorträge. Dadurch bleibt der komparativ-historische Vergleich weitgehend auf die Einführung des Herausgebers beschränkt.

 

Saarbrücken                                                                                                  Filippo Ranieri