RanieriProzessakten/Baumann20010622 Nr. 10393 ZRG 119 (2002) 43/Nr. 10378 42
Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, hg. v. Baumann, Anette/Westphal, Siegrid/Wendehorst, Stephan/Ehrenpreis, Stefan (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 37). Böhlau, Köln 2001. X, 281 S.
Baumann,
Anette, Die
Gesellschaft der frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse.
Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (= Quellen
und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 36). Böhlau, Köln
2001. 178 S.
Die rechts-, sozial- und verfassungshistorischen Untersuchungen zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts und im allgemeinen zur Justiz im Alten Reich haben in den letzten Jahrzehnten einen beachtlichen Aufschwung erfahren. Die bis heute weit fortgeschrittene Neuverzeichnung der kammergerichtlichen Prozeßakten sowie der Einfluß der von Bernhard Diestelkamp angeregten Dissertationen und weiteren Forschungen haben inzwischen einen sichtbaren Niederschlag in einer Reihe bedeutsamer Bände der Reihe der „Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ gefunden. Hierzu gehören die beiden hier zu präsentierenden Bände. Sie gehen beide in einer gewissen Weise ebenfalls auf den wissenschaftlichen Einfluß Bernhard Diestelkamps zurück. Beide Projekte sind nämlich im Umfeld der Forschungsstelle zur Reichskammergerichtsforschung, die in Wetzlar Mitte der 80er Jahre auf Initiative Diestelkamps errichtet wurde, entstanden. Im Jahre 1996 fand sich am Rande des Historikertags in München eine Gruppe von Archivaren, Doktoranden und Habilitanden der Geschichts- und Rechtswissenschaft zusammen, die auf dem Gebiet der Forschung zu den Reichsgerichten tätig waren. Aus dem wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch ist damals ein „Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit“ hervorgegangen. Diese enge Kooperation mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar konkretisierte sich zu einer wissenschaftlichen Tagung unter dem Titel „Reichsgerichtsakten als Quelle: Multiplexe Zugänge zur Reichsgerichtsbarkeit im Alten Reich“. Die damals vorgetragenen Forschungsergebnisse werden nunmehr im ersten der hier angezeigten Bände publiziert. Die damals vorgetragenen Beiträge sind z. T. für die Schriftfassung erheblich ausgeweitet und umfassend dokumentiert worden. Sehr klug war die Idee, am Ende eine englischsprachige Zusammenfassung, die in einem Fall sogar auch ein Teil der Dokumentation mitumfaßt, anzuhängen. Dadurch ist sichergestellt, daß diese Beiträge auch im angloamerikanischen Bereich Beachtung finden werden. Einiges sei zunächst zu Struktur und Inhalt dieses Sammelbandes berichtet.
Die hier publizierten Beiträge gehen auf die Arbeitserfahrung der jeweiligen Verfasser in der praktischen Arbeit mit den Prozeßakten des Reichskammergerichts zurück. Einige der Autoren arbeiten an der Neuverzeichnung der kammergerichtlichen Prozeßakten, andere haben Dissertationen zur kammergerichtlichen Rechtsprechung vorgelegt. Eine erste Gruppe von Beiträgen betrifft die methodischen Probleme der quellenhistorischen Zugänge zur Reichsgerichtsbarkeit, eine zweite umfangreichere Gruppe von Beiträgen behandelt Teilaspekte der Funktion dieser Gerichtsakten als rechtshistorische Quelle. Die Beiträge bleiben hier relativ disparat und spiegeln die jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsinteressen der Verfasser wider. So behandelt R. J. Weber, „Probleme und Perspektiven der Kommissionsforschung am Beispiel der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Sigmaringen“ (S. 83-100), E. Ortlieb schreibt über „Gerichtsakten und Parteiakten. Zur Überlieferung der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats“ (S. 101-118); ebenfalls dem Reichshofsrat ist der Beitrag von B. Staudinger, „Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte“ (S. 119-140) gewidmet. Spezifischen prozeßrechtlichen und quellenhistorischen Interessen sind andere Beiträge zugedacht: R. P. Fuchs, „Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit“ (S. 141-164); G. Recker, „Prozeßkarten in den Reichskammergerichtsakten. Ein methodischer Beitrag zur Erschließung und Auswertung einer Quellengattung“ (S. 165-182). Weitere Beiträge bleiben eher der Landes- und Rechtsgeschichte verbunden: A. Brunotte, „Heinrich Zehender, Ratsherr zu Offenburg, und die Türkenschlacht vor Wien 1532. Ein Beitrag zum Quellenwert reichskammergerichtlicher Injurienprozesse für die Regionalgeschichte“ (S. 183-193); L. Pelizaeus, „Das Bemühen Hessen-Kassels um das Privilegium de non appellando illimitatum“ (S. 195-217) sowie der Beitrag N. Jörns, „Gerichtstätigkeit, personelle Strukturen und politisch relevante Rechtsprechung am Wismarer Tribunal 1653-1815“ (S. 219-257)). Ohne die Bedeutung dieser Beiträge im zweiten Teil des Bandes schmälern zu wollen, sei jedoch vorweg vermerkt, daß die grundsätzlichen und weitreichenderen Beiträge im ersten, methodischen Teil plaziert wurden.
Nach einer Einleitung, die Sinn und Zweck der Tagung erläutert, folgen ein ausführlicher Beitrag von P. Oestmann, „Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem“ (S. 15-54) sowie zwei Beiträge, die sich mit der historisch-quantitativen Auswertung der Reichskammergerichtsakten befassen: A. Baumann, „Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten“ (S. 55-67) sowie M. Hörner, „Anmerkungen zur statistischen Erschließung von Reichskammergerichtsprozessen“ (S. 69-81). Der Beitrag Oestmanns zur Quellenlage im 16. und 17. Jahrhundert dürfte wegen seiner umfassenden Analyse und z. T. ausführlichen Dokumentation als grundlegend zu diesem Thema anzusehen sein. Der Verfasser hat übrigens bereits andernorts gezeigt, wie souverän er mit der historischen Überlieferung der kammergerichtlichen Judikatur umzugehen weiß und wie diese historischen Quellen zum Sprechen gebracht werden können: vgl. P. Oestmann, „Hexenprozesse am Reichskammergericht“, Köln-Weimar-Wien 1997 sowie Oestmann, „Germanisch-deutsche Rechtsaltertümer im Barockzeitalter. Eine Fallstudie“, Wetzlar 2001. Besonders wichtig scheint mir hier der ausführliche Nachweis durch den Verfasser, daß eine systematische Verbindung zwischen der archivalischen Überlieferung der kammergerichtlichen Prozeßakten und den gedruckten Sammlungen aus der Kameralliteratur möglich ist (S. 26ff.). Von nahezu allen in den gedruckten Sammlungen nachgewiesenen Urteilen lassen sich nämlich bei genügender Beherrschung der archivalischen Überlieferung - vor allem in Anbetracht der heute weitgehend vorliegenden Neuverzeichnung - auch die entsprechenden Prozeßakten ermitteln. Einige Ansatzpunkte in diese Richtung hatte der Rezensent bereits vor vielen Jahren in einem in Italien erschienenen Beitrag gegeben, worauf Oestmann dankenswerterweise verweist (S. 33). Was nicht erwähnt wird - übrigens auch nicht von A. Baumann -, ist, daß sich in der Wetzlarer Arbeitsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung noch die vollständige Arbeitskartei des Rezensenten aus seinem inzwischen mehr als 25 Jahre zurückliegenden Habilitationsprojekt befindet. Hierfür wurden systematisch sämtliche Einträge in den gedruckten Sammlungen von Urteilen und Aktenrelationen aus dem 16.