OlechowskiKohl20010329 Nr. 10323 ZRG 119 (2002) 57
Kohl,
Gerald, Die Anfänge der
modernen Gerichtsorganisation in Niederösterreich. Verlauf und Bedeutung der
Organisierungsarbeiten 1849-1854 (= Studien und Forschungen aus dem
Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 33). Niederösterreichisches
Institut für Landeskunde, Sankt Pölten 2000. 339 S., 7 Graph., 2 Kart., 16 Tab.
Rechtshistorische
Untersuchungen zur Gerichtsorganisation in Österreich sind spärlich. Das mag
wenigstens zum Teil daran liegen, daß das Thema auf den ersten Blick nicht
gerade „attraktiv“, sondern eher „trocken“ und lediglich „rechtstechnisch“,
eine sozialrelevante Komponente entbehrend, wirkt. Zumindest letzteres ist
unrichtig: Die Frage der Gerichtsorganisation war zu jeder Zeit von eminenter
Bedeutung für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, in ihr spiegeln sich
zahlreiche verfassungsrechtliche Grundsatzfragen wieder. Zudem hilft die Kenntnis
der Gerichtsorganisation auch bei Forschungen zur Rechtspraxis und ist
schließlich unverzichtbarer Bestandteil für die regionalgeschichtliche
Forschung. Der Mangel einer umfassenden Untersuchung zur Geschichte der
Gerichtsorganisation in Österreich ist daher eine empfindliche Forschungslücke.
Mit der
vorliegenden Arbeit wurde ein erster wichtiger Schritt zu ihrer Schließung
getan. Die Untersuchung konzentriert sich auf das Land Niederösterreich, und
auch hier erfolgt eine wesentliche Eingrenzung, indem die einstige Hauptstadt
Wien (die seit 1921/22 ein eigenes Bundesland ist) nur soweit behandelt wird,
als es zum Verständnis des Übrigen notwendig ist. Dennoch haben viele der Ergebnisse
überregionale Bedeutung.
Dies wird
insbesondere für die Hauptaussage der Arbeit gelten, wonach die Anfänge der
modernen Gerichtsorganisation in Niederösterreich auf die Organisierungsarbeiten
des Jahres 1849 zurückgehen. Sie revidiert die bisher gängige Lehre, daß die
Gerichtsorganisation erst seit 1867 kontinuierlich verlaufen wäre. Die Zeit
1848/49 wird vom Autor leider nur knapp behandelt, „weniger wegen der
Unübersichtlichkeit der Gerichtsverhältnisse unmittelbar nach der
Verstaatlichung der Justiz, sondern vor allem deshalb, weil insgesamt keine
Kontinuität dieser auf die vormärzliche Justizpflege zurückgehenden Gerichte zu
den in der Folge errichteten besteht.“ (S. 13). Man erfährt nur, daß die
bisherigen Patrimonialgerichte „die Justiz im Namen und auf Rechnung des
Staates auszuüben“ hatten (S. 15). Im Juni 1849 genehmigte der Kaiser die
„Grundzüge der neuen Gerichtsverfassung“, welche einen fünfstufigen Aufbau
vorsahen: Bezirksgerichte, Bezirkskollegialgerichte, Landesgerichte (von denen,
wie in Niederösterreich, durchaus mehrere innerhalb eines Kronlandes bestehen
konnten), Oberlandesgerichte und an der Spitze den Obersten Gerichtshof. Die
darauf aufbauende Organisierung der Gerichte in Niederösterreich wurde mit 1.
Juli 1850 wirksam.
Aufgrund der
staatsrechtlichen Veränderungen der Monarchie wurde jedoch bereits 1852 eine
Reorganisierung von Justiz und Verwaltung in Angriff genommen. Grund dafür
waren die im Zusammenhang mit den „Sylvesterpatenten“ vom 31. Dezember 1851
erlassenen „Grundsätze für organische Einrichtungen in den Kronländern des
österreichischen Kaiserstaates“, die in Punkt 19 die Vereinigung der
erstinstanzlichen Gerichte mit der Verwaltung als Regelfall angeordnet hatten
(sog. Gemischte Bezirksämter). Nur wo es als unerläßlich anerkannt war, sollten
getrennte Bezirksgerichte und Bezirksverwaltungsbehörden bestehen. Dieses Abweichen
vom Grundsatz der Gewaltenteilung war ein Werk des Reichsratspräsidenten Carl
Friedrich v. Kübeck und des Finanzministers Philipp Krauß, die sich damit gegen
den Innenminister Alexander Bach, der seinerzeit als Justizminister die
Gerichtsorganisationsarbeiten von 1849 geleitet hatte, durchsetzen konnten. Im
April 1852 wurde eine Organisierungskommission für die Gesamtmonarchie unter
Vorsitz Kübecks eingesetzt; auf der Grundlage ihrer Arbeiten begann im Februar
1853 die Organisierungslandeskommission für Niederösterreich unter dem Vorsitz
des Statthalters Josef Eminger, die Details für dieses Kronland auszuarbeiten.
