LacourShore20010514 Nr. 10395 ZRG 119 (2002) 58

 

 

Shore, Heather, Artful Dodgers: Youth and Crime in Early Nineteenth-Century London (= Royal Historical Society Studies in History, New Series). Boydell, Rochester 1999. XIII, 193 S.

 

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in England das Phänomen „Jugendkriminalität“ als so bedrohlich empfunden, dass der Staat mit dem Juvenile Offenders Act und einer Reihe weiterer Gesetze darauf reagierte. Bereits 1788 war die Philanthropic Society gegründet worden, im frühen 19. Jahrhundert folgten weitere Gesellschaften, die sich das Ziel setzten, in ihren Häusern Fleiß und Moral delinquenter und verwahrloster Kinder zu heben. Doch erst 1838 wurde die Parkhurst Jugendstrafanstalt gegründet, um die 1828 formulierte Notwendigkeit zu realisieren, Kinder und Jugendliche vom Erwachsenenvollzug fern zu halten. Noch vor der Jahrhundertmitte allerdings „hatte sich Parkhurst vollständig von seinen reformerischen Anfängen entfernt“ (S. 113) und war zu einer Anstalt für jugendliche Schwerverbrecher über 14 Jahren geworden. Dieses Scheitern ist typisch für die englische Reformbewegung und Strafpraxis: Immer mehr Jugendliche wurden - wider besseres Wissen - eingesperrt und in die Kolonien transportiert, bis in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine Entspannung eintrat. Damit wurde das Problem einer zunehmend als delinquent wahrgenommenen Jugend in England nicht nur eher akut als in Deutschland, sondern auch schneller entschärft. Der Anteil an zu Gefängnisstrafen Verurteilten fiel früher und zügiger - was aber nicht mehr Thema des zu besprechenden Buches ist.

Die Cambridger Historikerin Heather Shore betrachtet das Problem der Jugendkriminalität in ihrer Dissertation im Wesentlichen als - sozial, politisch und juristisch - erzeugt. Einerseits ließ das ausgeprägte Bevölkerungswachstum den Anteil der unter 15jährigen auf mindestens ein Drittel ansteigen. Der Pauperismus betraf Jugendliche besonders hart. Ein wichtiger Punkt aber ist, dass gerade jugendtypische Verhaltensweisen, z. B. das Herumlungern und das Glücksspiel, zunehmend kriminalisiert und Aufgegriffene in Korrektionshäuser eingewiesen wurden. War der Unfug junger Männer, vor allem bestimmter Gruppen wie Schüler, Lehrjungen oder Gesellen, in der frühen Neuzeit noch weitgehend toleriert, im 19. Jahrhundert wurde das Verhalten zumindest der Unterschicht-Jugend argwöhnisch betrachtet. Das Konzept „Jugendkriminalität“ wurde zwar nicht erfunden, das Phänomen löste aber eine vorher nicht gekannte Furcht und Besorgnis aus. In den Diskursen der 1820er und 30er Jahre schälte sich Jugendkriminalität als Ausdruck einer delinquenten Subkultur heraus. Diese Kinder wurden in zwei Gruppen klassifiziert: Die „Gefährlichen“ waren bereits unrettbar verloren, lebten von ihrer Diebesbeute; die „Untergehenden“ oder „Verwahrlosten“ waren aufgrund ihrer Lebensumstände, der Not ihrer Familien und ihrer Unwissenheit vom selben Schicksal bedroht (S. 7). In den unteren Klassen schien den Kindern der Frevel in die Wiege gelegt.

Die Realität sah freilich anders aus. Anhand von Selbstzeugnissen der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Eltern ermittelt die Autorin hinsichtlich der familiären Umstände drei Typen: Im ersten Fall waren entweder Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Alkoholmissbrauch eines oder beider Elternteile in einer ansonsten intakten Familie kennzeichnend; im zweiten traf das delinquente Verhalten eines Kindes, das unter den Einfluss von Gleichaltrigen geraten war, eine weitgehend respektable Familie; nur der dritte Typ entsprach der „zeitgenössischen Rhetorik“ (S. 48), indem die Eltern abweichendes Verhalten seitens des Kindes aktiv förderten. Gerade dieser Diskrepanz zwischen Lebenswirklichkeit und Stereotyp gilt das besondere Interesse der Autorin.