-18. Jahrhundert ausgewertet (etwa aus den „Wetzlarer Nebenstunden“ des Assessors J. W. Cramer). In nahezu allen Fällen gelang es, anhand der damals bereits existierenden Verzeichnisse von Prozeßakten die Verbindung zu der oder den Akten, die hinter den abgedruckten Urteilen bzw. Aktenrelationen existieren, herzustellen. Die von Oestmann geforderte Kollationierung und Auswertung der gedruckten Kameralliteratur ist insoweit bereits weitestgehend geschehen: Bei der Gründung der Wetzlarer Forschungsstelle stellte der Rezensent seine Materialien der Forschungsstelle gerade zur Verfügung, um sie der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Beiträge A. Baumanns und M. Hoerners sind den methodischen Fragen einer historisch-quantitativen Auswertung der kammergerichtlichen Aktenüberlieferung gewidmet. A. Baumann hat das in diesem Aufsatz angekündigte und kurz beschriebene Projekt im wesentlichen verwirklicht: Dem ist der zweite, hier angezeigte Band gewidmet. M. Hoerner war und ist an der modernen Neuverzeichnung der im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrten Prozeßakten beteiligt (vgl. zuletzt M. Hoerner [Bearb.], Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Reichskammergericht, Bd. 5, Nr. 429-1839. Buchst. B, Bayerische Archivinventare, Nr. 5016, München 1999). Bei einer solchen Thematik, insbesondere bei der Frage der methodischen Voraussetzungen für eine quantitative Auswertung dieser Prozeßaktenüberlieferung, war es naheliegend, daß sich beide Autoren mit dem Ansatz und mit den Ergebnissen der Habilitationsschrift des Rezensenten auseinandersetzten (F. Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Bände, Köln-Wien 1985; dazu in dieser Zeitschrift H. Schlosser, Rom. Abt.104, 1987, S. 801-807; H. Duchhard, Germ.Abt. 104, 1987, S. 370-372). Eine grundsätzliche Diskussion und Erörterung dieses methodischen Ansatzes im Rahmen einer Rezension ist offenkundig nicht möglich. Die Ergebnisse von Frau Baumann in ihrer Untersuchung zur Rechtsprechung des Reichskammergerichts im 17. und 18. Jh. zeigen im wesentlichen, daß sich der damals vom Rezensenten gewählte Ansatz als wegweisend und ertragreich erwiesen hat. Im einzelnen bleibt freilich auch Einschränkendes und Kritisches zur damaligen Arbeit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zu vermelden. Die kritischen Bemerkungen, vor allem M. Hoerners, verkennen allerdings, daß sich der Stand der elektronischen Datenverarbeitung Ende der 70er Jahre in einem historischen Zustand befand, den sich heute kaum jemand, der mit der derzeit zur Verfügung stehenden Software und Hardware umzugehen weiß, vorstellen kann (so zutreffend A. Baumann, Die quantifizierende Methode, S. 60). Die technischen Voraussetzungen für eine statistische Auswertung und nicht zuletzt auch die Art und die Tiefenschärfe der statistischen Aufbereitung der gewonnenen Daten waren deshalb damals zwar auf der Höhe der Zeit, können aber heute bestenfalls nur als ein historisches Vorbild gelten. M. Hoerner setzt sich insbesondere kritisch mit der Repräsentativität der seinerzeit vom Rezensenten ausgewählten Stichprobe anhand der Akten des Buchstabens A aus den damals vorhandenen Inventaren von kammergerichtlichen Prozeßakten auseinander. Daß man damals - übrigens neben einer sehr partiellen Vollauswertung - diesen Buchstaben als statistische Stichprobe aussuchte und auswertete, hing nicht zuletzt damit zusammen, daß eine Neuverzeichnung von größeren Aktenbeständen bis dahin nur ansatz- und probeweise vorgenommen worden war. Der Rezensent war deshalb mit einer mit der heutigen Quellenlage nicht vergleichbaren Situation konfrontiert. Das Auswählen einer Stichprobe über den