Trotz einiger Bemühungen, in einzelnen Sprengeln die Trennung von Justiz und
Verwaltung aufrechtzuerhalten, wurden gesonderte Bezirksgerichte nur in Wien
sowie am Sitz der übrigen Gerichtshöfe (nunmehr „Kreisgerichte“) errichtet,
ansonsten kam es durchgehend zur Bildung von Gemischten Bezirksämtern. Deren
Sprengel entsprachen allerdings weitgehend denen der Bezirksgerichte von
1849/50. Die „Verordnung betreffend die politische und gerichtliche Organisirung
des Erzherzogthumes Österreich unter der Enns“ trat am 31. August / 30. September
1854 in Kraft.
Die Ära der
Gemischten Bezirksämter endete mit der Dezemberverfassung 1867; aufgrund des
Gesetzes betreffend die Organisierung der Bezirksgerichte 1868 wurde die
verfassungsrechtlich angeordnete Trennung von Justiz und Verwaltung konsequent
durchgeführt. Die Strafprozeßordnung 1873 beseitigte die – zwischen
Bezirksgerichts- und Gerichtshofsprengel liegende – Sprengelform der „Untersuchungssprengel“.
Ansonsten wurden in der Folgezeit nur mehr Änderungen im Detail vorgenommen.
1938 wurden die österreichischen Gerichte zu Reichsbehörden erklärt und ihre
Organisation den deutschen Verhältnissen angepaßt. Das
Gerichtsorganisationsgesetz 1945 stellte jedoch den status quo ante wieder her.
In der Folgezeit kam es immer wieder zur Zusammenlegung kleinerer Gerichte.
1993 wurden die „Kreisgerichte“ wieder in „Landesgerichte“ rückbenannt.
Die hier
skizzierte Entwicklung wird im vorliegenden Buch durchaus nicht gleichmäßig behandelt.
Im Vordergrund stehen – wie der Untertitel bereits verrät – die
Organisierungsarbeiten 1849–54, und hier wieder besonders jene von 1852–54 (S.
41–110 und Quellenanhang S. 153–283). Die Arbeiten 1849/50 sind etwas knapper
dargestellt (S. 15–39 und Quellenanhang S. 145–151), was vor allem an der
schlechten Quellenlage liegt. Die Entwicklung ab 1867 wird überhaupt nur im
Überblick (S. 111–123) dargestellt. Dies führt freilich zu einer gewissen Dominanz
der Arbeiten der Organisierungslandeskommission 1853/54 im Rahmen der
Gesamtuntersuchung, die nur zum Teil mit der tatsächlichen Bedeutung dieser
Arbeiten gerechtfertigt werden kann. Die Arbeiten der Organisierungslandeskommission
aber werden äußerst gründlich und gewissenhaft dargestellt; sie betreffen
naturgemäß weniger die großen politischen Leitlinien (die ja auf Gesamtstaatsebene
getroffen wurden), als vielmehr die Umsetzung derselben ins Detail und sind
daher in erster Linie regionalgeschichtlich von Bedeutung, so vor allem die
Ansiedlung und die Zahl der Gerichte sowie der Umfang ihrer Sprengel. Hier ist
besonders der „Kampf“ zwischen Stockerau und Korneuburg um den Sitz eines
Gerichtshofes hervorzuheben, der 1850 zugunsten der ersteren, 1854 aber zugunsten
der zweiteren Gemeinde entschieden wurde – mit Wirksamkeit bis zum heutigen
Tag! An diesem und anderen Beispielen wird deutlich, von welch großer Bedeutung
es für eine Gemeinde war, ein Gericht und/oder ein politisches Bezirksamt zu
beherbergen. Der Verfasser macht dies in gelungener und zum Teil sogar
unterhaltsamer Weise deutlich: So boten etwa die Gemeinden Drosendorf und
Pulkau ihre Rathäuser unentgeltlich als Amtssitz an (letztere war auch bereit,
einen Teil der Adaptierungsarbeiten zu bezahlen), um ein Bezirksamt zu erhalten
(S. 85); und in einem Theaterstück des Dichterjuristen Max Burckhardt läßt
dieser einen ländlichen Bezirksrichter den Ausspruch tätigen: „und weil bei uns
ka Bezirkshauptmannschaft ist, hab’n mir zu repräsentieren.“ – was auf das
Verhältnis von Bezirksgericht und Bezirkshauptmannschaft in der Vorstellung der
Bevölkerung schließen läßt (S. 130).
So gelingt es
dem Verfasser, aus einem zugegebenermaßen meist spröden Quellenmaterial ein
interessantes und in seiner Gründlichkeit (7 Graphiken, 2 Karten, 16 Tabellen,
9 Abbildungen) vorbildhaftes Buch zu machen, das hinsichtlich seiner
landesgeschichtlichen Details vor allem für Kenner Niederösterreichs, hinsichtlich
seiner allgemeinen Aussagen aber auch für Rechtshistoriker aus anderen Regionen
von Wert sein wird.
Wien Thomas
Olechowski