Mayer-MalyHerzog20010919
Nr. 10451 ZRG 119 (2002) 89
Herzog,
Alexander, Sittenwidrige Rechtsgeschäfte in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung aus den Jahren 1948-1965 (= Rechtshistorische Reihe 239). Lang,
Frankfurt am Main 2001. 300 S.
Diese
Kieler Dissertation, die Werner Schubert betreut hat, zeigt wie anregend
für Rechtshistoriker wie für Privatrechtsdogmatiker Analysen der neueren
Judikaturentwicklung sein können. Der Verfasser hat sich dem richterlichen
Umgang mit § 138 BGB in der Zeit von 1948 bis 1965 zugewandt. Ehe er die wichtigsten
Fallgruppen vorführt, gibt er einen guten Überblick über den Meinungsstand.
Richtig sieht er 5 Grundprobleme: die Definition der guten Sitten, den Maßstab
der guten Sitten, den Zeitpunkt der Beurteilung allfälliger Sittenwidrigkeit,
das subjektive Element der Sittenwidrigkeit und die Sittenwidrigkeit von
abstrakten Rechtsgeschäften.
Die
Judikaturanalyse beginnt er (S. 37ff.) mit dem nützlichen, aber etwas seltsamen
Oberbegriff „Sittenwidrigkeit wegen Verstoßes gegen übergeordnete Aspekte“.
Zunächst behandelt er den Verstoß gegen Standespflichten, dann die Verletzung
ehe- und familienrechtlicher Wertungen durch Rechtsgeschäfte. Nicht ganz
einsichtig sind die Zusammenhänge, die der Verfasser zwischen der Beurteilung
von Praxistauschverträgen und Praxiskaufverträgen und der
nationalsozialistischen Ideologie annimmt. Daß es nach 1945 zu einer „Abwendung
vom Pflichten- und Gemeinwohlgedanken“ (S. 273) gekommen sei, ist zumindest
ungenau. Wesentlich war die Zurücknahme der Vorstellung vom Rechtsanwalt als
Organ der Rechtspflege, daneben die Einsicht in die Versorgungsbedürftigkeit
ausscheidender Freiberufler und ihrer Hinterbliebenen. Das eine wie das andere
hat mit der Stellungnahme zum Nationalsozialismus, an der es ohnedies
durchgehend gefehlt hat, nichts zu tun. Ähnliches muß trotz S. 99ff. für die
Entwicklung der Rechtsprechung zu den „Geliebtentestamenten“ gelten. Diese ist
Resultat eines erheblich später einsetzenden Wertungswandels. Auf dessen
Ansätze weist der Verfasser in Anmerkung 349 auf S. 99f. verdienstvoll hin. In
die Behandlung der Sittenwidrigkeit von Unterhaltsvereinbarungen (S. 102ff.)
hätte der Verfasser auch jene einbeziehen sollen, die sich in Wahrheit als
Verträge zu Lasten Dritter, nämlich von Sozialversicherungsträgern und
Sozialhilfeträgern, darstellen. Dieser Aspekt leitet über zum Sittenverstoß
gegenüber Außenstehenden, den der Verfasser S. 126ff. behandelt. In der
Auseinandersetzung mit der Judikatur zu Embargobestimmungen der USA (BGH WM
1961, 404 und VersR 1962, 659) stimme ich dem Verfasser (S. 135) völlig darin
zu, daß man die Aufrechterhaltung der freiheitlichen Ordnung des Westens besser
aus dem Spiel hätte lassen sollen.
Die
Behandlung des sittenwidrigen Verhaltens eines Geschäftspartners (S. 182ff.)
geht, etwa zu den Knebelungsverträgen (S. 198ff.), auf Konstellationen ein, die
schon das Reichsgericht beschäftigt haben und den Bundesgerichtshof auch
weiterhin vor Probleme stellen. Insofern erweist sich die vom Verfasser
gewählte Zäsur (1948-1965) als nicht unproblematisch. Das ändert aber nichts
daran, daß wir es mit einem neuen Typ von Dissertation zu tun haben, der auch
findigen Praktikern von großem Nutzen sein könnte.
Innsbruck/Salzburg Theo
Mayer-Maly