MöhlerOberwittler20010112 Nr. 10132 ZRG 119 (2002) 58

 

 

Oberwittler, Dietrich, Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland 1850-1920 (= Campus Forschung 799). Frankfurt am Main, Campus 2000. 382 S. Abb.

 

Jahrzehntelang galt die Umorientierung der Jugendkriminalpolitik von der „Strafe“ hin zur „Erziehung“ als überzeugender Beleg für den Fortschritt im Strafrecht, für die erfolgreiche Modernisierung in Richtung Humanität und Wohlfahrt. Das Jugendstrafrecht dient(e) als Experimentierfeld für neue Strategien im Umgang mit abweichendem, delinquentem Verhalten unter den Rahmenbedingungen eines sozialen Rechtsstaates. Sogar der NS-Staat hatte anscheinend diesem Trend nicht entgegenwirken können; sowohl das Reichsjugendgerichtsgesetz vom 6. November 1943 als auch seine rechtswissenschaftlichen Vordenker (u. a. Friedrich Schaffstein) wurden ohne größere Bedenken in das demokratische Nachkriegsdeutschland übernommen. Erst die modernisierungskritische Sichtweise eines Michel Foucault („Überwachen und Strafen“; deutsch 1977) und anderer schärfte den Blick für die Kosten und Folgen dieses „Modernisierungs“-Prozesses. Im Jahr 1986 wurden zwei wissenschaftliche Untersuchungen veröffentlicht, die für ihre jeweiligen Fächer eminent wichtig wurden: Michael Voß „Jugend ohne Rechte. Die Entwicklung des Jugendstrafrechts“ und die Habilitationsschrift „Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge 1878 bis 1932“ des Historikers Detlev Peukert. Seitdem bestimmt der kritische Ansatz die Forschungsarbeiten, und die Geschichte des Jugendstrafrechts (sowie der Fürsorge) wird unter den theoretischen Erklärungsansätzen „Soziale Kontrolle“, „Sozialdisziplinierung“ oder „Kulturelle Hegemonie“ betrachtet.

In seiner Trierer Dissertation „Von der Strafe zur Erziehung?“ (Diss. phil. 1998; Betreuer Günter Birtsch und Lutz Raphael) verlegt der Historiker Dietrich Oberwittler den zeitlichen Rahmen seiner Betrachtung weit ins 19. Jahrhundert zurück. Während die Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates inzwischen durch zahlreiche Veröffentlichungen hinreichend analysiert worden ist, interessieren ihn die Anfänge der „Erfolgsgeschichte“ des Jugendstrafrechts, des Paradigmenwechsels von der Strafe zur Erziehung. Lagen hier bereits die Gründe für die spätere, verbrecherische nationalsozialistische Jugendpolitik von „rassenhygienischer Auslese“, Jugend-KZ und „Vernichtung durch Arbeit“, wie es aus den Arbeiten von Foucault, Peukert u. a. gefolgert werden kann? Zur Beantwortung dieser Frage wählte der Autor die Methode des deutsch-englischen Vergleichs. In den ersten beiden Kapiteln seiner Arbeit (S. 22-101) geht er auf die Konzepte und Diskurse der Reformbewegungen ein, vergleicht die jeweilige Perzeption der Jugenddelinquenz durch Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit, die Herausforderung durch die Kriminalanthropologie sowie die unterschiedliche Umsetzung der Reformprojekte. Das englische Rechtssystem des Common Law erwies sich als erheblich flexibler als die durch die strafrechtsliberale Tradition geprägte deutsche Rechtskultur. Oberwittler zitiert dabei Leon Radzinowicz: “While the I. K. V. was debating the English Parliament was legislating”. In den Kapitel 3 und 4 (S. 101-329) versucht er, die theoretischen Erörterungen mit der historischen Praxis zu vergleichen und den Einfluss der Reformkonzepte auf das alltägliche Justizverhalten beispielhaft in den Regionen Lancashire und West Yorkshire für England, Ruhrgebiet und Düsseldorf für das Deutsche Reich nachzuprüfen. Das Besondere und Innovative an seiner Untersuchung ist dabei, dass er sich nicht mit dem bislang weitgehend im Mittelpunkt der Forschung stehenden Instrument der „Zwangserziehung“ begnügt, sondern auch die ambulanten Sanktionen (Strafverzicht, Bewährungsstrafe, vormundschaftliches Verfahren) in seine Betrachtung mit einbezieht.