Die Berichte wirken aus heutiger Sicht bedrückend; wenn z. B. ein arbeitsloser Familienvater, der Kastanienblätter zur Dekoration von Marktständen sammelte, wegen Forstfrevels ins Gefängnis geworfen wurde, so scheint im Vergleich zur frühen Neuzeit eine noch stärker auf Repression und vor allem „Korrektion“ setzende Politik verfolgt worden zu sein. Darauf deutet auch der geringe Erfolg der Bittschriften von Eltern für ihre inhaftierten Kinder hin. Der Frage, ob speziell die von Kindern und Jugendlichen häufig begangenen Eigentumsdelikte im 19. Jahrhundert konsequenter und möglicherweise härter bestraft wurden als zuvor, geht die Autorin leider nicht nach. 90% der zwischen 1787 und 1847 in Middlesex angeklagten Kinder und Jugendlichen bis 16 Jahre hatten einfache Diebstähle verübt, meistens Taschendiebstahl. Weitere 4% standen wegen Einbruchs oder Raub vor Gericht. In London lässt sich eine von Eigentumsdelikten geprägte kriminelle Subkultur nachweisen, der viele dieser Jungen angehörten. Ein Netz von Herbergen, Kaschemmen, Hehlern und Gehilfen, teilweise auch bestochenen Polizisten beförderte die kriminelle Karriere der jungen Diebe. Ob im 19. Jahrhundert möglicherweise eine qualitativ andere oder vielleicht neue Jugendkultur im Entstehen begriffen war, fragt Shore nicht. Neuere Untersuchungen deutscher Soziologen - wie die Helmut Thomes - weisen für den Ausgang des Jahrhunderts in diese Richtung.

Leider ist die Studie in statistischer Hinsicht mehr als mangelhaft. Die Autorin beschränkt sich auf die Angabe von Anteilswerten und bemüht sich auf dieser Basis, Trends zu beschreiben. Dazu wäre ein regressionsanalytisches Verfahren angemessener. Waren 1797 noch 43% der Angeklagten freigesprochen oder ohne Strafe freigelassen worden, so schrumpfte dieser Anteil bis 1847 auf 22%; der Prozentsatz straflos Freigekommener war unter Jugendlichen unter 17 Jahren niedriger als in allen anderen Altersgruppen und schrumpfte von 40% in 1797 auf 14% (1849); unter den Angeklagten befanden sich bis ca. 1815 durchschnittlich 6,5% Jugendliche, zwischen 1834 und 1848 aber 14% - eine Steigerung um 115%; der Anteil Jugendlicher in den Gefängnissen nahm aber von 6% (1817) auf 18% (1847) zu - eine Steigerung um 200%. Der Schluss, im Laufe des 19. Jahrhunderts sei die Gefängnisstrafe im Verhältnis zu Geldbußen, körperlicher Züchtigung und der Todesstrafe immer dominierender geworden, besonders wenn die Sanktionen die Arbeiterschaft trafen, ist sicher richtig und bereits aus anderen Studien gezogen worden. Besonders für Kinder und Jugendliche scheint die Verwahrung vor der Trendwende um 1860 als Mittel der Wahl zur Umerziehung und Disziplinierung empfunden worden zu sein.

Insgesamt hat Shore ein interessantes und gut lesbares, doch etwas theoriearmes Buch vorgelegt. Ihre Sympathie gilt den Armen - Kindern und Eltern -, wie jenem Mann, der 1835 die „demütige Bitte eines Vaters, dessen Herz über den Verlust seines Sohnes zerbrach“, vortrug. Der Sohn war 12 Jahre alt und auf 7 Jahre nach Übersee deportiert (S. 152).

 

Anschau                                                                                                                    Eva Lacour