OlechowskiBjörner20010329 Nr. 10157 ZRG 119 (2002) 55

 

 

Björner, Ulf, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Norddeutschen Bund und Deutschen Reich (1867-1918). Eine rechtshistorische Untersuchung über Gerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Politik und Recht innerhalb der von Bismarck geschaffenen Bundesstaaten (= Rechtshistorische Reihe 214). Lang, Frankfurt am Main 2000. XIX, 183 S.

 

Diese 1999 an der Universität Kiel approbierte Dissertation untersucht die Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Zeit, als es in Deutschland noch kein „Verfassungsgericht“ wie das heutige Bundesverfassungsgericht gab. Dies zwingt den Autor zunächst zu einer näheren Beschäftigung mit der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit. Björner versteht darunter „jede auf die Erhaltung und Durchsetzung der Verfassung gerichtete Rechtsprechung ..., insbesondere soweit es sich bei dieser um eine echte, verbindliche Entscheidungen fällende Rechtsprechung handelt und nicht etwa um eine bloße Vermittlungs- oder Aufsichtstätigkeit.“ (S. 3). Das organisatorische Kriterium eines Gerichts wird nicht genannt. Wäre daher aus der Sicht des Rezensenten der Begriff „Verfassungsrechtsprechung“ vielleicht passender als der der „Verfassungsgerichtsbarkeit“ gewesen, so ist doch der Forschungsgegenstand zweckmäßig gewählt und auch juristisch präzise formuliert.

Juristische Präzision ist überhaupt die Stärke des Autors. Der Abschnitt „Die Behandlung von Verfassungsstreitigkeiten im Norddeutschen Bund und Deutschen Reich“, der den Hauptteil seiner Arbeit darstellt (S. 33–148), untersucht Streitigkeiten zwischen mehreren Bundesstaaten, zwischen einem Bundesstaat und dem Reich, innerhalb eines Bundesstaates, Thronstreitigkeiten, den Schutz der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen, Organstreitigkeiten sowie die Frage der Normenkontrolle. Dabei wird jeweils nach einem strengen Schema vorgegangen, indem zunächst der in Frage stehende Begriff definiert wird und sodann die zentralen Rechtsgrundlagen dogmatisch untersucht werden. Es folgen ausführliche Fallbeispiele zur Erörterung der Praxis und schließlich eine juristische Beurteilung von Rechtslage und Praxis aus der Sicht des Autors. Deutlich wird, daß der Bundesrat, zum Teil aufgrund ausdrücklicher Bestimmungen der Bundes- bzw. Reichsverfassung (Art. 76, 77), in Verfassungsstreitigkeiten zunächst eine dominierende Rolle spielte und diese maßvoll einsetzte, indem er vermittelte und/oder ein Schiedsgericht (zumeist jenen Senat des Reichsgerichts, der vom Präsidenten des Gerichts geleitet wurde) bestellte. Sein parteiisches Verhalten in den braunschweigischen und lippischen Thronfolgestreitigkeiten führte jedoch um die Jahrhundertwende zu einem praktischen Bedeutungsrückgang des Bundesrates und ließ das Reichsgericht stärker in den Vordergrund treten. – Eine von den übrigen Materien abweichende Situation war bei der Frage der Normenkontrolle gegeben. Für sie bestand kein zentrales Prüfungsorgan, die einzelnen Gerichte konnten Gesetze lediglich in formaler Hinsicht, Verordnungen in länderweise unterschiedlichem Umfang prüfen.

Interessant sind auch die Darstellung der Bemühungen zur Errichtung eines Verfassungsgerichtes im behandelten Zeitraum (S. 149–159) sowie der Ausblick in die Weimarer Republik (S. 161–165). Mager hingegen sind die Bemerkungen zur NS-Zeit und das abrupte Ende der Darstellung im Jahr 1945. Vor allem aber ist der einleitende Teil der Arbeit, in dem versucht wird, einen historischen Abriß vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert zu geben, mangelhaft. Es wäre besser gewesen, sich bei Anfang und Ende der Darstellung auf einige Kernaussagen zu beschränken, als sich in allgemeine verfassungsgeschichtliche Erörterungen zu verlieren.

Insgesamt jedoch kann festgestellt werden, daß der Autor mit der vorliegenden Arbeit ein wichtiges Kapitel der deutschen Verfassungsgeschichte methodisch sauber behandelt und die historische Dimension der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland deutlich aufgezeigt hat. Das Buch ist daher für Rechtshistoriker, Historiker und Rechtsdogmatiker gleichermaßen empfehlenswert.

 

Wien                                                                                      Thomas Olechowski