Anfangsbuchstaben des Namens des Klägers ist - nicht zuletzt bei Berücksichtigung der Praxis der Geschäftsstelle in Wetzlar beim Anlegen der Kameralakten - verständlicherweise mit einer mathematischen Stichprobe nicht voll vergleichbar. Je kleiner die Zahl der Einheiten einer statistischen Stichprobe in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal ist, desto unschärfer bleibt übrigens die entsprechende Aussage, mit anderen Worten: der Fehlerkoeffizient, der damit verbunden ist, kann u. U. eine solche Aussage relativieren und entwerten. Das gilt möglicherweise für Aussagen bezüglich kleiner Territorialeinheiten. Darauf wurde seinerzeit vom Rezensenten auch hingewiesen. Es ist insoweit nicht konstruktiv, auf der Höhe der heutigen Quellenerschließung die Frage der Repräsentativität mancher damaligen Ergebnisse in Bezug auf bestimmte Territorien im einzelnen in Frage zu stellen. Was die mathematischen Voraussetzungen hinsichtlich der Fehlerberechnung einer statistischen Stichprobe angeht, so befindet sich M. Hoerner - der dem Rezensenten einen Fehler unterstellt (S. 69, Fn. 3) - leider im Unrecht: Es ist dem Leser dieser Zeitschrift verständlicherweise nicht zumutbar, dies im einzelnen hier zu erläutern; der Rezensent, der übrigens über eine vorzügliche mathematische Kompetenz verfügt, ist allerdings gern bereit, Herrn Hoerner dies andernorts zu erklären. Bei dem Projekt A. Baumanns konnten der Umfang und die Qualität der Stichprobe wesentlich vergrößert werden. Im Mittelpunkt stehen jetzt die Regesten der Prozeßakten auf dem Stand der Neuverzeichnungen in den einzelnen Archiven bis Ende 1998. Die Daten einer relationalen Datenbank wurden nach dem Klägernamen der Buchstaben A bis E ausgewertet. Hinzu kamen die bis 1998 noch nicht publizierten Verzeichnisse zu den Buchstaben D und E der Klägernamen aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München sowie diejenigen zu den Buchstaben A und C des Pfälzer Bestandes desselben Archivs. Es handelt sich dabei um Informationen zu ca. 6000 Datensätzen, also zu etwa 7,5 % der gesamten geschätzten kammergerichtlichen Aktenüberlieferung. Der größere Umfang der Stichprobe und vor allem die weit besseren Inhaltsangaben bei den modernen Neuverzeichnungen der letzten fünfzehn Jahre ermöglichen es zweifelsfrei, eine größere Repräsentativität und Genauigkeit zu erreichen als die Datenbasis, über die der Rezensent seinerzeit verfügen durfte. Um die Vergleichbarkeit mit den Ergebnissen des Rezensenten zu sichern, hat die Verfasserin die damals von ihm verwendeten Kategorien im wesentlichen beibehalten. Ausgewertet wurden die Daten zu der zeitlichen Entwicklung der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts (S. 17-31), ebenso zu dem Verhältnis zwischen Appellations- und erstinstanzlichen Verfahren (S. 61-64). Hinsichtlich der Schätzung des Geschäftsanfalls des Reichskammergerichts im 17. und 18. Jahrhundert erwähnt die Verfasserin überraschenderweise übrigens nicht die vom Rezensenten in der Miscellanea I. Th. de Smidt (Amsterdam 1988) publizierte Zeitreihe (dort S. 257), die bereits weitgehend ihren Ergebnissen entspricht. Auch die Herkunftsorte der Kläger (S. 32-60) und die Streitgegenstände der Prozesse (S. 84-100) finden Berücksichtigung sowie die Herkunft und soziale Schicht der Prozeßparteien (S. 65-83). Die langfristigen Tendenzen und die übergreifenden strukturellen Merkmale in der Tätigkeit des Reichskammergerichts, die die Analysen A. Baumanns offenbaren (siehe die eindrucksvollen statistischen Tabellen in: Die Gesellschaft, S. 133-178), bestätigen vielmals die seinerzeit vom Rezensenten vorgelegten Thesen.
