Pauly20010405Fenske Nr. 10385 ZRG
119 (2002) 50
Fenske, Hans, Der moderne Verfassungsstaat. Eine vergleichende Geschichte von der Entstehung bis zum 20. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2000. XIII, 577 S.
Zwei Jahre nach Erscheinen von Wolfgang Reinhards „Geschichte der Staatsgewalt“, ausweislich des Untertitels eine „vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart“, hat nun Hans Fenske, ebenfalls Freiburger Historiker, eine thematisch verwandte Studie vorgelegt. Während Reinhard in der Breite einer Staatslehre umfassend Herrschaftsphänomene im europäischen Spektrum seit dem Hochmittelalter analysiert, begrenzt sich Fenske auf die Entwicklungsgeschichte des modernen Verfassungsstaates, den er in der Tradition der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 durch Gewaltenteilung und Individualrechtsgarantien charakterisiert sieht. Anders als Reinhard gliedert Fenske weitgehend nach Ländern und übersteigt den europäischen Rahmen. In der Bilanz weist Fenske weltweit zehn Zonen der Verfassungsentwicklung, davon sechs in Europa, aus. Den Verfassungsstaat sieht er dabei in zwei Ausprägungen, einer älteren in Form der konstitutionellen Monarchie und einer jüngeren in Form der Demokratie. Letztere soll ein allgemeines Wahlrecht kennzeichnen und, abgesehen von den Präsidialdemokratien, auch die Formierung der Regierung „gemäß“ den (wohl aber nicht „durch“ die) jeweiligen Parlamentsmehrheiten (S. 525). Auf Grund der Schablone der „schon“ und „noch nicht“ erreichten Standards erscheint das parlamentarische England den kontinentaleuropäischen Staaten so zwar lange Zeit voraus, eine Demokratie sei der britische Adelsstaat dennoch bis Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gewesen. Diese zweite Stufe von Verfassungsstaatlichkeit hätten vor dem ersten Weltkrieg nur wenige Staaten erreicht, darunter vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada, Neuseeland, die Schweiz, Frankreich und Teile Skandinaviens. Weil sich die revolutionäre französische Nationalversammlung des nordamerikanischen Vorbildes bewußt gewesen sei, votiert Fenske im klassischen Streit zwischen Georg Jellinek und Emile Boutmy gegen die französische Eigenständigkeitsdoktrin (S. 160f.). Zitiert werden dürfen hier auch Fenskes Einschätzungen, das französische Verfassungswerk von 1791 sei „nicht wirklich gelungen“ (S. 168) gewesen, die Verfassungspolitik seit 1792 habe „keine fruchtbaren Impulse“ mehr ausgesandt (S. 185) und die Nachgeschichte der Revolution wäre teils nicht Bürgerkrieg, sondern „Völkermord“ zu nennen (S. 175). Deutschland versteht Fenske als „normales Glied“ der europäischen Staatengruppe (S. 528), und sein Volk genauso viel oder wenig autoritätsgläubig wie andere Völker. Die Sonderwegsthese ist für Fenske „Geschichtsschreibung in politischer Absicht“ (ebd.), zunächst formuliert von den Kriegsgegnern 1914. Von einem langen Weg nach Westen kann Fenske zufolge keine Rede sein. Bei allem Materialreichtum und Verdienst der Studie, an solch sensiblen Stellen hätte man sich, selbst wenn man für Fenskes Grundposition Verständnis zeigt, deutlich mehr Akribie gewünscht.
Jena Walter Pauly