PolaschekKreuz20010910 Nr. 10226 ZRG 119 (2002) 47
Kreuz, Petr, Postavení a působnost komorního soudu v soustavě českého zemského trestního soudnictví doby předbĕlohorské v letech 1526-1547 (Stellung und Wirkung des Kammergerichts innerhalb des böhmischen Landstrafgerichtswesens in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berge in den Jahren 1526-1547). Universitätsverlag Karolinum, Prag 2000. 419 S.
Die vorliegende Rezension beruht auf der deutschsprachigen Übersetzung der Zusammenfassung von Vladimír Cinke (S. 395-419). Während das materielle Strafrecht des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Böhmens sehr gut erforscht ist, befaßten sich strafprozeßrechtliche Darstellungen bislang vornehmlich mit der städtischen Gerichtsbarkeit. Dies muß insofern verwundern, als die Register des Amtsgerichts seit dem späten 15. Jahrhundert über weite Strecken erhalten geblieben sind und eine kompakte Quelle darstellen. Zum Teil liegen sie in edierter Form vor. Der Autor charakterisiert sie selbst als „ein sehr wertvolles und vielseitiges Quellenmaterial mit einem hohen Aussagewert nicht nur für die Rechtsgeschichte, sondern auch für die politische, Sozial-, Wirtschafts- und Regionalgeschichte, für die Geschichte der Mentalitäten, für die Geschichte der Städte sowie die Geschichte von Gemeinden, Patrimonien und aristokratischen Residenzen, die Genealogie des Adels u.s.w.“ (S. 401).
Als besonders ergiebig erwies sich für ihn die Gruppe der Spruchregister (bezeichnet u. a. als „Register der Befunde“, „Register der Aussagen“; S. 399). Diese enthalten die Namen der Streitparteien, eine Kurzbeschreibung der Klage, Teile des Verfahrens sowie den vollen Wortlaut des Urteils. Dem Autor standen für seinen Untersuchungszeitraum rund 780 strafrechtliche Fälle zur Verfügung (S. 397).
Zielsetzung seiner Arbeit war die Untersuchung der Bedeutung und des Wirkungsbereiches des Kammergerichtes, welches das zweitwichtigste ständische Gericht im Königreich Böhmen war. Die Wahl der beiden Eckdaten liegt auf der Hand: Im Oktober 1526 erfolgt die Wahl Ferdinand I. zum König von Böhmen, im Frühjahr 1547 wird die Macht der nichtkatholischen Stände nach deren bewaffnetem Aufstand nachhaltig gebrochen.
Das Kammergericht war am Ende des 14. Jahrhunderts - manche meinen um 1467 - als drittes königliches Gericht gegründet worden, nachdem im Land- und im Hofgericht der Adel die Vorherrschaft errungen hatte (S. 401f.). Auch dieses Gericht geriet rasch unter den Einfluß der Stände, zeitweise ersetzte es vollständig das Land- und das Hofgericht. Seit dem späten 15. Jahrhundert nahm der oberste Hofmeister des Königreichs Böhmen de facto den ständigen Vorsitz anstelle des Königs ein. Mit der Wladislawschen Landesordnung von 1500 wurde dieser Vorrang der Stände normativ bestätigt und das Kammergericht nach dem Landgericht zum zweithöchsten Gericht für das Königreich Böhmen.
Mängel in seiner Organisation - zuweilen fanden die Tagungen nur sporadisch statt, was zu erheblichen Verfahrensverzögerungen führte - bewogen Ferdinand I. dazu, 1527 das Hauptmannsgericht zu gründen. Dieses ging aber wenige Jahre später (1534) durch Zusammenlegung im Kammergericht auf, das sich nun aus zwölf Mitgliedern des Herren- und Ritterstandes zusammensetzen sollte, die vom König als Beisitzer ernannt wurden. Den Vorsitz hatte der oberste Hofmeister inne.
Der Autor unterteilt die von ihm untersuchten Fälle in zwei Gruppen. Die erste umfaßt 745 Fälle, in denen das Kammergericht unter dem Vorsitz des obersten Hofmeisters oder eines Stellvertreters (ein beauftragter Beamter) ein Urteil fällte. Die zweite - 33 Fälle - ist dadurch gekennzeichnet, daß dem Gericht der König selbst beziehungsweise ein von ihm eingesetzter Stellvertreter vorsaß.
In beiden Gruppen wurde eine Unterteilung der Delikte vorgenommen. Dabei ist zu beachten, daß die Zahl der Delikte deutlich größer als jene der Fälle ist (1199 in der ersten Gruppe, 59 in der zweiten). In beiden Gruppen überwogen Delikte gegen die Rechtsordnung, die Sicherheit und die öffentliche Ordnung, wenngleich in einzelnen Punkten zahlreiche Unterschiede festzustellen waren (S. 416). Weitere Klassifizierungen (etwa nach Straftypen oder nach Tätern) werden zumindest in der deutschen Zusammenfassung nicht vorgenommen.
Trotz der großen Menge an untersuchten Fällen lassen sich, so Petr Kreuz, „keine Schlüsse hinsichtlich der Struktur der Kriminalität der höheren Schichten der böhmischen ständischen Gesellschaft“ ziehen (S. 418). Inwieweit sich der politische Wandel von der Wahl Ferdinands zum böhmischen König bis hin zum offenen Widerstand gegen ihn in der Strafjustiz widerspiegelt, bleibt im deutschsprachigen Text offen. Die Andeutung, daß dazu und für ein paar andere Fragestellungen „einige zwar partielle, aber keineswegs wertlose Erkenntnisse“ (S. 419) gewonnen werden konnten, macht die Einschränkung auf den Zeitraum hinterfragbar.
Die deutschsprachige Zusammenfassung macht jedenfalls neugierig auf die Lektüre des Gesamttextes, ein Vergleich der Judikatur des Kammergerichtes mit jener anderer Gerichte aus dem deutschsprachigen Raum wäre sicher reizvoll.
Graz Martin F. Polaschek