Für den Rechtshistoriker noch interessanter ist hier eine grundsätzlichere Überlegung. Es ist für den Leser einerseits erfreulich, andererseits jedoch auch mehr als ambivalent, daß sich erst in den letzten Jahren die Idee einer historisch-quantitativen Auswertung von historisch-juristischen seriellen Quellen, etwa von Gerichtsakten, in der rechts- und sozialhistorischen Forschung in Deutschland durchgesetzt hat. A. Baumann zitiert freundlicherweise eine ganze Reihe von Beiträgen des Rezensenten auf diesem Gebiet. Sie erwähnt allerdings nicht den ersten und in den Augen des Rezensenten wesentlichen methodischen Beitrag dazu (F. Ranieri, Rechtsgeschichte und quantitative Geschichte. Die Verwendung historisch-quantitativer Methoden bei der Auswertung der Notariatspraxis in der neueren Privatrechtsgeschichte, in: TRG 45 (1977), S. 333ff., insb. 346-361). Damals, also Mitte der 70er Jahre, versuchte der Rezensent, die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob die Methoden der damaligen, vor allem französischen und angloamerikanischen, „Histoire sérielle et quantitative“ auch für die Auswertung von rechtshistorischen Quellen Berücksichtigung erfahren durften. Gerade die „quantitative Geschichtsschreibung“ beherrschte am Anfang der 70er Jahre das Bild der internationalen sozialgeschichtlichen Forschung. In seinem methodischen Vorschlag versuchte der Rezensent also, Methoden und Fragestellungen der damaligen Sozialgeschichte auch im Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte fruchtbar zu machen. Damals war die Rezeption solcher Ansätze nicht gerade überwältigend: dem bewußten Versuch, die rechtshistorische Forschung von ihrem kultur- und rein ideengeschichtlichen Selbstverständnis zu emanzipieren, wurde im deutschen und italienischen Sprachraum vorwiegend mit Skepsis und Zurückhaltung begegnet. Es gab übrigens auch drastische Ablehnungen. Bezeichnenderweise waren die Reaktionen der angloamerikanischen und französischen Kollegen weit positiver. Bei aller erfreuten Genugtuung, daß diese methodischen Ansätze nunmehr auch in der deutschen rechtshistorischen Forschung eine so erfreuliche und umfassende Aufnahme erfahren, bleibt jedoch auch zu vermerken, daß die Idee einer „quantitativen Sozialgeschichte“, ausgerichtet auf die historisch-statistische Auswertung von seriellen Quellen, wozu etwa auch die Gerichtsakten gehören können, in der internationalen sozialgeschichtlichen Forschung heute kaum als aktuell und modern bezeichnet werden kann. Die französischen und angloamerikanischen, aber auch die deutschsprachigen Sozialhistoriker haben sich nämlich spätestens seit Mitte/Ende der 80er Jahre längst anderen anthropologischen und sozialgeschichtlichen Fragestellungen zugewandt. Ist die skeptische Frage hier erlaubt, ob die Rechtshistoriker vielleicht - mit einer gewissen provinziellen Verspätung - den Anschluß an die heutige sozialhistorische Diskussion wieder verpassen? Die quantitativen Arbeitsmethoden, die selbstverständlich heute als vollkommen legitim anerkannt sind, sind allerdings längst auch in ihren Leistungsgrenzen erkannt worden. Es ist inzwischen vor allem eingesehen worden, daß man sich bei solchen Untersuchungen vor einer vermeintlichen soziologischen Objektivierung von Geschichtsverläufen hüten muß: die Mikrohistorie, die soziologische Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der jeweiligen Zeitgenossen, wie sich auch aus untypischen Quellengattungen ergeben kann, spielen heute in der Sozialgeschichte eine ebenso wichtige, wenn nicht gerade noch wichtigere Rolle. Unter dieser Perspektive ist insoweit der bereits erwähnte Beitrag von R. P. Fuchs zur „Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der