Durch seine vergleichende Arbeitsweise kommt Oberwittler zu einem differenzierten Ergebnis. Die Entwicklung der Jugendkriminalpolitik in den Jahren von 1850 bis 1920 ist für ihn durch einen „Spannungsbogen“ gekennzeichnet: Die Erfolge der Reformbewegung sind immens, die Gefängnisstrafe für Jugendliche wurde entweder vollständig (England) oder doch weitgehend (Deutschland) zurückgedrängt, der Sanktionskatalog ausdifferenziert und individualisiert. Der jeweilige Reformprozess benutzte verschiedene Durchsetzungsstrategien, die beide lange Zeiträume beanspruchten: Während in England die Politik der Justizpraxis vorauseilte, hinkte die deutsche Gesetzgebung den praktischen Reformen hinterher. Was die tatsächliche Ersetzung von „Strafe“ durch „Erziehung“ angeht, kommt Oberwittler zu einem ernüchternden Ergebnis: „Unter einer dünnen Schicht von Erziehungs-Rhetorik lebten die traditionellen Ziele Strafe und Abschreckung in den Konzepten, vor allem aber in der Praxis der Jugendkriminalpolitik weiter fort“ (S. 331). Er unterscheidet zwar zwei unterschiedliche Phasen der Reformentwicklung, die von dem jeweiligen Stellenwert der Sanktion „Zwangserziehung“ (Hochzeit, dann Krise und Niedergang) charakterisiert waren; trotzdem waren die Übergänge fließend, so dass ein „Spannungsbogen“ im gesamten Zeitraum anzutreffen ist. Einen „Fortschritt“ in dieser Entwicklung auszumachen, fällt dem Autor schwer: Beim „sozialarbeiterischen Ansatz wurde offensichtliche Repression durch subtilere Formen der Intervention ersetzt“ (S. 337); die schwebende Drohung mit Sanktionen erhöhte die Möglichkeiten zur sozialen Kontrolle. Die Flexibilisierung und Informalisierung der neuen gerichtlichen Verfahren führten zu einer rechtlichen Schlechterstellung der Betroffenen, die Sanktionspraxis wurde zunehmend durch eine soziale Selektivität charakterisiert. Die eigentlichen Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Entwicklung liegen für ihn - neben den strukturellen Verschiedenheiten der beiden Rechtssysteme - im jeweiligen Zeitpunkt und Umgang mit der „Krise der Fürsorgeerziehung“; während in England seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Perzeption der Jugenddelinquenz zunehmend entdramatisiert worden war, dauerte die Krise in Deutschland bis in die 1920er Jahre hinein und wurde als Bedrohung der gesellschaftlichen Fundamente empfunden. Die starke Verankerung von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden in der deutschen Fürsorge wirkte dabei reformhemmend. „Christlich-konservative Kinderretter“ (S. 343) stießen auf eine politisierte Großstadtjugend, die sich durch die anachronistisch gewordenen paternalistischen Erziehungsmethoden nicht mehr beeindrucken ließen. Die „Entdeckung“ der Unerziehbarkeit, Kriminalbiologie und „Rassenhygiene“ boten hier für die beteiligten deutschen Jugendkriminalpolitiker einen fatal-attraktiven Ausweg. Oberwittler kommt in seiner sehr gut lesbaren, wissenschaftlich genau erarbeiteten sozialgeschichtlichen Studie zu dem Ergebnis, dass es nicht die moderne Konzeption einer wohlfahrtsstaatlich-orientierten Jugendkriminalpolitik an sich war, die in Deutschland nach 1933 zu einer Realisierung totalitärer Lösungsansätze der „sozialen Frage“ führte, sondern das - im Vergleich zu England - spezifische deutsche Modernisierungsdefizit. Ob damit das von Detlev Peukert herausgearbeitete Erklärungsmuster des „Januskopfes der Moderne“ widerlegt ist, wagt der Rezensent zu bezweifeln; Peukert ging es dabei nicht um einen historischen Automatismus, der den modernen Sozial- und Interventionsstaat per se auszeichne, sondern um die dem Modernisierungsprozess eigene Ambivalenz, die „in einer krisenhaften Situation durchaus den Umschlag von Rationalisierungseuphorien in Selektionsterror ermöglicht“ (Peukert, S. 82f.).

 

Saarbrücken                                                                           Rainer Möhler