frühen Neuzeit“ als ausgesprochen „modern“ einzustufen. Was die Ergebnisse der quantitativen Auswertungen angeht, die A. Baumann für das 17. und 18. Jahrhundert vorgenommen hat, so bleibt festzuhalten, daß ihr Band eine Fülle von wichtigen und außerordentlich detailreichen Einzelheiten enthält sowohl hinsichtlich des säkularen Trends bei der Inanspruchnahme der Reichsjustiz als auch hinsichtlich der territorialen Wirkung des Reichskammergerichts bei der soziologischen und wirtschaftshistorischen Charakterisierung der Prozeßparteien und der Streitgegenstände, die diese vor Gericht führten. Besonders sinnvoll war es, daß A. Baumann - um die Vergleichbarkeit der Daten mit den Ergebnissen des Rezensenten Anfang der 80er Jahre zu ermöglichen - ihre statistische Untersuchung weitestgehend nach dem Vorbild und nach den Kategorien des damaligen Projekts angelegt hat. Verständlicherweise ist ihre edv-technische Aufbereitung der Daten und auch die von ihr vorgenommene elektronische Speicherung der Informationen in einer relationalen Datenbank heute schlechterdings mit der prähistorischen Arbeitsweise des Rezensenten Ende der 70er Jahre nicht vergleichbar. Die dabei erzielten Ergebnisse A. Baumanns sind außerordentlich wichtig. Sie bestätigen in weiten Teilen die Trends und viele der Thesen, die der Rezensent damals auf einer viel schmaleren und kleineren Datenbasis formulierte. Erwähnenswert ist hier auch, daß die von A. Baumann gewonnenen quantitativen sozial-, rechts- und verfassungshistorischen Daten, die eine wesentliche Bereicherung für eine Neubeschreibung des Rechtslebens des Alten Reiches in seiner letzten Phase bereits darstellen, eine Ergänzung durch weitere Untersuchungen erfahren, die mit historisch-quantitativen Methoden in den letzten Jahren anhand der neuerschienenen Archivverzeichnisse von kammergerichtlichen Prozeßakten - ebenfalls offenbar auf den Spuren des Rezensenten - vorgenommen worden sind. Hier seien etwa erwähnt: H. Gabel, „Beobachtungen zur territorialen Inanspruchnahme des Reichskammergerichts im Bereich des niederländisch-westfälischen Kreises“, in: B. Diestelkamp (Hrsg.), Das Reichskammergericht in der Geschichte. Stand der Forschungen, Köln-Wien 1990, S. 143-172; T. Freitag und N. Jörn, „Zur Inanspruchnahme der Obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806“, in: N. Jörn und M. North (Hrsg.), Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich, Köln-Wien 2000, S. 39-142. Wichtige historisch-statistische Hinweise sind auch in der Einleitung von I. Kaltwasser zum „Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495-1806“. Frankfurter Bestand, Frankfurt a. M. 2000, enthalten siehe hierzu etwa S.14, 21, 34).
Die beiden Bände enthalten insgesamt außerordentlich wichtige Beiträge zur Geschichte des Alten Reichs im 17. und 18. Jahrhundert. Die Untersuchung A. Baumanns wirft ein neues Licht auf die Funktion des Reichskammergerichts, vor allem im 18. Jahrhundert. in der letzten Phase seiner Tätigkeit. Hinzuzufügen gilt, daß die in Wetzlar angelegte Datenbank dort bereits allgemein benutzbar ist und zukünftig als Basis für ein Nachschlagewerk für den Gesamtbestand aller rund 80.000 Prozeßakten dienen kann, also als ideelle Wiedervereinigung des alten kammergerichtlichen Archivs. Diese ertragreichen Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit der Forschungsstelle in Wetzlar bestätigen, wie sinnvoll es seinerzeit gewesen ist, einen solchen historischen Forschungsschwerpunkt dort einzurichten. Es bleibt nur zu hoffen, daß weitere vergleichbare, ertragreiche Bände zur Geschichte des Alten Reiches noch von dort kommen können.
Saarbrücken Filippo Ranieri